Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Tageslosung
„Für uns sind in den letzten Jahrhunderten die alten Religionen geborsten. Aber ich glaube nicht so folgenlos, dass wir uns der Aufklärung harmlos freuen dürfen. Eine Religion band Mächte, deren freies Wirken zu fürchten ist.“
(Walter Benjamin: Dialog über die Religiosität der Gegenwart)

Kommentieren




damals, Mittwoch, 2. Februar 2011, 23:47
Meine Güte, ist das ein negatives Denken! Der Satz ist ja natürlich richtig, aber: Setzt Religion nicht auch Kräfte frei, deren Wirken zu begrüßen ist?

g., Donnerstag, 3. Februar 2011, 06:02
Ihre Frage verblüfft mich. Spontan hätte ich gefragt: Welche Kräfte könnten das sein?
Nach dem ersten Stöbern in meinem Kopf tauchen nur Gedanken an die Befreiungstheologie in Lateinamerika auf.
Die Frage, die sich anschließt, wäre natürlich, inwiefern Religionen dafür ursächlich sind, also ob die Kräfte etwa durch den Katholizismus freigesetzt wurden?

damals, Donnerstag, 3. Februar 2011, 09:26
Davon gehe ich aus, von dieser Ursächlichkeit. Aus meiner Erfahrung haben Gläubige oft ein Vertrauen in die Welt, das stark macht. Und dieses Vertrauen schließt doch auch das Vertrauen darin ein, dass man die Welt verändern kann, wie z.B. bei der Befreiuungstheologie. Ich denke schon, dass das religöse Ursprünge hat. Im Übrigen (vielleicht hat das Ihre Verblüffung ausgelöst) hat das erwähnte Bersten der Religionen ja zur Folge, dass bei den christlichen Glaubensgemeinschaften in Deutschland diese positiven Kräfte zu aller erst verloren gegangen sind, wie ich hier schon mal angemerkt habe.

g., Freitag, 4. Februar 2011, 06:53
Jetzt bin ich gleich mal an ihrer These vom Vertrauen in die Welt, die der gläubige Mensch habe und das dieses Vertrauen auch die Veränderbarkeit einschließe, hängen geblieben.

Zunächst mal haben die Religionen (vielleicht bleiben wir zunächst bei den christlichen Religionen, Hinduismus, Islam, u.a. sind mir dann doch zu fremd, zu unbekannt, als dass ich da unvermittelt mitdiskutieren könnte) nur ausnahmsweise auf die Veränderbarkeit gesetzt. Eigentlich sind mir nur zwei Beispiele bekannt: die Befreiungstheologie in Lateinamerika und vielleicht noch die Vorgänge in Osteuropa. Aber zumindest in der DDR war mein Eindruck, dass es weniger um Religion, als um die Rolle der Kirche ging, die Räume zur Reflexion und Diskussion zur Verfügung stellte. Religiöse Hintergründe habe ich selten wahrgenommen.

Aber zurück zum Vertrauen in die Welt, die durch Religionen gestiftet werde: Da würde ich durchaus zustimmen, vor allem in dieser Pauschalität. Gläubige Menschen haben auch in meiner Wahrnehmung ein höheres Maß an Einverständnis (um mal das Vertrauen, sozusagen herantastend konkreter zu machen) mit dem Bestehenden, also der Welt im Sinne von Gesellschaft. Religionen als voraufklärerische Weltinterpretationen verzichten notgedrungen auf Differenzierungen. Die Frage nach richtig oder falsch wird ja nicht am konkreten Sachverhalt entschieden, sondern an Übereinstimmung mit allgemeinen, in weiten Teilen pauschalen Urteilen, Glaubenssätzen, die dann als Folie für die Beurteilung der konkreten Verhältnisse dienen. Daran stoße ich mich aber doch. Als, sozusagen Kind der Aufklärung, bevorzuge ich die konkrete Beurteilung des Sachverhalts aus den Verhältnissen heraus. Die Sinnhaftigkeit eines Ankerpunktes außerhalb, also eines Gottes, erschließt sich mir nicht.

Zum Abschluss noch eine Anmerkung zu Ihrer These über das Verschwinden des Glaubens, der Religiosität, durch staatlich bestellten Religionsunterricht. Dem würde ich nicht zustimmen. Ich denke das Verschwinden des Religiösen hat sehr viel mehr mit der Aufklärung und weit vorher, mit der Reformation zu tun. Insbesondere bei den Protestanten, sehr viel später erst in der katholischen Theologie und dort sehr viel zurückhaltender, wurde meines Erachtens der Versuch unternommen, den religiösen Weltzugang durch einen rationalen zu ersetzen. Das scheint mir, der Versuch der Quadratur des Kreises zu sein. Glaube und rationaler Weltzugang lassen sich nicht vereinbaren.

damals, Montag, 7. Februar 2011, 17:53
Ich antworte spät, da ich doch nochmal über Ihre Anmerkungen nachdenken musste. Insbesondere gab mir zu denken, dass Sie meine Formulierung vom Vertrauen in die Welt hin auf das konkretisierten, was es vermutlich ist: Einverständnis mit der Welt – und von daher nur im Ausnahmefall veränderungsfreudig. Und Sie haben auch Recht damit, dass kirchliche Opposition in Osteuropa (jedenfalls in der DDR) größerenteils gar nicht religiös motiviert war. Das nicht, aber dennoch oft antiaufklärerisch – in einem gutem Sinne: Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, welchen Irrsinn das dialektische Denken mit den an sich lobenswerten Prämissen von Ratio und Aufklärung veranstaltet hat, da war einfach ein pauschales Beharren auf tradierten Vorstellungen von Gut und Böse manchmal die Rettung. Und ist nicht die Befreiungstheologie in einer ähnliche Lage entstanden: als bodenständiger Protest gegen die irrsinnig rationale Logik des (Post-)Kolonialismus?
Aber davon mal abgesehen möchte ich daran erinnern, dass Irrationalität vielleicht unlogisch, aber (wo sie ernsthaft betrieben wird) alles andere als undifferenziert ist. Ich erinnere mich an eine Begegnung beim Trampen in den neunziger Jahren: Der Fahrer war Waldorf-Lehrer und es war meine erste Begegnung mit der Ideologie Rudolf Steiners. Ich war damals total fasziniert davon, was für ein echtes, differenziertes, warmherziges soziales Agieren aus einem solchen philosophischen Schwachsinn mit ideologisch bedenklicher Tendenz doch entstehen kann. Man sollte die Menschen an ihrem Handeln messen, nicht an ihren Ideologien.
Und mit dem Religionsunterricht haben wir uns wohl missverstanden: ich meinte nur den protestantischen, aufklärerischen, letztlich antispirituellen – also den „verbeamteten“ -, den ich für einen Blödsinn halte. Aufklärung, Politik, bürgerliches Zusammenleben sollten religionsfrei bleiben. Die Religion sollte nicht auf politischem Gebiet wildern, da hat sie nichts zu suchen – aber umgekehrt eben auch nicht. Religion als die ganz persönliche Unvernunft (gern auch im Verein betrieben) ist etwas äußerst Gesundes. Krank wird sie erst, wenn sie versucht, Politik zu sein.
(Text wurde in Eile geschrieben - aber besser als überhaupt nicht)

g., Dienstag, 8. Februar 2011, 07:16
Zunächst: Setzen Sie sich nicht unnötig unter Druck zu antworten. Trotz gelegentlicher Ernsthaftigkeit muss unsere Unterhaltung meines Erachtens eine beiläufige Plauderei bleiben. Ich bin, schon aus Zeitmangel, nicht in der Lage, in ein Thema intensiver, angemessener einzusteigen. Beruf und Privatleben lasten mich völlig aus. Ich würde ja gerne bei einigen Themen tiefer einsteigen, meine morgendliche Stunde erlaubt allerdings kaum mal einen Gedanken etwas auszuführen. Ich nehme es daher niemand übel, kurz angebunden zu sein oder überhaupt nicht zu antworten.

Einige kurze Statements zu Ihren Anmerkungen:
Meiner Meinung nach hatte das, was in der DDR an offiziellem Denken vonstatten ging, wenig bis nichts mit Dialektik und nichts mit Aufklärung zu tun. Ich habe mir mal den Spaß erlaubt (für Sie hat das natürlich nichts mit Spaß zu tun) ein Lehrbuch des Marxismus-Leninismus, herausgegeben von der Hochschule für Ökonomie wenn ich mich recht erinnere, durchzulesen, weil ich wissen wollte, was denn nun so an den Schulen und Hochschulen gelehrt wurde. Nun, Sie haben unter diesem Kauderwelsch wohl mehr gelitten als ich, so dass ich mir eine Polemik verkneifen kann.

Ich würde Aufklärung auch nicht so ohne Weiteres mit Ratio gleichziehen und dann in den Gegensatz Irrationalität weiter gehen, wiewohl ich weiß, dass häufig der Zweckrationalismus des 19. Jahrhunderts als Ausfluss aufklärerischen Denkens gehandelt wird. Wenn man sich die Enzyklopädisten oder Herder, Lichtenberg, Wieland und Kant, selbst Voltaire könnte man noch in diese Reihe stellen, ansieht, entsteht meiner Wahrnehmung nach eher das Bild eines emanzipatorischen Denkens, das allerdings gegen das religiöse, gegenemanzipatorische, mithin gegenaufklärerische Denken der Zeit und der Zeiten davor, gerichtet ist. Die Lebens- und Denkfreude, die sich darin ausdrückt (okay, Kant ist in seiner Haltung, aber nicht in seinem Denken, ein wenig verknöchert), setzt auch nicht das Denken gegen Gefühl oder gar Spiritualität. Einer meiner Lieblingsromane aus dieser Zeit ist übrigens Jacques le Fataliste von Denis Diderot.
Sie sehen, die Kritik am „Irrsinn rationaler Logik“ vermag ich nicht zu teilen, eine Kritik am simplifizierenden, hin und wieder nenne ich es „Logik der Betriebswirte“, Denken in zweckrationalen Kategorien, die als zentralen Maßstab nur den eigenen Geldbeutel und die persönliche Position in der Hierarchie kennt, teile ich. Nur sollte man dieses Denken nicht der Aufklärung und der Ratio allgemein in die Schuhe schieben.
Ein von mir sehr geschätzter Dichter, Friedrich Hölderlin, schrieb einmal, die drei Äußerungsformen des menschlichen Bewusstseins seien Denken, Fühlen und Handeln. Ich halte das für nützliche Kategorien. Sie erlauben unter anderem, aus den Gegensätzen Verstand und Gefühl, Denken und Handeln, herauszutreten. Aber das führt uns in noch weitere Gefilde.

Zum Abschluss vielleicht noch ein vergiftetes Lob der Irrationalität:
Mitte der 70er Jahre, während meines Zivildienstes, kam ein Trupp Waldorfschüler aus Tübingen (alles Lehrerkinder) in unser Wohnheim. Ich hatte vorher nie Kontakt zu Waldorfschulen und Rudolf Steiners Ideologie und so war ich neugierig. Wir haben uns dann einige Abende über ihre Erfahrungen mit der Waldorfpädagogik und der Schule, die sie beuchten, unterhalten. Da es kluge Leute waren, haben sie ihre Zeit auf dieser Schule nicht völlig verdammt, sondern versuchten die Widersprüchlichkeit ihrer Erfahrungen zu beschreiben.
Einige Monate später habe ich mir dann einen Vortrag eines Waldorfpädagogen über Rudolf Steiner und seine Lehren in der Volkshochschule Freiburg angehört. Ich kann das natürlich nach so langer Zeit nicht mehr korrekt wiedergeben, kurz und polemisch gefasst, ging es um irgendeinen Weltgeist, der ziemlich konzentriert in die Kinder hineingeboren wird und sich dann mit dem Aufwachsen zunehmend verdünnt und in der ganzen Persönlichkeit verteilt. Das Geraffel war unerträglich, die pädagogischen Schlussfolgerungen hingegen durchaus zustimmungsfähig: die Verdünnerei dürfe nicht behindert werden, das heranwachsende Kind soll daher möglichst große Freiheiten zur Entwicklung seiner spezifischen Fähigkeiten erhalten und individuell gefördert werden.
Die Praxis dieser durchaus vernünftigen Prinzipien war dann aber weit weniger tolerant, wie mir meine Mitbewohner berichtet haben.

nnier, Dienstag, 8. Februar 2011, 07:41
Ich lese hier mit großem Interesse mit!

damals, Freitag, 11. Februar 2011, 00:55
Ist schon komisch, dass sich immer wieder herausstellt, wie man doch nach seinen eigenen Vorlieben urteilt: Ich kritisere, dass Sie religiösem Denken Undifferenziertheit unterstellen - Sie weisen mir nach, dass ich aufklärerisches Denken auf seine post-modernen Schrumpfformen (ML-Kauderwelsch bzw. "Logik der Betriebswirte") reduziere, was gegenüber einer Denkrichtung, die "Minna von Barnhelm" und "Figaros Hochzeit" hervorgebrcht hat, natürlich auch nicht fair ist. (Und dass faszierende pädagogische Ideale nicht unbedingt sinnvolles pädagogisches Handeln implizieren müssen, da haben Sie auch Recht.)
Wissen Sie, ich bin einfach ungläubig erzogen worden als Kind und bin es auch geblieben - aber inzwischen sensibilisiert dafür, was mir dadurch fehlt, einfach als Halt für mein Leben (deshalb hab ich vermutlich auch eine evangelische Frau geheiratet). Und so insistiere ich: So groß wie im 18. Jahrhundert ist die Aufklärung auch nicht mehr (von der ich natürlich mehr den lieben Herder als den boshaften Lichtenberg oder gar den trockenen Kant liebe): Diderotsche Qualitäten gibts nicht mehr. Das, was an der Aufklärung begeisternd ist - der Freiheitsdrang - das finde ich ich eher in den Abstrusitäten von Emine Özdamar als in den klaren Prinzipien der Kemalisten, eher in den sophistischen Plaudereien Sven Regeners als in der ernsthaften Literatur von Bernhard Schlink. (sicher jetzt abseitige Beispiele - aber ich hab halt nur Zeit das Wichtigste zu lesen: das Abseitige).
.... und dass wir in Herrn Nnier noch einen interessierten Leser gefunden gefunden haben, freut mich auch.

g., Freitag, 11. Februar 2011, 06:32
Ich versuche mal übers Wochenende eine Geschichte zu schreiben, die man als eine Art Antwort lesen könnte. Hoffentlich schaffe ich es.
Dass Sie meine Gegenrede als unfair empfinden, hat mir zu denken gegeben. Es lag zwar nicht in meiner Absicht Ihnen ‚Schrumpfdenken’ zu unterstellen, aber beim nochmaligen lesen dessen, was ich geschrieben habe, muss ich zugeben, dass man es so wahrnehmen kann. Allzu bestimmte Rede ist ja häufiger nicht sinnvoll. Aber halten Sie mir zugute, dass ich nur Ihre Sätze lesen und nur von ihnen ausgehen kann.
Übrigens 1: Sven Regner mag ich auch lieber als Bernhard Schlink.
Übrigens 2: So pessimistisch, dass man immer nur nach seinen eigenen Vorlieben urteilt, bin ich nicht.

damals, Freitag, 11. Februar 2011, 14:36
Bei dem Satz mit der Fairness haben wir uns wohl missverstanden - bitte meine konkretisierte Formulierung beachten!
P.S. Auf die Geschichte bin ich schon neugierig.