Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Donnerstag, 6. Januar 2011
Friedrich Wilhelm August Schmidt,
der Pastor von Werneuchen ist heute kaum noch jemand ein Begriff. In gewisser Weise ist das schade:
Dorfkirche

Wie schön die Fensterscheiben, rund und düster!
Des Altars Decke, wo die Motte kreucht!
Die schwarzen Spinngewebe, die der Küster
Selbst mit dem längsten Kehrwisch nicht erreicht!
Wie schön der Todtenkränze flittern,
die hier bestäubt am kleinen Chore zittern!“
Unser Pastor war ein Dilettant im Wortsinne, also einer der Freude an seinem Tun hat und sich einen Teufel um die literarische Qualität sorgt.
„Ich bin weit davon entfernt, Forderungen zu machen, weit davon entfernt, mit irgendeinem unsrer Dichter von Werth mich messen zu wollen;“
schrieb er in seinem Vorbericht zur Ausgabe seiner Gedichte von 1796. Und weiter:
„aber das glaube ich mit Wahrheit behaupten zu können: dass selbst von schätzbaren Dichtern die Natur selten wahr kopiert worden sei. Man hat an ihrer Einfalt gekünstelt. Solche Verschönerungen wird man in diesen Blättern zwar vermissen, keine Vergleichungen ihrer Reitze mit Gold, Silber u.v.m. darin antreffen; aber demohnerachtet hoffe ich, mein kleines Publikum zu finden.“
Der olle Wieland hat das klar erkannt, für ihn war der Pastor ein selten vorkommendes Naturtalent, das man nicht mit den Maßstäben der Literaturkritik messen sollte: „Wenn Amseln und Grasmücken in ihrer Art lieblich singen, warum soll ich mich verdrießen lassen, daß sie keine Nachtigallen sind.“ schrieb er zur üblichen zeitgenössischen Kritik, die insbesondere Schmidts Sujetwahl bekrittelte.

Darüber hinaus ist dem guten Pastor auch noch aufgefallen, dass es mit dem Kunstschönen und dem Naturschönen alles nicht so einfach ist.
An den Mond
Abends um eilf Uhr im Fenster.

So manchen Abend traut‘ ich hier
In stummer Liebe Leid,
In meiner Schwermuth kuckst du dann
Mich freundlich durch die Weiden an,
Daß mich’s im Herzen freut.

Wenn doch wie du, mein Mädchen, mild
Wie du so freundlich wär‘.
O such sie, lieber Mond, und schein‘
Ihr in die blauen Aeugelein,
Und mach‘ ihr’s Herzchen schwer.“
Sein rührendes Bemühen um die Rehabilitierung von Motten und Spinnen klappt nicht immer und so wurde er vielfach verspottet. Er habe eine runde, stattliche Figur mit einem Kohlhaupte obenan gehabt, schrieb etwa Friedrich Zelter an Goethe, der seinerseits den dichtenden Pastor mit einer Persiflage durchaus auch anerkennend berühmt gemacht hat.
Ich finde ja, dass unser poetisierender Pastor mit seinen Gedichten etwa die Lukullus bereichert hätte.

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Mittwoch, 5. Januar 2011
Luisa oder Frech kommt weiter
Ein Katzenleben
Ich weiß nicht wie du im Frühjahr 2000 warst, als du geboren wurdest. Als wir kurz vor Weihnachten 2001 im Tierheim waren, um uns Katzen auszusuchen, hobst du nur kurz den Kopf, als wir euer Gelass betraten. Ein kurzer, prüfender Blick und wir wurden als tauglich eingestuft. Deine Schwester hatte wohl das Tierheim ziemlich satt und baggerte uns vehement an. Sie veranstaltete ein riesen Geschrei und rieb ihr Köpfchen an uns, während du nur interessiert, aber müde, das Schauspiel beobachtetest.

Wir packten euch ein und erledigten den Papierkram. Zu Hause wurde sofort das Klo und die Futtervorräte begutachtet und ausprobiert. Schien zu passen. Nach einigen Tagen fingst du mit deinen Erziehungsmaßnahmen an. Wenn du hungrig warst oder einer von uns falsch lag, so dass du dich nicht auf der Brust zusammen rollen konntest, gab es einen kurzen Befehlslaut. Wenn der Fehler dann behoben war, fraßt du mit Appetit oder legtest dich auf die Brust unters Kinn. Man hat halt so seine Vorstellungen und Warten war deine Sache nicht. Wenn du etwas wolltest, verfolgtest du deine Interessen beharrlich und ohne lästige Zurückhaltung.

Nach einigen Tagen hattest du das neue Revier ausgetestet und warst in der Lage im gekonnten Galopp durch die Wohnung zu düsen und knapp unter der Decke auf Bücherregalen oder dem Kühlschrank die Lage zu sondieren. Hauptsache man hat alles unter Kontrolle.

Wenn wir zu Abend gegessen haben, genügte ein Satz auf den Tisch. Das Angebot kurz prüfen und so lange, gegebenenfalls unter Einsatz einer kurzen Unmutsäußerung, auf die Wurst starren, bis sich jemand erweichte und dir den Fettrand des Schinkens abschnitt und hinlegte.

Nach jedem Aufenthalt in der Katzenpension wurdest du zutraulicher. Wenn ich abends nach Hause kam, hast du dich nach dem Fressen erst mal auf den Rücken geworfen und wolltest einige Bauchstreichler abhaben. Wenn ich noch mit Kochen beschäftigt war, zogst du beleidigt ab in unser Schlafzimmer und legtest dich aufs Bett. Wenn ich dann kam, war wieder auf den Rücken schmeißen angesagt und wohliges Schnurren, wenn dann die geforderten Streicheleinheiten endlich verabreicht wurden.

Du warst immer eine schmale Katze, kaum 3,5 Kilo schwer. In der Pension hattest du allerdings keine Schwierigkeiten einen fast dreimal so großen Main-Coon-Kater, der zudem noch Freigänger war, mit einem gezielten Fauchen auf Abstand zu halten. Überhaupt warst du eine mutige kleine Katze, allerdings manchmal auch ziemlich dumm.

Eines Sommers konntest du dich nicht bremsen in deiner Abenteuerlust und bist von unserem Balkon auf den Anbau des Treppenhauses gesprungen. Die Entfernung hast du richtig eingeschätzt und bist sicher gelandet. Was du nicht bedacht hattest, ist: wie komme ich da wieder runter, wenn ringsum ein Abgrund von drei Stockwerken ist? Wir öffneten dann das Fenster im Treppenhaus und haben dich wieder herein geholt. Zitternd am ganzen Körper, trugen wir dich wieder in die Wohnung, in dein vertrautes Revier. Nach dem Schrecken und einigen Streicheleinheiten hast du erst mal deine Schwester angegriffen, um den Stress abzubauen. Sie ist allerdings stärker als du und so hast du eine ordentliche Tracht Prügel abbekommen. So kann es gehen, wenn man sich mit Stärkeren anlegt. Meistens bist du aber damit durchgekommen. Frech kommt eben doch weiter.

Nach sechs Jahren wuchs dir eine riesige Beule auf der Stirn. Die Tierärztin hat das Geschwulst entfernt und es an ein Labor geschickt. Leider war es ein Tumor. Das hat dich aber nicht weiter gestört. Genauso wenig, wie dich die Entfernung deines Auges wiederum ein Jahr später groß gestört hatte. So wurdest du eine Piratenkatze.

Die Wochen vor Weihnachten waren dann aber richtig schlimm. Du hast nicht mehr gefressen und lange war unklar, ob der Tumor damals doch gestreut hatte. Deine Blutwerte waren jedenfalls schrecklich. Eine Woche vor Weihnachten sind wir dann mit dir in die Tierklinik gefahren. Die S-Bahn hatte eine halbe Stunde Verspätung und wir froren beide erbärmlich auf dem Bahnsteig. Ich wusste vor Sorge nicht mehr ein und aus und hoffte dich noch rechtzeitig in die Klinik zu bringen, bevor du an Unterkühlung stirbst. Wir haben es dann geschafft, aber nach dem Röntgen und der Ultraschalluntersuchung war leider klar, dass du dir FIP, eine tödliche Katzenkrankheit, zugezogen hast. Du lässt wohl keine ernste Erkrankung aus?

Am Abend kam meine Frau nach Hause und wir fuhren wieder in die Klinik, um uns zu verabschieden und das Tier einschläfern zu lassen. Zuerst eine kleine Menge Pentobarbital, um sie schlafen zu legen und dann die Überdosis. Ein letztes Zucken, dann hattest du es überstanden.

Was soll man sagen? Die Entscheidung über Leben und Tod ist fürchterlich. Nach fast zehn Jahren bist du uns ans Herz gewachsen. Ich hoffe, du hattest ein schönes Leben bei uns.

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Dienstag, 4. Januar 2011
Naslöcher XIII
"Es gibt heuer eine gewisse Art Leute meistens junge Dichter die das Wort DEUTSCH fast immer mit offenen Naslöchern aussprechen"
(Georg Christoph Lichtenberg)

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Montag, 3. Januar 2011
An der Gedächtniskirche
Auf dem Alexanderplatz durften wir ja bereits einer Begegnung mit einem Prediger beiwohnen, heute soll’s um die Sowieso gehen (wie hieß sie noch gleich? Helga? Gerda? Na egal.) Sie war eine ältere Dame mit eisengrauen Haaren und einem freundlichen und aufmerksamen Gesicht. Als ich sie das erste Mal sah, dachte ich noch, die sieht aber der Uta Ranke-Heinemann ziemlich ähnlich.

Meist traf ich sie auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Außer ihr, war und ist an diesem Weihnachtsmarkt nicht besonderes, wie überall tönt „Stille Nacht“ aus jedem Stand, es gibt das zu kaufen, was es auf jedem Weihnachtsmarkt zu kaufen gibt und der Glühwein fällt wie ebenfalls auf jedem Weihnachtsmarkt eigentlich unter die Kampfmittelverordnung (Warum wird das Zeug eigentlich nicht in der Nordsee verklappt?)

Sie trug einen warmen Mantel und stand meist auf einer Obstkiste direkt vor der Kirche. Insbesondere jüngere Pärchen weckten ihre Aufmerksamkeit und stachelten sie an, ihnen ihre Botschaft zu vermitteln. Ein strahlender Blick in die Augen und ihre Stimme schwoll an:

„Ficken, Kinder, ihr müsst mehr ficken!“

Und dann legte sie ausführlich und mit guten Argumenten dar, warum ihre Erachtens die Menschen zu wenig schnackseln (Fürstin Gloria von Turn und Taxis). Ihre Freundlichkeit und Eloquenz machte es einem als Passanten sehr schwer, sich der anschwellenden Redeflut zu entziehen. Meist blieben die Leute stehen und wenn sie nicht völlig verbiestert waren, hörten sie ihr aufmerksam zu. Ich habe ihr eigentlich immer ganz gerne zugehört und stets am Ende ihrer Ausführungen beteuert, dass ich ihre Ratschläge für meinen weiteren Lebensweg beherzigen werde.

Irgendwann wurden ihre pädagogischen Versuche seltener und büßten auch etwas an Glanz und Geschliffenheit ein. Sie wurde alt und dann tauchte sie nicht mehr auf.

Nachtrag:
Die Dame hieß Helga Goetze: ein Nachruf & die Website & ein Interview
Mein Gedächtnis ist gar nicht so schlecht.

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Mittwoch, 29. Dezember 2010
Das Nasloch in Geschichte und Gegenwart.
Der Ausbau des hinkenden Boten zum führenden Organ der Naslochforschung schreitet unaufhaltsam voran:

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Freitag, 24. Dezember 2010
Ich wünsche meinen geneigten Leserinnen und Lesern frohe Feiertage
und ein wunderschönes neues Jahr. Sind sie in Begleitung eines Hundes, haben sie genug zu essen dabei?

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Freitag, 17. Dezember 2010
Feiertagsruhe bis 3. Januar

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Donnerstag, 16. Dezember 2010
Kriegsweihnachten mit Steffie
Unser Freiherr ist mit seiner Steffie zum Feiern nach Afghanistan geflogen. Der Berliner Tagesspiegel erinnerte vor einigen Tagen an die lange Tradition der Truppenbetreuung. In diesem Zusammenhang wurde geschildert, dass früher selbstverständlich auch die fleischlichen Gelüste der Krieger bedient wurden. Vermutlich wurde dies zweimal nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

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Mittwoch, 15. Dezember 2010
Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben XXVII
Er schlief bald ein und lag noch in süßer Ruhe, als ihn der Markör weckte und ihm ein Billet vom feinsten Postpapier überreichte. Noch schlaftrunken erbrach er es. Es war eine außerordentlich höfliche Einladung vom Präsidenten, ihm die Ehre seines Besuchs zu gönnen; er habe gestern vergessen, sich nach manchen Umständen zu erkundigen, die ihn sehr interessierten.

Siegmund sprang schon aus dem Bette, ehe er noch zu Ende gelesen hatte, seine gestrigen Skrupel fielen ihm gar nicht einmal ein. Er rief den ersten vorübergehenden Friseur hinauf, zog sich so eilig an, daß es dadurch eine Viertelstunde länger währte, und lief trabend zum Präsidenten. Der Bediente führte ihn in das Schlafzimmer des gnädigen Herrn, der um Verzeihung bat, daß er ihn schon so früh inkommodiert habe. Siegmund wußte gar nicht, wie er die großen und ausgesuchten Höflichkeiten beantworten sollte. Der Präsident erklärte, daß er den Brief des Generals noch einmal überlesen und sich gestern aus Zerstreuung in der Person geirrt habe, er habe schon seit lange so viel von der Geschicklichkeit und den unbeschreiblich großen Talenten des Empfohlenen rühmen gehört, daß er ihm die verlangte Stelle unmöglich, ohne die größte Ungerechtigkeit zu begehen, abschlagen könne.
Und so kommt alles wieder ins Lot.
Kurz, alles ward in dieser Unterredung berichtigt; Siegmund war Rat, und mietete sich sogleich, als er den Präsidenten verließ, seine künftige Wohnung, forderte im Wirtshause die Rechnung, und erschrak zwar nicht, aber erstaunte doch ein wenig über die große Summe.

Alles schien hier in der Stadt sein Gewerbe philosophisch zu treiben, denn als der Wirt das langgezogene Gesicht des Bezahlenden sah, sagte er ganz kalt: »Man kann es unsereinem nicht übelnehmen, wenn man den Vorteil nimmt, wo man ihn findet; ich lasse mir auch dafür etwas bezahlen, daß mein Gasthof der beste ist, und jeder Eingehende kann doch nachher erzählen daß er hier logiert habe. Ober fünf Jahre ungefähr wird es auch bei mir etwas wohlfeiler sein, denn ich denke, daß ich dann die Summe wieder erübrigt habe, um die mich einmal ein verkleideter Herzog betrog.«

»Der Bürger muß also auch bei Ihnen die Schulden der Fürsten bezahlen?« fragte Siegmund lachend.

»Zum Glück ist mein Gasthof hier in der Stadt der einzige recht gute«, fuhr der dicke Mann ungestört fort; »ich habe daher die Summe, auf die ich hoffe, schon so gut wie in der Tasche. Der Goldschmied ist ein Narr, der das abfallende Silber nicht sammelt.«

Die Rechnung ward quittiert, Siegmund zog aus und in seine neue Wohnung.

Als er auf den Mittag wieder im Gasthofe aß, sprang ihm der kleine Bellmann in die Arme, und freute sich, daß ein so würdiger Mann die erledigte Stelle erhalten habe. Seine Freude war ungeheuchelt, denn er hatte die Aussicht, in wenigen Wochen mit einer andern ebenso einträglichen Würde bekleidet zu werden.

Der Zeitungsschreiber machte in seinem Blatte einen großen Artikel aus der Ankunft und Einführung des neuen Rats.

Siegmund, der Präsident und das Mädchen lebten seit der Zeit in der größten Eintracht die Schöne stimmte ihr demokratisches Gemüt etwas aristokratischer, und schon am folgenden Tage sah man den Präsidenten in der Gesellschaft Siegmunds reiten. Siegmund tat ihm den Gefallen, nur wenig zu schließen, und mit dem Pferde etwas ungeschickt umzugehen. Der Präsident gab ihm viele Regeln; Siegmund dankte und lernte besser reiten.

Der General antwortete auf das Danksagungsschreiben des Rats: er habe wohl gewußt, daß der Präsident nicht unterlassen könne, seine Empfehlung zu beachten. –

Dies sind die beiden merkwürdigsten Lebenstage aus Siegmunds Geschichte. – Der Leser, der nur ein halb gutes Buch über die Moral gelesen hat, wird leicht die schnell erfundene sophistische Scharade auflösen können; folglich braucht sich der Verfasser gar nicht weiter darüber zu erklären, daß er die aufgestellten Personen nicht für Ideale auszugeben gesonnen sei
Eine feine Geschichte. Haben Sie sie mit Vergnügen am Bildschirm lesen können?

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Dienstag, 14. Dezember 2010
Vom Leben mit Sozialpädagoginnen
(womit nicht Positives über Pädagogen, Psychologen/-innen, usw. angedeutet sein soll)
In meinem langen, bewegten Leben begab es sich auch dereinst, dass ich mehr oder weniger freiwillig mit einem Rudel Sozialpädagoginnen zusammenlebte. (Sie beginnen sich schon jetzt zu fürchten? Weichei!)

Als Student macht man ja so einiges mit, das man in reiferen Jahren dann versucht abzustreiten oder mit dem Mantel der ungenauen Erinnerung bedeckt. Ich zog also, meiner Erinnerung nach, eigentlich ganz frohen Mutes in eine Wohngemeinschaft mit Maschinenbauern, Physikern, Entsorgungstechnikern und eben auch mehreren Sozialpädagoginnen. Was mir vor dem Einzug nicht klar war, dass es einen mittelgroßen Kampf der Geschlechter in der WG gab. Was ich aus früheren Wohngemeinschaften ja schon kannte, waren die endlosen Debatten zum Thema Sauberkeit, für mich neu waren die kleinen Gefechte, die auf der einen Seite mit erbitterter Grundsätzlichkeit und auf der anderen mit wurschtiger Ausdauer, ausgetragen wurden. So lag auf der Toilette beispielsweise ein älterer Playboy. Nicht weil die Herren der Schöpfung vor dem Spülgang das dringende Bedürfnis verspürten nackte Tatsachen zu vergleichen oder zu bewundern, sondern um die Damen des Hauses zu ärgern. An einem der ersten Abende wurde ich dann folgerichtig von der einen Fraktion mit der Frage, wie ich es denn mit der Pornographie so halten würde, konfrontiert. Mir schwante ja übles und so versuchte ich mich mit einem desinteressierten ‚da nicht so für‘, wie man heute so sagen würde, heraus zu reden, schließlich dämmerte mir, dass ich mit Aussagen wie: „Was an Bildern von nackten Frauen antörnend sein soll ist mir nicht klar; ich bin mehr so fürs Reale“ oder: „Wenn ich ehrlich sein soll, finde ich ja diese ganzen einschlägigen Utensilien eher lustig. Riesige Rüttelstäbe in Bananenform oder aufblasbare Kunststoffliebhaberinnen kann ich von Zeit zu Zeit durchaus komisch finden“ eher auf ein ablehnendes Echo treffen würde. Weitschweifiges Drumherumgerede führte dann aber doch zu einer Entspannung der Debatte. Mir wurden lediglich tote Prinzen zur Lektüre empfohlen. Nun ja, nun ja, ich war ja damals jung und dumm, soll heißen eine kleine Nachschulung über Gleichberechtigung und Chancengleichheit hatte ich durchaus nötig, nur der Tod des Märchenprinzen?

And now for something completely different

Wissen Sie (noch) was Kefir ist?
Kefir ist eine der Geiseln der Menschheit. Dieser Pilz verdoppelt seine Masse bei Raumtemperatur in etwa 14 Tagen. Wenn man ihn teilt, ordentlich mit Milch füttert und nur wenig davon verzehrt, verdoppeln sich die beiden Teile wiederum in 14 Tagen, die dann wieder geteilt werden und so breitet sich der Kefir bald darauf in einer unendlichen Kettenreaktion in unendlichen, still vor sich hinwuchernden und säuerlich müffelnden Massen von Einweckgläsern in der ganzen Wohnung aus. Sie werden dem Fortpflanzungstrieb dieses Pilzes nicht mehr Herr. Kefir war beliebt bei alternativen Sozialpädagoginnen und so wurde dieses Geschöpft auch in unsere Wohngemeinschaft eingeschleppt und vermehrte sich exponentiell. Gegessen oder getrunken wurde davon wenig, obgleich er als ungeheuer gesund galt und das Leben fast bis ins Unendliche verlängern sollte. Die Kefirmassen wuchsen und die Debatten um die Vernichtung des Eindringlings wurden immer härter.

Leider hatte sich die Kefirdebatte schon weit von allen Sinnhaftigkeiten entfernt, es ging ums Grundsätzliche und wie immer wenn’s grundsätzlich wird, wurde erbittert gekämpft. Drohungen, Finten, Unterstellungen jagten sich am Abendbrottisch, wochenlang. Bis, ja bis zum Beginn der Semesterferien. Die Semesterferien veränderten die Gefechtslage, denn der Entsorgungstechniker hatte ein Praktikum bei einem bekannteren Berliner Entsorger, alle anderen fuhren zu ihren Eltern oder mussten sich auf dem Jobmarkt, meist in Westdeutschland, verdingen. Wer sollte sich um den Kefir kümmern? Ich war der einzige Kandidat, dem von unsren Mitbewohnerinnen genug Vertrauen (zu unrecht übrigens) entgegengebracht wurde, ihn zu hegen und zu pflegen und nicht schon am ersten Tag das ganze Kefirgeschwür in dem Müll zu werfen. Ich hatte jedoch einen Job in Süddeutschland. Unser Entsorgungstechniker schwor (scheinheilig, was sonst) einen Eid: Er werde den Kefir nicht anrühren und ihm kein Leid zufügen. Beruhigt fuhren unsere Pädagoginnen weg. Nach ihrer Rückkehr lag der Kefir vertrocknet in seinen Fortpflanzungsgläsern. Er hatte ihn nicht angerührt.

And now for something completely different

Ich hatte ja gelegentlich angedeutet, dass ich bei der Frage, wer mit wem und mit wie vielen, eine eher laxe Haltung einnehme. Muss man alles nicht so eng sehen und insbesondere nicht moralisch. Allerdings gibt es Grenzen, die man gefälligst einhalten sollte, schließlich wollen manche Leute nachts auch schlafen:
Unsere beiden Sozialpädagoginnen schleppten eines Abends einen ihrer Professoren an, eisengrauen Matte bis auf die Schultern und eine so sanfte, mitfühlende Aussprache, dass man Pickel von kriegen konnte. Na egal, Besuch ist Besuch und wenn man jedes Mal, wenn einem ein Besucher seiner Mitbewohner auf den Wecker geht (wenn ich da nur an den Animateur auf Urlaub denke, aber das ist eine andere Geschichte), sich aufregen würde …
Ja, nur diesmal war es etwas arg. Sogar unsere WG-Katze fand sein Angeschleime derart widerlich, dass sie prophylaktisch ihre Zähne in seinen Knöchel rammte und erst danach fauchte und sich in Sicherheit brachte. Wir haben ihr dann zwei Tage später etwas Leckeres zum Fressen gekauft und sie gelobt: „Das hast du fein gemacht, Mietzi!“

Also, der Abend nervte so vor sich hin und nach dem Abendessen gingen wir dann in die Kneipe und ließen den Professor mit seinen Studentinnen alleine.

Gegen zwei Uhr kamen wir dann etwas angeheitert zurück und legten uns sofort schlafen, schließlich wartete ein harter Studientag am Ende der Nacht auf uns.

Eine halbe Stunde später hörte ich ein, zunächst unterdrücktes, eine weitere Viertelstunde darauf, ein hemmungsloses Schluchzen auf dem Gang. Ich ging hinaus. Eine unserer Mitbewohnerinnen hockte vor der Tür ihrer Kommilitonin und weinte bitterlich. Es stellte sich heraus, dass sich ihre Rivalin mit dem Herrn Professor gerade in ihrem Zimmer vergnügte. („Wenn du das Ohr gegen die Tür presst, kannst du es hören!“ „Ich glaub’s dir ja.“) Ich tröstete sie so gut ich konnte und als sie sich bereit erklärt hatte, in ihrem Zimmer weiter um ihre Niederlage zu weinen, ging ich wieder ins Bett und schlief wieder ein.

Nach einer weiteren Stunde wachte ich erneut auf, weil wieder Weinen aus dem Flur zu mir ins Zimmer drang. Verdammt noch mal, sie hatte doch versprochen in ihr Zimmer zu gehen und nicht die ganze WG mit ihrem Weinen wach zu halten? Genervt ging ich auf den Flur. Zunächst konnte ich niemand entdecken, dann sah ich am Ende des Ganges vor dem Zimmer der Dame, die ich getröstet hatte, die Andere sitzen und herzergreifend flennen. Es stellte sich heraus, dass sich in der Stunde zwischen den Weinattacken das Blatt gewendet hatte. Inzwischen hatte sich der Herr Professor der anderen Dame zugewandt und die erste saß vor der Tür der anderen und weinte über ihre Zurücksetzung.

Die nächsten Wochen teilten sich die beiden Damen weiterhin den Liebhaber, allerdings hatten wir darauf bestanden, dass dies künftig in der Wohnung des Professors stattfinden müsse. Der Mensch will schließlich schlafen.

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Montag, 13. Dezember 2010
Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben XXVI
Es ward sogleich zum Präsidenten geschickt, der nicht zu kommen ermangelte. – Als sich Siegmund auskleidete, um zu Bette zu gehen, sagte er zu sich selbst: »Einem Freudenmädchen soll ich also vielleicht mein Glück verdanken? Nicht meinen Talenten und Kenntnissen? – Aber ich verdanke es mir ja doch selbst; meine Gestalt hat dies Mädchen ja so für mich eingenommen. Es hätte mir wahrhaftig weniger Ehre gemacht, wenn ich bloß dem vornehmen Fürwort des langweiligen Generals, der mich nicht kannte und nicht besonders leiden mochte, alles schuldig geworden wäre. – Ich bin nicht der erste, und werde auch nicht der letzte sein, der durch ein Frauenzimmer eine Stelle erhält; sie geben uns als Säugling Milch und als Männer Brot, und es ist gewöhnlich noch anstößiger, wie viele durch eine verheiratete Frau oder durch Heirat versorgt werden.«
Nach solchem Räsonnement legt er sich schlafen und darf auf den Erfolg der Mission hoffen.

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Freitag, 10. Dezember 2010
Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben XXV
Die Schöne drückte einen zärtlichen Kuß auf die schmeichelnden Lippen. – »Ich habe Sie heut abend kommen sehn«, sagte sie, »und Ihnen bloß die Tür eröffnet, weil Sie mir gefallen, und weil ich Sie jetzt sogar liebe, ohne Vorteil von Ihnen zu hoffen. Ich denke, meine Liebe ist uneigennütziger, als die anständige Zärtlichkeit mancher Ehefrau.«

Siegmund ward immer mehr bezaubert; er schloß sie an sein klopfendes Herz und überdeckte Wangen und Busen mit feurigen Küssen.
Da fühlt man sich an Walter Serner erinnert.
»Ich habe einen Einfall!« rief die Geliebte wie begeistert aus, »ich habe einen Einfall, für den Sie mir gewiß danken werden. – Sie sollen sehn, daß ich nicht nur uneigennützig bin, sondern daß ich mich auch aufopfern kann, wenn ich mich jemandes Freundin nenne. – Ich habe mir einmal vorgesetzt, daß Sie hier in der Stadt bleiben sollen, und ich will für Sie den unangenehmsten Schritt tun: ich will mich nämlich mit dem Präsidenten in Kapitulation einlassen.«

Siegmund konnte nicht Worte genug finden, ihr zu danken. – Sie gab ihm in derselben Nacht noch zu mehrerem Dank Gelegenheit, und er verließ sie, um sich in seinem Gasthofe von dem philosophischen Räsonnement zu erholen, das ihn ermüdet hatte.
Nach den unterschiedlichen Anlässen, sich zu bedanken, ist die Sache endgültig eingefädelt.

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Donnerstag, 9. Dezember 2010
Jürgen Theobaldy
hatte ich völlig vergessen, bis mir beim Ausräumen der Bücherschränke (alle paar Jahre muss man ja renovieren) ein kleines Lyrikheft wieder in die Hände rutschte. Sein Titel ist: Sperrsitz. Ich hatte das Heft Anfang/Mitte der 70er gekauft und damals mit großem Vergnügen gelesen. Nun macht es bekanntlich einen großen Unterschied, ob man mit 20 Gedichte ansprechend findet oder mit 50. Um es kurz zu machen: beim Blättern und erneuten Lesen der Texte bin ich immer noch ganz angetan. Aber urteilen Sie selbst:
Abenteuer mit Dichtung

Als ich Goethe ermunterte einzusteigen
war er sofort dabei
Während wir fuhren
wollte er alles ganz genau wissen
ich ließ ihn mal Gas geben
und er brüllte: „Ins Freie!“
und trommelte auf das Armaturenbrett
Ich drehte das Radio voll auf
er langte vorn herum
brach den Scheibenwischer ab
und dann rasten wir durch das Dorf
über den Steg und in den Acker
wo wir uns lachend und schreiend
aus der Karre wälzten
(Sperrsitz Palmenpresse 1973)
Er hat über die Jahre noch einige Gedichte und Romane geschrieben und lebt jetzt in der Schweiz.

Nah bei der Boutique

Der Mann, betrunken auf dem Trottoir
an einem Nachmittag im März,
macht die Leute hilflos, hilflos
wie er ist, um hochzukommen, er fällt
zurück und wieder auf den Stein.

Vier, fünf Leute stehen herum,
jeder wortlos und für sich,
ein Mann mit naßgekämmten Haaren
tritt aus der Griechenbar, zieht
an seiner Zigarette und sieht her.

Er wartet: Die Leute warten darauf,
daß jemand kommt in Uniform und hilft
und sie von diesem Bild befreit,
das sie beklommen macht und hart,
dann taucht der Stadtbus auf.

Der Mann, er bleibt zurück,
elend in der Mittagssonne, nah
bei der Boutique, wo sich die junge Frau
in Fenster beugt und das glitzernde
Jackett aus seinen Augen nimmt.


Arbeit mit Papier

Aus jedem Gedicht kannst du
eine Schwalbe machen.

Du mußt es aber richtig falten.

Aus jedem Gedicht, hörst du,
auch aus dem missglückten.

Nun denke dir den Himmel dazu.

Zum Abschluss noch eine Prosa-Leseprobe.

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Mittwoch, 8. Dezember 2010
Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben XXIV
»Jeder«, fuhr die Rednerin fort, »sucht die Armseligkeiten seiner Nebenmenschen dazu zu brauchen, sich einen ebnen Weg durchs Leben zu bahnen; der eine kleidet sich, wie sein Gönner es gern sieht; ein anderer hat dieselbe politische und philosophische Meinung, die man von ihm fordert; ein dritter heiratet, um reich zu werden; ein vierter übervorteilt im Handel; jeder lügt, hintergeht, spielt den Scharlatan; die ganze Welt maskiert, und nur die Macht der Schönheit soll von dieser allgemeinen Sucht, andre zu beherrschen, ausgeschlossen bleiben?

So lebe ich angenehm und im Wohlstande. Fremde, die, wenn nicht mir, einem andern Mädchen ihren Reichtum hingetragen haben würden, vermehrten mein Vermögen; Narren verfolgten mir, und drangen mir, sosehr ich mich weigerte, ihre Börse auf. – Aber ich wähle auch aus; ich bin, so wie Sie mich hier sehn, aufs eifrigste Demokratin, und hasse und verachte alles, was sich Edelmann nennt so habe ich Ihren Präsidenten immer mit dem größten Spott abgewiesen, sosehr er sich mir aufgedrängt hat. – Ich habe schon manchen Armen unterstützt, und mancher Familie aufgeholfen, und so kann ich nicht einsehn, warum ich nicht mit mir zufrieden sein, sondern mich für ein verworfenes Geschöpf halten sollte?«

»Sie sind die liebenswürdigste Philosophin von der Welt!« rief Siegmund aus. »Ich habe noch kein Frauenzimmer gefunden, deren Seelengröße sich mit der Ihrigen messen dürfte.«
1797 dürfte es nur wenige Menschen gegeben haben, die so einer Laxheit der (sexuellen) Moralvorstellungen das Wort geredet haben.

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