Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Dienstag, 15. Februar 2011
Heraus zur Wahl, Hamburger,
wenn ihr richtige Kerle seid.Spot on.

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Montag, 14. Februar 2011
Mit 14 da macht man noch Sachen ...
Ich war als Heranwachsender ein ganz fürchterlich ernsthaftes Kind und zugleich voller Lebensdurst wie es einem Pubertierenden ja auch angemessen ist.

Plötzlich wurde Sexualkundeunterricht Ende der 60er Jahre vom Kultusministerium vorgeschrieben. Auch in Baden-Württemberg war die neue Zeit, wenn auch sehr gemäßigt, angekommen. An unserer Schule ward das nicht gerne gesehen und so drückte sich vor diesem Thema wer konnte. Wer es nicht konnte, war unser Biologielehrer, der sich aber immerhin auf sein Fachgebiet zurück ziehen und strikt nur die anatomischen Fakten der Humanbiologie lehrte. Es wurden ausführlich die Fortpflanzungsorgane und ihre Funktion gelehrt und gelernt. Vor der Beschreibung oder Erläuterung, wie das nun praktisch funktioniert, drückte er sich, obwohl vielleicht auch ein Biologe dazu hätte etwas sagen können.
Dem Pfarrer L. nun wurde aufgegeben, uns die Liebe und ihre Irrungen und Wirrungen zu erklären. Wir sprachen also im Religionsunterricht Texte verschiedener Autoren mit unterschiedlichem weltanschaulichem Hintergrund, von C.G. Jung über Wilhelm Reich bis Habe ich vergessen, durch. Das war durchaus interessant, nur das ganze Feld dazwischen, von wie funktioniert das eigentlich ganz praktisch, wenn ein Mann eine Frau trifft (geschweige denn das ganze Feld des gleichgeschlechtlichen Sex; erst viele Jahre nach dem Abitur habe ich von einem Schulfreund gehört, dass er mit einem anderen Mann zusammen lebt: wie der wohl diese Zeit erlebt hat?), wie nimmt man Kontakt auf, wie findet man heraus, ob die Frau mit einem in die Kiste will (das war ein großes Thema für uns 13/14-jährige Jungs), was mögen Frauen und Männer und welche Unterschiede gibt es dabei. Solche Fragen beschäftigten uns. Auf diese Fragen bekamen wir keine Antwort.
Stattdessen gab es einen Elternabend zum Thema Sexualkundeunterricht, an dem wir Schüler auch teilnehmen durften (der einzige Elternabend meiner gesamten Schulzeit übrigens, an dem wir Schüler teilnehmen durften, an den anderen Abenden wurde über uns, nicht mit uns geredet.)
Der Elternabend begann mit dem Einwurf eines Vaters, dass er die Einrichtung von Praxisräumen in der Schule überzogen fände und so ging es die erste halbe Stunde weiter. Unser Pfarrer L. schlug sich tapfer und versuchte das ganze Ensemble an Latrinenparolen, das sich in den Köpfen der Eltern zum Thema Sexualkundeunterricht angesammelt hatte, auszuräumen. Es war fürchterlich.
Die Mehrheit der Eltern wollte definitiv nicht, dass in der Schule oder an anderen Orten über mehr als Heiraten und Kinderkriegen und das in sehr allgemeiner Form, gesprochen wurde.
Im Nachhinein denke ich, das das Thema nur von einem einigermaßen aufgeklärten Pfarrer, der nicht unbedingt im Ruf stand ein linker Vogel zu sein, im Unterricht behandelt werden konnte. Die Mehrheit der Eltern (mein Vater und meine Mutter nahmen das alles viel gelassener) hätte alles andere nicht mitgemacht. Was wir Schüler wollten und was uns beschäftigte, war völlig uninteressant.

Unser Pfarrer und Religionslehrer L. war klug, humorlos, freundlich, einigermaßen welterfahren und nahm seine Aufgabe, Jugendlichen etwas beizubringen, sehr ernst.

Wir rechneten es Pfarrer L. hoch an, dass er uns vor dem Furor der verklemmten Spießer geschützt hatte und wir rechneten es ihm auch hoch an, dass er uns ernst nahm und wir im Religionsunterricht vieles diskutieren konnten, was sonst keinen Platz erhielt. Der Religionsunterricht wurde von ihm eher als philosophische und politische Weltkunde gestaltet und so haben wir ‚Reli’, wie das Fach so bei uns hieß auch nicht mit dem Übergang in die Oberstufe einfach abgewählt. Ich habe es z. B. als drittes Fach für die Abiturprüfung gewählt.

Der Pfarrer L. war einige Jahre in Indien als Entwicklungshelfer tätig gewesen und erzählte uns einiges aus dieser Zeit, um uns die Notwendigkeit von Entwicklungshilfe nicht nur politisch, sondern auch ganz praktisch anschaulich nahe zu bringen. Der Unterricht wurde dadurch lebendig und seine Anschauungen zu diesem und anderen Themen waren für uns ein Einstieg in eine offenere und realitätsnäheren Weltsicht, wie sie in unserer schwäbischen Kleinstadt (noch tief vom Nationalsozialismus geprägt) Ende der 60/Anfang der 70er sehr selten war. Soll heißen: er hatte für unseren Geschmack vernünftige Ansichten, er konnte sie vermitteln und wirkte, da sie erfahrungsgesättigt waren, dadurch auch glaubwürdig.
Er brachte uns auch zu einer, nennen wir es mal, realitätstüchtigeren Moral:
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die er uns im Zusammenhang mit einer Diskussion über Freiheit und Erziehung im Unterricht erzählt hat. Konkret ging es in der Diskussion, wenn ich mich recht erinnere, um die Prügelstrafe, die glaube ich damals für Eltern und Lehrer gerade abgeschafft wurde.
Er arbeitete im Norden Indiens (Näheres ist mir nicht mehr in Erinnerung) in einer Gegend, die durchaus strengere Winter kennt. Ihr Haus wurde von einem Kanonenofen beheizt, dessen Gusseisen im Laufe des Tages glühend wurde. Sein drei oder vierjähriger Sohn war von dem Ofen fasziniert und wollte im Überschwang das schöne, flirrende Rot berühren. Die Ermahnungen seiner Eltern nahm er nicht ernst, schließlich bekommt man als Kind alles mögliche verboten. Erfahrungen muss man schon auch selber machen. Nur: seine Hand wäre Zeit seines Lebens verkrüppelt geblieben. Schließlich wussten sich seine Eltern keinen Ausweg mehr, nach dem der Kleine mehrfach versucht hatte den Ofen zu berühren. Sie gaben ihm eine Ohrfeige. Eine Ohrfeige aus Not und so war dem Kleinen sehr klar, dass es hier nicht um eines der üblichen Verbote ging. Hätte ich anders entschieden? Natürlich nicht. Hätte ich ebenfalls ein schlechtes Gewissen gehabt? Ja, hätte ich. Denn eine Übertretung der eigenen Überzeugungen ist allemal ein Anlass, über die Maßstäbe, die man an sich und andere legt, zu reflektieren. Der Maßstab ist richtig, nur kann man sich nicht immer daran halten. Das war schon immer das Problem mit der Moral, die über der konkreten Situation zu stehen hat, sonst kann man sie ja nicht als Maßstab verwenden und damit messen, d. h. sein Denken, Fühlen und Handeln an ihr beurteilen.
Das Problem aller moralischen Urteile ist ja, dass sie niemals absolut sein dürfen.
In der Theorie kann man das problemlos auflösen:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Im alltäglichen Vollzug muss man stets im Widerspruch bleiben, wenn man nicht zum Terroristen werden will.

Während der Religionsunterricht stark von philosophischen und politischen Themen geprägt war, wurde im Konfirmandenunterricht, den der Pfarrer L. auch abhielt, denn er war gleichzeitig unser Gemeindepfarrer, Luther und seine Zeit und biblische Themen behandelt. Die Unterrichtsform war ‚modern’, soll heißen es wurde die Lutherzeit und die Auseinandersetzung mit der Amtskirche in Rom anhand einer Zeitung in moderner Form, behandelt. Sie hieß, glaube ich, Nachrichten aus Wittenberg? Na egal. Es gab verschiedene Artikel, die als Kommentar, Nachricht oder Leitartikel aufgemacht waren. Da wurde dann über den Ablasshandel des Tetzel berichtet und über die Stellungnahme Luthers dazu.

Wir besprachen die Bergpredigt, das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis des Doktor Martinus Luther:
„Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“

Was ist das?

„Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was Not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn’ all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und zu gehorsam zu sein schuldig bin.

Das ist gewisslich wahr.“
(Martin Luther, Der Kleine Katechismus [EG 883.2.1])

Ich kratzte mich am Kopf. Was sollte ich damit anfangen? „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat?“ Nein, das waren meine Eltern. „samt allen Kreaturen?“ Und was ist mit der Evolution? „Mich täglich versorgt“ Das wüsste ich aber.
Na so in dieser Weise ging die Debatte. Als 14-jähriger ist man ja noch besonders klug, umfassend naiv und wahrheitssuchend.

Natürlich versuchte unser Pfarrer uns auf die Bildlichkeit des Bekenntnisses aufmerksam zu machen und natürlich erklärte er uns, dass Luther von Darwin noch nichts wusste.
Er erläuterte uns den modernen Glauben, der sich an die Erkenntnisse des 19. und 20. Jahrhunderts angepasst habe. Natürlich würde heute kein Protestant, der einigermaßen bei Verstand ist, die Evolutionstheorie in Frage stellen und niemand würde behaupten, dass Gott einen täglich mit allem Lebensnotwendigen versorgt.

Wie ich schon eingangs schrieb, war ich ein ganz fürchterlich ernsthafter junger Mann. Ich ließ mir seine Deutung durch den Kopf gehen und sprach mit meinem acht Jahre älteren Bruder darüber, dass mich das alles nicht überzeugt. Aber wenn mich das nicht überzeugt, wieso sollte ich mich konfirmieren lassen? Schließlich wird man mit der Konfirmation in die Gemeinde aufgenommen?
Ich beschloss also am nächsten Sonntag den Gottesdienst von Pfarrer L. zu besuchen und mich dem Glauben auszusetzen. So hoffte ich, entscheiden zu können, ob ich mich konfirmieren lassen will oder nicht. Mit 14 macht man noch Sachen ...

Ich stiefelte also am folgenden Sonntag in den Gottesdienst und fremdelte die ganzen zwei Stunden. Pfarrer L. beobachtete mich die ganze Zeit. Ich war der einzige seiner Konfirmanden, der den Weg in den Gottesdienst gesucht hatte. Ich beobachtete ihn und die anderen Gottesdienstbesucher. Mit niemand in der Gemeinde fühlte ich mich verbunden. Mit der Predigt konnte ich nicht anfangen, Gott blieb mir so fremd und dubios wie vorher.
Mein Bruder meinte anschließend, dass wir halt von den Eltern nicht christlich erzogen worden seien und daher keinen Bezug dazu hätten. Das leuchtete mir ein. Glaube und Christentum funktioniert nur bei Leuten, denen es von Kindheit an nahe gebracht wurde. Aber wenn das bei mir nicht der Fall war, warum sollte ich mich konfirmieren lassen?
Wegen der Geschenke, meinte mein Bruder. Nimm es einfach mit und in ein paar Wochen kannst du ja aus der Kirche austreten und den ganzen Scheiß vergessen.
Für einen ernsthaften jungen Mann war das kein gangbarer Weg.
Mein Bruder sah mir tief in die Augen. Schau, meinte er, mann muss im Leben vieles machen, was der letzte Scheiß ist. Manchmal auch, um niemanden zu verletzten, wie bei der Konfirmation. Die ganze Verwandtschaft sei da und die Eltern würden sich auf ein Familienfest freuen. Ich sei der Jüngste und mit der Konfirmation sei auch ein Lebensabschnitt abgeschlossen und der erste Schritt ins Erwachsenenleben getan. Ich solle doch niemand enttäuschen und die Show einfach mitmachen.
Und so wurde ich konfirmiert und trat sechs Wochen später aus der Kirche aus.
Zu diesem Zeitpunkt kam ich mir ziemlich materialistisch und inkonsequent vor. Ich habe mich über mich selbst geärgert.

Einige Jahre später habe ich den Wehrdienst verweigert und kam zum Zivildienst in ein großes Klinikum. Unter uns Zivildienstleistenden gab es auch einen, der sich auch weigerte den Zivildienst abzuleisten. Das Argument war, dass man auch als Zivi dem Krieg Vorschub leiste, in dem man sozusagen an der Heimatfront diene und so erst die Voraussetzungen schaffe, dass Andere in den Krieg ziehen könnten. Der Totalverweigerer wurde ins Gefängnis gesteckt und wir haben Mahnwachen und Aktionen für seine Freilassung veranstaltet. Irgendwann hatte dann die Staatsmacht ein Einsehen und ließ ihn frei, allerdings erst nach seiner Verurteilung zu einer längeren Gefängnisstrafe, die ihm einen Eintrag im Strafregister bescherte. Es sollte ein Exempel statuiert werden. Er nahm das auf sich, für seine Überzeugungen.
Was für ein Scheißdreck.
So wurde ich endgültig vom moralischen Rigorismus geheilt.

Das alles ereignete sich vor über 40 Jahren. Was aus dem Pfarrer L. wohl geworden ist?
Wenn ich heute zurückblicke, denke ich mir, dass der L. ein kluger, sympathischer Mann war, der uns Kindern neue, vernünftigere Denk- und Sichtweisen vermittelt hat. Dafür bin ich ihm dankbar. Es bleibt aber die Frage, die wir uns schon damals stellten: was hatte das alles mit seinem Glauben zu tun? Für einen gläubigen Menschen ist es zweifellos eine sinnvolle Anstrengung seinen Glauben mit der Moderne in Einklang zu bringen, nur was soll ein Ungläubiger wie ich mit derlei Rationalisierungen anfangen?
Für uns Jugendliche war der L. etwas zu weichgespült, zu verständnisvoll, sein Leben verlief für unseren Geschmack zu bruchlos, zu langweilig, zu leidenschaftslos.

_______________________
Das ist sehr flott heruntergeschrieben. Wenn es an einigen Stellen zu sprunghaft und inkonsistent daherkommt, bitte ich um Verzeihung.

Jetzt fehlt natürlich noch das Gegenbild. Da brauche ich aber noch ein bisschen Zeit.

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Freitag, 11. Februar 2011
Wirre Gedanken über Graham Green, Geheimagenten und das geplante Leben
Heutzutage, so hört man, seien die jungen Leute ganz versessen darauf, schon im Vorschulalter ihren späteren Lebensweg in den Griff zu bekommen. Musik und Sport und mindestens zwei Fremdsprachen und überhaupt, das müsse schon sein. Ich hatte mal einen Schuldirektor, der immer mit so schönen und bleibenden Sätzen wie ‚Was Hänschen nicht lernt, das ...“ hausieren ging. Er wäre sicher begeistert über die heutige Generation, die seinen Lebensweisheiten folgt, ohne dass er sie mit solchen Sentenzen dazu anhalten muss, aber das ist eine andere Geschichte, zumal wir damals (aufgemerkt: „Papa erzählt vom Krieg!“) seinen Lebenserfahrungen nicht getraut haben, da er Napola-Zögling war. („Ja, ja, das kommt davon, wenn man auf die Altvorderen nicht hören will!“)
Nun ja, damals also, waren wir eher begeistert von Weisheiten wie: „Trau keinem über 30!“ und viele meiner Schulfreunde und dann meiner Kommilitonen und Kommilitoninnen, verzehrten sich vor Sorge, dass sie später im Beruf und wenn sie eine Familie hätten ganz fürchterlich angepasst seien. Die Furcht vor Verspießerung im Alter (das ist, wenn man aus der verlängerten Adoleszenz während des Studiums heraustritt) war allgegenwärtig. Heute, aber das können Sie sich sicher denken ...

Ach Übrigens, kennen Sie Fredl Fesl?
Na egal, er hat in den 70ern mal ein Gstanzl gesungen/gesprochen, in dem es um das aufgeschobene Leben ging. Aus dem Gedächtnis zitiert ging das ungefähr so:
„Wenn mer erst mal aus der Schul ist,
Wenn mer erst mal im Beruf steht,
Wenn mer erst mal verheiratet ist,
Wenn mer erst mal a Häusle hat,
wenn mer erstmal Kinder hat,
wenn des Häusle erstmal abbezahlt ist,
wenn die Kinder aus dem Haus sind,
wenn die Kinder erstmal selber Kinder ham,
wenn mer erstmal in Rente ist,
wenn mer erstmal tot ist
... dann wird alles anders.“
Also, so ungefähr wenigstens. Aufgefallen ist mir die Ambivalenz, in der sich das Gstanzl bewegt. Wahrscheinlich hat es deshalb damals nicht wirklich großen Erfolg bei, ja bei wem? gehabt.

Etwas größeren Erfolg hatte ein Roman von Graham Green: Die Reisen mit meiner Tante. Das gab es als RoRoRo-Taschenbuch mit grünem Einband, wenn ich mich recht erinnere. Die Geschichte ist schnell angedeutet: Der Direktor einer englischen Provinzbank hat sich im Ruhestand auf die Züchtung von Dahlien kapriziert und führt ein gemächliches Leben. Zur Beerdigung seiner Mutter erscheint auch seine Tante, die Schwester seiner Mutter, mit ihrem kiffenden Liebhaber, Wordsworth, der nach der Beerdigung aufgrund widriger Umstände gezwungen ist, die Asche der Mutter in den Fluss zu kippen, um sein Gras in der Urne verstecken zu können. In der Folge ereignet sich noch so dies und das und gegen Ende der Geschichte verbringt der ehemalige Bankdirektor seinen Lebensabend damit, im brasilianischen Urwald Konterbande über die Grenze zu schmuggeln. Liiert ist unser Held mit einer jungen Frau, deren Vater im Hauptberuf CIA-Agent ist und Wert auf ein geregeltes Leben legt:
„Er nahm sein Notizbuch aus der Tasche und begann wieder seine geheimnisvollen Zahlenkolonnen zu kritzeln.
»Forschungsergebnisse?« fragte ich.
»Ach«, sagte er, »das ist privat.«
»Schließen Sie Wetten ab, wie weit das Schiff kommt?«
»Nein, nein. Für Wetten habe ich nichts übrig.« Wieder sah er mich melancholisch und besorgt zugleich an. »Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen, Henry«, sagte er. »Die meisten Menschen würden es komisch finden. Ich zähle die Sekunden, die ich zum Pinkeln brauche, und dann schreibe ich auf, wie lange es gedauert hat, und die Uhrzeit. Haben Sie sich schon einmal klargemacht, dass wir jedes Jahr einen ganzen Tag verpinkeln?«
»Du meine Güte«, sagte ich.
»Ich kann es beweisen, Henry. Sehen Sie her.« Er öffnete sein Notizbuch und zeigte mir eine Seite. Das sah ungefähr so aus:

28. Juli

7 h 15: 17’’

10 h 45: 37’’

12 h 30: 50’’

13 h 15: 32’’

13 h 40: 50’’

14 h 05: 20’’

15 h 45: 37’’

18 h 40: 28’’

20 h 30: ? Vergessen zu zählen

4 Min. 31 Sek.

Er sagte: »Man muss nur mit sieben multiplizieren. Das ergibt dann eine halbe Stunde pro Woche. Oder sechsundzwanzig Stunden im Jahr.«
(Graham Greene: Die Reisen mit meiner Tante, Rowohlt 1977 S. 161/2)

Ach, und da wir gerade bei Geheimagenten angelangt sind: Beim abendlichen zappen durch die Programme landete ich eines Tages auch bei einem Bericht über den BND. In einer Sequenz zeigten sie Bewerber für den Beruf des Spions. Zumindest für mich verblüffend war, dass nicht einer der Schlapphüte in spe als Motiv für seine Bewerbung beim Bundesnachrichtendienst Freiheit & Abenteuer erwähnte. In Erinnerung geblieben ist mir die Aussage eines Bewerbers:
„Ich wollte schon immer Beamter werden. Leider bin ich von verschiedenen Ämtern abgelehnt worden, und so dachte ich mir, bewirb dich doch mal beim BND.“
Nach allem was man so hört, ist diese Geisteshaltung durchaus typisch für bundesdeutsche Nachrichtendienste. Vielleicht ist das nicht das Schlechteste.

Sie sehen, die Furcht vor einem Leben, das sich in geordneten Bahnen von der behüteten Kindheit, über Schule, Studium oder Ausbildung, in Beruf und Familie und am Ende in Siechtum und Tod, bewegt, war zumindest für einen Teil meiner Generation prägend. Die Furcht, das donnernde Leben zu verpassen, war ausgeprägter als die Sorge, vor den Herausforderungen des Lebens zu scheitern. Wobei man sich beim scheitern, aber das wäre nochmals eine andere Geschichte …

Lutz Niethammer hat mal in einer Straße in Köln(?) versucht, dieses geplante, langweilige Leben dingfest zu machen. Er befragte alle Bewohner dieser Straße nach ihren Erlebnissen und Erfahrungen, privat und beruflich. Keiner der Befragten hatte einen Lebensweg, der von der Geburt bis zum Tode in geordneten Bahnen verlief.
Wovor haben wir uns dann eigentlich damals gefürchtet?
Meine Antwort wäre: vor den Sehnsüchten unserer Eltern, die ein oder zwei Kriege und den Faschismus in den Knochen hatten und sich nach einigen Jahren in Sicherheit sehnten. Wir haben diese Sehnsucht für die Wirklichkeit gehalten. Das geordnete Leben von der Wiege bis zur Bahre existierte nie, zumindest für die niederen Schichten.

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Donnerstag, 10. Februar 2011
Selbstbildnis mit Socken und Tieren

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Mittwoch, 9. Februar 2011
Selbstbildnis mit Socken und Tier

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Dienstag, 8. Februar 2011
Wundersame Maschinen V
Anno Domini 1585 baute der Augsburger Hans Schlottheim (wahrscheinlich) für Karl V. ein mechanisches Schiff, das ursprünglich mit Rädern versehen war und sich auf Schienen bewegen konnte. Während sich das Schiff bewegte, spielte eine Orgel, während die Trompeter ihre Instrumente erheben und andere Trommeln und Zimbeln schlagen. Die Matrosen hissen die Segel und am Heck sitzt Karl V. unter einem Baldachin und fuchtelt mit seinem Zepter in der Luft, während er huldvoll den Würdenträgern zunickt.


(Wikipedia)

Hans Schlottheim (1545–1625) baute viele prachtvolle Uhren und Krippenspiele mit morgenländischen Weisen und selbstlaufenden Krebsen von unerhörtem Prunk. Leider waren seine Kunden aus dem Hochadel säumige Zahler, so dass er einige Jahre später völlig verarmt starb. (→ Radiofeature bei BR 2 (wird wohl demnächst wieder gelöscht)

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Montag, 7. Februar 2011
Selbstbildnis mit Socke und Tier

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Freitag, 4. Februar 2011
Noch ein Prediger
Ich hatte ja das eine oder andere Mal schon von Predigern berichtet, der Ungewöhnlichste war sicher jener junge Mann mit Schottenrock, Springerstiefeln und ausgemergeltem, nacktem Oberkörper, den man Anfang der 80er gelegentlich in der U-Bahn traf.

Stets schlich er gebeugten Hauptes in den Wagon, vor sich hin murmelnd über dunkle Mächte, das Schicksal und die Zukunft der Geister. Er richtete sein Wort niemals an die Fahrgäste. Einmal beobachtete ich ihn, wie er konzentriert und abwesend zugleich, gegen die Tür zur Tunnelwand sprach, jedes seiner Worte mit unverständlichen Gesten unterstreichend.

Nach einer oder zwei Stationen zog er eine Gasmaske aus einem schmierigen Beutel, setzte sie auf und brüllte:
„Angriff!“
Dann warf er sich zu Boden, zitterte, um nach wenigen Sekunden wieder aufzuspringen und in seinem Singsang fortzufahren.

Ich habe mich immer gefragt, wie sich sein Verhalten, seine verschobene Welt, bis zu seinem jetzigen Zustand hin entwickelt hatte. Das, was man beobachten konnte, hätte eher zu einem alten Mann gepasst, der durch die Gasangriffe des 1. Weltkrieges traumatisiert wurde. Dafür war er zu jung.

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Donnerstag, 3. Februar 2011
Wundersame Maschinen IV
Der französische Ingenieur Salomon de Caus (1576–1626) begann 1616 mit dem Bau des Hortus Palatinus, einer der bedeutendsten Gartenanlage seiner Zeit.
Die Gartenanlage erstreckt sich über vier Ebenen. In der großen Grotte auf der zweiten Ebene waren Wasserspiele vorgesehen.


(Wikipedia)

Auf der vierten Ebene, der Aussichts- und Promenierterrasse, war auch ein Maschinenraum vorgesehen. In diesem Raum sollten mit Wasser angetriebene Maschinen in Blasebälgen die Luft zu Winddruck verdichten. Eine Orgelmaschine drehte durch Wasserkraft über das Zahnradgetriebe eine Walze und betätigte eine Klaviatur.


(Wikipedia)

Leider wurde der Auftraggeber dieser wundersamen Spielerei, Kurfürst Friedrich V., 1619 König von Böhmen und verlegte seine Residenz nach Prag. So wurde die Gartenanlage nie fertiggestellt. Die Anlage enthielt unter anderem auch ein Jahreszeitenbeet, bei der die Blüte jeden Monat um drei Felder vorrückte.

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Mittwoch, 2. Februar 2011
Herabwürdigungen für jede Gelegenheit,
heute: der Proktophantasmist
Das Schöne an diesen Latinismen ist ja, dass sie keiner versteht und das heißt, man kann jedermann so bezeichnen, ohne eine Beleidigungsklage zu riskieren: Proktophantasmist, elender!

Erfunden hat es der Geheimrat von Goethe, der sich zeitlebens mit Friedrich Nicolai gezankt hat. Nun gut, Friedrich Nicolai konnte auch schon mal kräftig hinlangen, aber die Gebrechen eines Kontrahenten auszunutzen und einen Proktophantasmisten im Faust auftreten zu lassen, nur weil man nicht glauben kann, dass mit Blutegeln auch böse Geister zu vertreiben sind, gehört zu den bemerkenswerteren Grobheiten der Literaturgeschichte.

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Dienstag, 1. Februar 2011
Wundersame Maschinen III
Leonardo da Vinci (1452–1519) fertigte, neben vielen anderen Maschinen, die funktionierten oder auch nicht, zwischen 1494 und 1498 einen blechernen Ritter. In Auftrag hatten ihn die Sforzas, das berühmteste Herrschergeschlecht Mailands gegeben.

Er diente der Belustigung des Mailänder Hofes und konnte seine Arme bewegen, sich aufsetzen und den Kopf drehen. Ein System von Zahnrädern, Gestängen und Seilen erlaubte es, ihn von einem Nebenraum aus zu bedienen.

Der Blechritter von Leonardo da Vinci

Faszinierend ist auch seine Unendlichkeitsmaschine, ein System von hintereinander gesetzten Getrieben, die die Bewegung des vorhergegangenen sieben Mal so langsam aufnimmt. Das letzte Getriebe ist einbetoniert. Obwohl es andauernd in Bewegung ist, sprengt es nicht den Beton oder kommt zum Stillstand.

Die Unendlichkeitsmaschine in Funktion

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Montag, 31. Januar 2011
Migrationshintergründler unter sich
Im Bus: Ein junger Vater mit seinen zwei Töchtern im Vorschulalter. Die Töchter reden deutsch miteinander. Mit ihrem Vater aber nur Spanisch.
Die beiden Kleinen sind ganz aus dem Häuschen wegen einem Bogen Klebebildchen mit Sternen und Engeln und ...

„Wir haben ganz viel Glitzerzeug!“
„Oh ja,“ antwortet die Schwester mit glänzenden Augen.

Vatern will irgend etwas wissen, die Beiden antworten in flüssigem Spanisch, um unmittelbar danach die Angelegenheit untereinander auf deutsch weiter zu besprechen, garniert mit Auskünften an den Vater auf Spanisch.

„No, son Engel!“

Okay, jedes Wort kann man im Spanischen auch nicht gleich wissen.

Perfekt zweisprachig, die beiden Kleinen. Solche Szenen kann man häufig, in der Regel auf Türkisch, beobachten. Da ich aber leider kein Türkisch kann, war das mal eine nette Abwechslung, die ganze Unterhaltung zu verstehen und nicht nur die eine Hälfte.

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Freitag, 28. Januar 2011
Tageslosung
„Für uns sind in den letzten Jahrhunderten die alten Religionen geborsten. Aber ich glaube nicht so folgenlos, dass wir uns der Aufklärung harmlos freuen dürfen. Eine Religion band Mächte, deren freies Wirken zu fürchten ist.“
(Walter Benjamin: Dialog über die Religiosität der Gegenwart)

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Donnerstag, 27. Januar 2011
Wundersame Maschinen II
Thomas von Aquin (1225–1274) soll einen mechanischen Türsteher besessen haben, der jeden Besucher mit „Salve“ begrüßte und ihn zunächst fragte, was er den wolle bevor er ihn vorließ. Irgendwann ging ihm aber sein Türsteher mit der andauernden Fragerei auf die Nerven und er zerschlug ihn. Wie die Maschine funktioniert hat, ist nicht überliefert. Schade eigentlich.
Man könnte natürlich überlegen, ob diese martialischen Türsteher vor den Diskotheken nicht durch solch einen Automaten ersetzt werden sollten. „Du kommst hier net rein!“ würde er ja auch fehlerfrei hinbekommen. Den bewährten Vorzimmerdrachen, der hochgestellte Persönlichkeiten bestimmt, höflich, ausgeglichen und unnachgiebig vor allzu dämlichem Begehr schützt, könnte er aber vermutlich nicht ersetzen.

Die Araber hingegen waren in dieser Zeit doch etwas zu praktisch orientiert, gebaut und beschrieben wurden in erster Linie Uhren und Wasserschöpfräder. Immerhin baute Badī' az-Zamān Abū l-'Izz ibn Ismā'īl ibn ar-Razzāz al-Dschazarī eine wunderbare Elefantenuhr, bei der jede halbe Stunde der Elefantenführer ein Becken schlägt und ein mechanischer Vogel zu singen anfängt.

Elefantenuhr des al-Dschazari

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