Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Montag, 1. November 2010
Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben IX
Dann ging er gedankenvoll im Zimmer auf und ab, und sagte zu sich selbst:
»Es kann mir nicht fehlschlagen, meine Empfehlungen sind zu gut und dringend; es wäre Beleidigung des Generals, wenn man mir die Stelle versagte: Und warum sollt ich eine unnütze und lächerliche Deutschheit und Biederkeit und wie die närrischen Titel weiter heißen mögen, affektieren? Man empfiehlt sich den Menschen immer auf das vorteilhafteste, wenn man recht demütig erscheint, und sich gar nicht zu empfehlen sucht; man darf nur die Leute selber sprechen lassen, und sie finden, daß man ganz außerordentlich vernünftig redet. – Bis jetzt haben die eingebildeten Weltreformatoren noch nichts genützt, aber wohl sich und andern geschadet. – Wenn es in unserer Welt dazugehört, daß man schmeichelt um ein Amt zu bekommen, ebenso, wie man sich examinieren läßt – je nun, so kann ich nicht begreifen, warum ich nicht etwas schmeicheln sollte, um in einen Zustand zu geraten, daß ich mir kann schmeicheln lassen. Das Ganze ist doch wahrhaftig nicht unangenehmer, als wenn ich auf der Hierherreise mit dem Wagen umgeworfen und einen Arm gebrochen hätte, und doch wäre es wahrlich auch nur geschehn, um hier Rat zu werden. Der Präsident hat viele Schwächen, sie sollen mir ebenso viele Haken werden, um mein Glück zu ergreifen.«
So von seiner eigenen Rede gestärkt, kann er sich ans Werk machen, seine Neugier auf die wunderschöne Nachbarin gegenüber kann man auch nebenher befriedigen.
Als er diese Rede geendigt hatte, ging er zum Wirt hinunter, um sich jemand von seinen Leuten auszubitten, der ihn zum Präsidenten führen könne. – »Was ist das für ein Mädchen, die dort drüben wohne?« fragte er den Wirt zu gleicher Zeit ganz vorübergehend.
Die Auskunft ist dann allerdings nicht nach seinem Geschmack.
Der Wirt schüttelte bedenklich den Kopf. – »Es ist eine von denjenigen«, sagte er halb lächelnd und halb böse – »nun, Sie verstehen mich wohl; sie lebt so auf ihre eigne Hand, wie man so zu sagen pflegt. Eine niederträchtige Kreatur! sie hat schon manchen jungen Mann ausgezogen. – Nehmen Sie sich nur vor der boshaften Person in acht«, setzte er spottend hinzu, »sie kann sich so fromm und unschuldig stellen: ein wahres Krokodil, ein Ungeheuer!«
Ob der Wirt mit seinem Urteil recht hat? Siegmund nimmt es zunächst für bare Münze.
Siegmund hatte nicht Zeit, um den Schmähungen des Wirts noch länger zuzuhören, er ging und sahe nach den Fenstern des Mädchens hinauf, sie blickte ihm nach, und er schickte ihr nach dem, was er soeben gehört hatte, einen sehr verächtlichen Blick zu, und ging in die nächste Quergasse, ohne sich noch einmal umzusehn.
Zuerst einem Schleimer beispringen und dann noch einem Wirt etwas glauben, aber wenn’s der Wahrheitsfindung bzw. der Geschichte dient?

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