Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben XIV
»Sie bringen mich zur Verzweiflung!« rief Siegmund so aus, als wenn er schon wirklich verzweifelt wäre; der Präsident erschrak bei diesem Sprunge über die gewöhnliche Lebensart hinweg, er sicherte sich hinter einen prächtigen Sessel, vor dem Siegmund wie ein begeisterter Prophet stand und Reden führte, wie die verfolgte Tugend.

»O wehe mir, daß ich sah, was ich sah«, fuhr er fort zu klagen, und wandte eine Stelle aus dem Ovidius Naso auf seine Umstände an. »Was konnte ich dafür, daß man Sie nicht in das bewußte Haus hineinlassen wollte? Was konnte ich dafür, daß ich Sie dort traf und wider meinen Willen lachen mußte? Ist Ihnen das Glück eines Menschen nicht teurer, als daß Sie es ganz so vom Zufalle und Ihren Launen abhängen lassen? – Oh, widerrufen Sie Ihr Urteil und verhöhnen Sie mich nicht in meinem Unglücke, denn ich hab es nicht verdient, schicken Sie mich nicht so ohne Trost fort, und bestrafen Sie, wenn Sie können, den Zufall, nicht mich.«
Der Präsident aber lässt ihn trotz oder eher wegen dieses Gefühlsausbruches abblitzen.
»Mein Freund«, antwortete der Präsident mit einer unausstehlichen philosophischen Kälte – »Ihr Unglück besteht ja eben darin, daß Sie mit diesem Zufall zusammengetroffen sind. Ist dies nicht vielleicht ein Wink des Verhängnisses, daß Sie unglücklich sein sollen? Ja, es ist Ihr Verhängnis, denn Sie sind ja unglücklich und haben nicht die Kunst verstanden, mein Herz zu Ihrem Vorteil einzunehmen, weil es das Schicksal nicht so haben will. Bewundern Sie die Anzahl von Zufällen, die sich gleichsam mühsam aneinandergereiht haben, um diese Wirkung hervorzubringen.«

»Ich sehe nichts als Ihren Zorn und Unwillen, Ihre Hartherzigkeit mit meinem Unglücke«, antwortete Siegmund. – »Können Sie, ohne Reue zu fühlen, so ungerecht sein?«

»Ungerecht?« Der Präsident fing unwillig dies Wort auf. – »Und wo liegt denn, mit Ihrer Erlaubnis, die Ungerechtigkeit? – Wenn ich einen Freund habe, der mir schon seit lange eine Menge von Gefälligkeiten erzeigt hat, und ich finde nun endlich Gelegenheit, ihm wieder etwas Vorteilhaftes zuzuwenden, sollt ich es da unterlassen, und diesen Nutzen einem Menschen gönnen, der mir fremd ist? Warum soll ich meinem Freund nicht nützen, wenn ich die Gelegenheit dazu in Händen habe? – Ich halte es nicht für ungerecht, sondern für meine erste Pflicht. – Sie können nicht für den Zufall, aber ich ebensowenig für den, daß die Stelle schon meinem guten Freunde versprochen ist. – Leben Sie wohl.«


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