Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Mittwoch, 17. November 2010
Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben XVI
Auf der Straße sah sich Siegmund ein paarmal um, um frische Luft zu schöpfen; er betrachtete die Vorübergehenden genau, um das Gesicht des Präsidenten in seinem Gedächtnisse zu verwischen; aber dieses stand mit allen seinen kalten und verhöhnenden Zügen wie angenagelt in seiner Phantasie da. Er ging in die erste Straße hinein, um nur das vornehme Haus aus den Augen zu verlieren, das ihm gleich beim ersten Anblick von so übler Vorbedeutung gewesen war. Es kam ihm vor, als wenn ihn alle Menschen höhnisch betrachteten, als wenn seine ganze Unterredung mit dem Präsidenten auf seiner Stirn geschrieben stehe.
Aber nicht nur, dass er sich als gezeichnet empfindet, die ganze Stadt hat sich in seiner Wahrnehmung verändert.
Wie anders erschienen ihm alle Straßen jetzt, als gestern abends! Das Gewühl der Menschen, die Kaufläden, die Tätigkeit, alles schlug ihn nieder, denn alles war ein Bild des Erwerbes, des Strebens nach Wohlstand; eine Vorstellung, die ihm gestern abend so wohlgetan hatte, und die ihm jetzt verhaßt war. – Wie tief war er in seinen Ideen seit einer Stunde gesunken!

Wenn ein Mensch in einer großen Verlegenheit ist, geht er gewöhnlich sehr schnell, er will allen unangenehmen Gedanken vorübereilen nach einem Moment der Ruhe und Zufriedenheit hin, der boshaft mit jedem seiner Schritte wieder einen Schritt voranläuft. Siegmund stieß an manche Lastträger, die ihm ihre Flüche nachschickten; Kutscher schimpften von ihrem Bocke herunter, weil er ihnen zwischen die Pferde lief, eine alte Frau fing ein jämmerliches Geheul an, weil er ihr einige Töpfe zerbrochen hatte, die er in der zerstreuten Eil mit dem sechsfachen Preise bezahlte. – Er ward des Getöses überdrüssig, und bestieg jetzt langsam, um sich wieder zu erholen, den Wall der Stadt.

Siegmund ward sehr verdrüßlich, als er auch hier die gehoffte Ruhe und Einsamkeit nicht fand. Geputzte Herren und Damen schritten vorbei, um gesehn zu werden. Männer gingen laut disputierend vorüber – kein einziger Spaziergänger, der sein Auge an der schönen Natur erquickt hätte, und auch Siegmund tat es nicht, denn er überlegte bei sich sein künftiges Schicksal.
Was mag es ihm bringen, sein Schicksal?
»O hätte ich nur meine gestrigen Empfindungen zurück!« und lehnte sich an einen Baum. – »Ich Tor! daß ich mich gestern des Kleinen so lebhaft annahm, und mir mein Genius nicht zuflüsterte, daß ich für meinen ärgsten Feind die Waffen ergreife! – Was soll ich nun anfangen? – dem General meine Verlegenheit melden? – Er ist froh, daß er sich seiner Verbindlichkeiten gegen mich entledigt hat. – Eine andre Stelle suchen? – Aber welche?« –


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