Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Freitag, 8. Januar 2010
Fundstücke 50.KW bis 52.KW 2009
Die Reste des Jahres 2009:
  • Mathias Greffrath: Die Linke jenseits von Schröder, Fischer und Lafontaine
  • Sammlung historischer Landkarten [via notizen]
  • Die ldpd; die Blockpartei in der FDP
  • Kathrin Passig: Standardsituationen der Technologiekritik
    und die Kritik, die m.E. lesenswerter ist:
    spalanzani über Kathrin Passigs Technologiekritik
  • Warum die Kulturpessimisten mehr Spaß haben
  • Bruno Preisendörfer: Die Schleiertänze um Symbole lösen keine Probleme
  • Gerhard Polt bei Dennis Scheck
  • Robert Darnton: Die Bibliothek im Informationszeitalter
  • Stephan Stracke: Ein etwas anderer Nachruf auf Otto Graf Lambsdorff


  • und noch einige neue Wörter:
  • Schwellenintellektuelle
  • Hochleistungssalatbesteck
  • Staunigkeit
  • Böllerdealer
  • Spinnwebwelt

  • und zu guter letzt:
    Leitzordnerliteratur (Thomas Bernhard)

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    Donnerstag, 7. Januar 2010
    Georg Forster: Reise um die Welt 64
    (Zweyte Fahrt in die südlichen Breiten, von Neu-Seeland nach Easter- oder Oster-Eyland)
    “Da es Christ-Tag war, so bat der Capitain, dem Herkommen gemäß, alle Officiers zum Mittags-Essen; und einer von den Lieutenants bewirthete die Unterofficiers. Die Matrosen hatten eine doppelte Portion Pudding und thaten sich mit ihrem Brandtwein gütlich, den sie, aus großer Vorsorge, heute ja recht voll zu werden, schon ganze Monathe her, zusammen gespart hatten. Das ist auch in der That das einzige, wofür sie sorgen, alles übrige kümmert sie wenig oder gar nicht.
    Der Anblick so vieler Eismassen, zwischen welchen wir, lediglich durch den Strom, fortgetrieben wurden, und stets Gefahr liefen, daran zu scheitern, war nicht vermögend, sie von ihrer Lieblings-Neigung abzuhalten. Sie versicherten, daß, so lange der Brandtwein noch währete, sie auch den Christtag als Christen feyern wollten, wenn sich gleich alle Elemente gegen sie verschworen hätten. Ihre Gewohnheit ans Seeleben hatte sie längst gegen alle Gefahren, schwere Arbeit, rauhes Wetter und andre Widerwärtigkeiten abgehärtet, ihre Muskeln steif, ihre Nerven stumpf, kurz, ihre Gemütsart ganz unempfindlich gemacht. Da sie für ihre eigne Erhaltung keine große Sorge tragen, so ist leicht zu erachten, daß sie für andre noch weniger Gefühl haben. Strengem Befehl unterworfen, üben sie auch tyrannische Herrschaft über diejenigen aus, die das Unglück haben in ihre Gewalt zu gerathen. Gewohnt ihren Feinden unter die Augen zu treten, ist Krieg ihr Wunsch. Die Gewohnheit umzubringen und zu morden, ist Leidenschaft bey ihnen geworden, wovon wir leyder nur zu viele Beweise auf dieser Reise haben sehen müssen, indem sie bey jeder Gelegenheit die unbändigste Begierde zeigten, um der geringsten Veranlassung willen sogleich auf die Indianer zu feuern. Ihre Lebensart entfernet sie von dem Genuß der stillen häuslichen Freuden, und da treten dann grobe viehische Begierden an die Stelle besserer Empfindungen.

    AT LAST, EXTINCT EACH SOCIAL FEELING, FELL
    AND JOYLESS INHUMANITY PERVADES
    AND PETRIFIES THE HEART.-
    (THOMPSON)



    Ohnerachtet sie Mitglieder gesitteter Nationen sind, so machen sie doch gleichsam eine besondere Classe von Menschen aus, die ohne Gefühl, voll Leidenschaft, rachsüchtig, zugleich aber auch tapfer, aufrichtig und treu gegeneinander sind.“
    (Forster S. 462/3)

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    Mittwoch, 6. Januar 2010
    Sprachspiele 4
    Das Anagramm, auch Letterwechsel oder Letterkehr genannt, stellt die einzelnen Buchstaben eines Wortes so um, dass ein veränderter Sinn entsteht. Der Vater aller Anagramme ist Lykophron aus Chalkis (* um 320 v. Chr.; † nach 280 v. Chr.).
    “Mit einer Silbe ist’s abgetan;
    Was ist es? Flügel hat’s am Leib,
    Mit einem a ist es ein Mann,
    Mit einem u ist es ein Weib.“
    (Friedrich Rückert)

    Unica Zürn (* 6. Juli 1916 in Berlin-Grunewald als Nora Berta Unica Ruth Zürn; † 19. Oktober 1970 in Paris), Schriftstellerin und Zeichnerin hat u.a. Anagramm-Gedichte geschrieben.

    Oskar Pastior (* 20. Oktober 1927 in Hermannstadt, Siebenbürgen; † 4. Oktober 2006 in Frankfurt am Main), schrieb Anagramme zu Baudelaire (Speckturm. 12x5 Intonationen zu Gedichten von Charles Baudelaire ).

    Und als Zugabe einen Anagrammgenerator.

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    Dienstag, 5. Januar 2010
    Georg Forster: Reise um die Welt 63
    (Seefahrt von den freundschaftlichen Inseln nach Neu-Seeland – Trennung von der Adventure – Zweyter Aufenthalt in Charlotten-Sund)
    „Zwischen dem Cap TERAWITTI und PALLISER, entdeckten wir eine Bay, die weit ins Land hinauf zu reichen schien. Die Ufer derselben waren durchgehends flach, und ließen vermuthen, daß rings umher eine beträchtliche Ebene vorhanden seyn müsse, hauptsächlich am hintersten Ende, woselbst die Berge so weit entfernt lagen, daß man kaum die Gipfel entdecken konnte. Sollte die Bay für große Schiffe tief genug seyn, woran wohl nicht zu zweifeln ist; so wäre dieser Platz zur Anlegung einer Colonie ganz vorzüglich bequem. Denn man fände hier einen großen Strich bauwürdigen Landes vor sich, der mit genugsamer Waldung, vermuthlich auch mit einem schiffbaren Strom versehen ist, und, seiner Lage nach, in den besten Vertheidigungszustand gesetzt werden könnte. Da diese Gegend auch nicht sonderlich bewohnt zu seyn scheint, so würde desto weniger Gelegenheit zu Streitigkeiten mit den Eingebohrnen vorhanden seyn. Vortheile, die sich an andern Stellen von Neu-Seeland wohl selten so glücklich vereinigt finden dürften.“
    (Forster S. 452)
    Koloniale Blicke.

    (woselbst, ganz vorzüglich bequem, einen großen Strich bauwürdigen Landes.)

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    Montag, 4. Januar 2010
    DER DRITTE RIESE
    ein vorweihnachtliches Mysterienspiel
    Zu der Zeit als Dietrich Stobbe regierender Bürgermeister von Berlin und es kurz vor Weihnachten war, kam ich von einer meiner Lieblingsbuchhandlungen zurück. Es war schon spät und es dunkelte bereits, und es trug sich folgende, außerordentlich ungewöhnliche Begebenheit zu:

    Am Kiosk vor einem U-Bahneingang in Kreuzberg standen vier Herren und eine Dame und betranken sich. Das wäre noch nicht überraschend gewesen. Jeden Tag stehen einige Herren, nicht immer die gleichen und gelegentlich ist auch einmal eine Dame dabei, vor dem Kiosk und trinken Bier.
    Ungewöhnlich war die Kleidung, oder in Anbetracht der Jahreszeit eigentlich auch wieder nicht. Die Herren trugen weite wallende Mäntel, drei davon zusätzlich einen umgeschnallten Bauch - der Bauch des Kleinsten schien natürlichen Ursprungs zu sein - und Zipfelmützen mit Bommel. Die Bärte waren hoch auf die Mütze geschoben und nach hinten geklappt. Die Dame trug ein weißes Kleid mit Flügeln und zwei Aliententakel auf dem Kopf. Vielleicht hatte sich jemand nicht zwischen dem Christkind und der Biene Maja entscheiden können? Ohne ihre Kleidung sahen sie wahrscheinlich alle aus wie Helge Schneider bzw Uschi Glas - also fusselig bzw. adrett, aber so sehen die jungen Leute heutzutage ja alle aus.
    Die Dame war eher von durchschnittlicher Größe. Neben dem kleinen Dicken mit dem natürlichen Bauch gab es noch einen kleinen Dürren mit Flaumbärtchen und einen sehr dürren und einen normal dürren Riesen, beide mit ausgemergelten Gesichtern. Wahrscheinlich in der Pubertät zu schnell gewachsen. Denke ich mir mal. Das braucht dann einige Jahre bis die Proportionen wieder zurecht gerückt sind. Bier und reichhaltiges Essen ist hilfreich.

    Als ich in Hörweite bin, kommt ein weiterer riesiger Weihnachtsmann aus dem U-Bahnschacht dazu:
    “Sagt mal, seid ihr blöde, hier herum zu saufen? Ihr solltet doch schon beim nächsten Kunden sein.”
    Der kleine Dürre mit dem Flaum haucht ihn an und klopft ihm auf die Schulter.
    “Boah ey, komm trink’n Bier und sei friedlich.”
    Missvergnügt mustert der dritte Riese die Horde, schiebt seinen Bart auf die Mütze, klappt ihn beiseite, trinkt dann einen Schluck und sagt zum Kioskbesitzer:
    “Mach mir mal n Glühwein.”
    Ich trete hinzu und bestelle mir eine Currywurst mit Brötchen.
    “Anne Uni hab ich nie so’n Durst.”
    “Sag mal isn’ das nich kalt mit dem dünnen Kleid?”
    “Ich hab immer wollene Leggins unter der weißen Strumphose. Ich seh dann zwar aus wie ne Presswurst, aber besser als frieren.”
    “Noch‘n Glühwein?”
    “Ach ja.”
    “Ihr auch noch mal ne Runde?”
    “Ooch ja!”
    “Aber jetzt mal im Ernst, wie wollt ihr denn den nächsten Termin durchhalten?”
    “Als ich vonne Flügelfabrik zurückkam hatte ich so was von Durst.”
    “Ich hab immer nen Durst.”
    “So gesehen haste natürlich recht. Prost!”
    Der Oberweihnachtsmann schien die Chancen zu bedenken, seine Angestellten wieder nüchtern zu bekommen. Seufzend trinkt er seinen Becher aus. Der Kioskbesitzer gießt nach.
    “Die können mich am Arsch lecken, aber voll!” Nicken in der Runde.
    Ich bestelle eine Cola.
    Das Christkind spendiert eine Runde Wodka.
    “Wenn de nacher ein Pfefferminz lutscht riecht das kein Mensch mehr.”
    “Schtimmt!”
    “Noch‘n Glühwein?”
    “Na gut.”
    “Ihr auch noch mal ne Runde?”
    “Ooch ja!”
    Der Oberweihnachtsmann studiert seine Einsatzliste, wiegt bedenklich sein Haupt. Was mag ihm wohl durch den Kopf gehen?
    “Ein EDV-Laden, eine Apotheke, eine private Feier, ...”
    “Wer macht denn eine private Feier vor Weihnachten?” fragt das Christkind.
    “Ist mir doch Wurst, wenn sie dafür bezahlen, bekommen sie das auch.”
    “Hätt mich halt interessiert.” Beleidigt trinkt sie ihr Bier aus.
    “Noch‘n Glühwein?”
    “Hmm!”
    “Ihr auch noch mal ne Runde?”
    “Ooch ja!”
    Einem der beiden dürren Riesen geht es schlecht. Er rülpst und klopft sich auf die Brust. Sein angeschnallter Bauch wippt leicht nach.
    “Mann, ist das alles anstrengend.”
    Er sieht den Oberweihnachtsmann an und kotzt ihm dann übergangslos auf den Mantel.
    “Du alte Sau, wenn du nichts verträgst, musst du aufhören mit saufen. Verfluchte Sauerei.”
    Betroffen und mitleidig sieht die Truppe dem Oberweihnachtsmann beim Reinigen seiner Kleidung zu.
    “Noch‘n Glühwein?”
    “Ach ja, gut.”
    “Ihr auch noch mal ne Runde?”
    “Ooch ja!”
    Es stank inzwischen unerträglich und ich war froh mit meiner Wurst fertig zu sein.
    “Wie wird man eigentlich Oberweihnachtsmann?”
    “Vitamin B, was sonst.”
    “Man muss einige Jahre dabei sein und...” versucht der Oberweihnachtsmann zu erklären.
    “Gibt’s auch Hauptweihnachtsmänner, die die Oberweihnachtsmänner beaufsichtigen?”
    Ich ging die Treppe zur U-Bahn hinunter. Weihnachtswebel könnte es auch noch geben, denke ich still bei mir. Nur noch ganz leise höre ich:
    “Noch‘n Glühwein?”
    “Ach ja.”
    “Ihr auch noch mal ne Runde?”
    “Ooch ja!”

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    Freitag, 18. Dezember 2009
    Schöne Feiertage
    und einen guten Rutsch ins neue Jahr wünsche ich der verehrten Leserschaft. Möge das Essen reichlich und der Wein gut sein!

    Und alle Zeit einen Fuder Holz vor dem Haus.



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    Donnerstag, 17. Dezember 2009
    Georg Forster: Reise um die Welt 62-4
    (Seefahrt von den freundschaftlichen Inseln nach Neu-Seeland – Trennung von der Adventure – Zweyter Aufenthalt in Charlotten-Sund)
    (Fortsetzung von Forster 62-3)

    „Philosophen, die den Menschen nur von ihrer Studierstube her kennen, haben dreist weg behauptet, daß es, aller älteren und neueren Nachrichten ohnerachtet, nie Menschenfresser gegeben habe: selbst unter unsern Reisegefährten waren dergleichen Zweifler vorhanden, die dem einstimmigen Zeugniß so vieler Völker bisher noch immer nicht Glauben beymessen wollten. Capitain COOK hatte indessen schon auf seiner vorigen Reise aus guten Gründen gemuthmaaßt, daß die Neu-Seeländer Menschenfresser seyn müßten; und jetzt, da wir es offenbahr mit Augen gesehen haben, kann man wohl im geringsten nicht mehr daran zweifeln. Über den Ursprung dieser Gewohnheit sind die Gelehrten sehr verschiedener Meynung, wie unter andern aus des Herrn Canonicus PAUW zu Xanten RECHERCHES PHILOSOPHIQUE SUR LES AMERICAINS ersehen werden kann. Er selbst scheint anzunehmen, daß die Menschen ursprünglich durch Mangel und äußerste Nothdurft darauf verfallen sind, einander zu fressen. Dagegen lassen sich wichtige Einwürfe machen, und folgender ist einer der stärksten: Wenig Winkel der Erde sind dermaßen unfruchtbar, daß sie ihren Bewohnern nicht so viel Nahrungsmittel liefern sollten als zur Erhaltung derselben nöthig sind; und diejenigen Länder, wo es noch jetzt Menschenfresser giebt, können gerade am wenigsten für so elend ausgegeben werden. Die nördliche Insel von Neu-Seeland, die beynahe 400 See-Meilen im Umfange haben mag, enthält, so viel sichs berechnen läßt, kaum einhundert Tausend Einwohner; welches für ein so großes Land, selbst alsdann noch, eine sehr geringe Anzahl ist, wenn auch nur allein die Küsten und nicht die innern Gegenden des Landes durchaus bewohnt seyn sollten. Wenn aber auch ihrer noch weit mehrere wären; so würden sie sich doch alle von dem Überfluß an Fischen und vermittelst des Landbaues der in der BAY OF PLENTY und andrer Orten angefangen ist, zur Genüge ernähren, ja sogar den Fremden noch davon mittheilen können, welches sie auch würklich gethan haben.“
    ...
    „Man weis, daß sehr geringe Ursachen oft die wichtigsten Begebenheiten auf dem Erdboden veranlaßt, und daß unbedeutende Zänkereyen die Menschen sehr oft bis zu einem unglaublichen Grad gegen einander erbittert haben. Ebenso bekannt ist es, daß die Rachsucht bey wilden Völkern durchgängig eine heftige Leidenschaft ist, und oft zu einer Raserey ausartet, in welcher sie zu den unerhörtesten Ausschweifungen aufgelegt sind. Wer weiß also , ob die ersten Menschenfresser die Körper ihrer Feinde nicht AUS BLOßER WUTH gefressen haben, damit gleichsam nicht das geringste von denselben übrig bleiben sollte? Wenn sie nun überdem fanden, daß das Fleisch gesund und wohlschmeckend sey, so dürfen wir uns wohl nicht wundern, daß sie endlich eine Gewohnheit daraus gemacht und die Erschlagenen ALLEMAL aufgefressen haben: Denn, so sehr es auch unsrer Erziehung zu wider seyn mag, so ist es doch an und für sich weder unnatürlich noch strafbar, Menschenfleisch zu essen. Nur um deswillen ist es zu verbannen, weil die geselligen Empfindungen der Menschenliebe und des Mitleids dabey so leicht verloren gehen können. Da nun aber ohne diese keine menschliche Gesellschaft bestehen kann; so hat der erste Schritt zur Cultur bey allen Völkern dieser seyn müssen, daß man dem Menschenfressen entsagt und Abscheu dafür zu erregen gesucht hat. Wir selbst sind zwar nicht mehr Cannibalen, gleichwohl finden wir es weder grausam noch unnatürlich zu Felde zu gehen und uns bey Tausenden die Hälse zu brechen, blos um den Ehrgeiz eines Fürsten, oder die Grillen seiner Maitresse zu befriedigen. Ist es aber nicht Vorurtheil, daß wir vor dem Fleische eines Erschlagenen Abscheu haben, da wir uns doch kein Gewissen daraus machen ihm das Leben zu nehmen? Ohne Zweifel wird man sagen wollen, daß ersteres den Menschen brutal und fühllos machen würde.“
    ...
    „Die Neu-Seeländer fressen ihre Feinde nicht anders als wenn sie solche im Gefecht und in der größten Wuth erlegt haben. Sie machen nicht Gefangene um sie zu mästen und denn abzuschlachten, noch weniger bringen sie ihre Verwandten in der Absicht um, sie zu fressen: (wie man wohl von einigen wilden Nationen in America vorgegeben hat) vielmehr essen sie solche nicht einmal wenn sie natürlichen Todes gestorben sind. Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß in der Folge der Zeit dieser Gebrauch bey ihnen ganz abkommen wird. Die Einführung von neuem zahmen Schlacht-Vieh kann diese glückliche Epoche vielleicht befördern, in so fern nemlich größerer Überfluß, mehr Viehzucht und Ackerbau das Volk näher zusammenbringen und es geselliger machen wird.“
    (Forster S. 445-9)
    Thesen über den Ursprung des Kannibalismus.

    (Rachsucht bei wilden Völkern, eine heftige Leidenschaft, zu einer Raserei ausartet, unerhörtesten Ausschweifungen)

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    Mittwoch, 16. Dezember 2009
    Fleisch zwei
    Über einen der Einkäufe in meiner Lieblingsfleischerei hatten wir uns ja schon unterhalten.
    Vor langer, langer Zeit wohnte ich in Zehlendorf im lichten Berliner Süden. Das war zu der Zeit als die Amerikaner noch Schutzmacht in Berlin waren, die GIs am U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim soffen, was die Büchse hergab, als man an den Universitäten noch ausreichend Zeit hatte, etwas zu begreifen, als die Frauen schön und die Wohnungen billig waren.
    An der großen Kreuzung daselbst (sie sehen, Forster färbt langsam ab) liegt ein großer Lebensmitteldiscounter in dem Sonnabendvormittag ganz Zehlendorf einkauft.

    So auch wir.
    Zehlendorf ist ja bekanntlich eines der besseren Wohngebiete (Obwohl? Wenn ich an das Café M. in der M.-Straße an einigen Abenden denke? Aber lassen wir das!) und so konnte man in dem Laden auch allerlei Prominente (damals gab es drei Programme und entsprechend weniger Prominente. Weniger Prominente ist übrigens nicht schlimm.) beim Einkaufen treffen. Günther Pfitzmann beispielsweise hat eine Vorliebe für Magerquark, wenn sie das interessieren sollte.
    Der Filialleiter schien ein großes Herz zu haben. Er war ein aufgeräumter, dauerfröhlicher Mensch und ich hätte mich gern mal mit ihm unterhalten, also jenseits von ‚Wo finde ich Kefir?’ (Übrigens ein Teufelszeug: schmeckt irgendwie so na ja und vermehrt sich ungeheuer. Aber das ist eine andere Geschichte von weinenden Frauen, verzweifelten Katzen und warum an den Vorurteilen über Sozialarbeiter ein Körnchen Wahrheit ist.) Je nun, den Filialleiter eines Supermarktes kann man am Samstagvormittag nicht in ein Gespräch verwickeln und an anderen Tagen haben wir dort nicht eingekauft.

    Leichter ins Gespräch kam man mit dem geistig und körperlich schwerbehinderten Einkaufswagenzusammenschieber (wohl ein in Supermärkten singulärer Beruf). Auch ein sehr netter Mann, aber doch eine ziemliche Plaudertasche, zudem ein arger Stotterer. Dass der Filialleiter ihn beschäftigte, war einer der Gründe warum wir immer gerne in diesen Markt gingen.

    Wie gesagt, ein angenehmer Laden. Nur Fleisch und Wurst waren ein Problem, weil der Chef der Fleischwarenabteilung eine Frau war. Sie war nicht zierlich, sondern sah, wie es in diesem Gewerbe durchaus angemessen ist, so aus, als hätte sie vor einigen Minuten einen Ochsen eigenhändig gemeuchelt.

    Also, das Problem war nicht das Geschlecht, sondern dass sie nur ein Auge hatte und statt einer Prothese eine Augenklappe trug.
    Man mag sich ja für weltgewandt und tolerant halten, aber es ist nicht einfach einer Dame hinter der Fleischtheke auf die Frage: „Was darf’s denn sein?“ ohne auf die Augenklappe zu starren, souverän: „Drei Pfund Gehacktes!“ zu antworten. Völlig unmöglich war es, bei ihr Zungenwurst zu kaufen, die in unserer Wohngemeinschaft nur ‚schlimme Augenwurst’ hieß.

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    Dienstag, 15. Dezember 2009
    Georg Forster: Reise um die Welt 62-3
    (Seefahrt von den freundschaftlichen Inseln nach Neu-Seeland – Trennung von der Adventure – Zweyter Aufenthalt in Charlotten-Sund)
    (Fortsetzung von Forster 62-2)

    “Nur allein Maheine, der junge Mensch von den Societäts-Inseln, zeigte bey diesem Vorfall mehr wahre Empfindsamkeit als die andern alle. Geboren und erzogen in einem Lande, dessen Einwohner sich bereits der Barbarey entrissen haben und in gesellschaftliche Verbindungen getreten sind, erregte diese Scene den heftigsten Abscheu bey ihm. Er wandte die Augen von dem gräßlichen Schauspiel weg, und floh nach der Cajütte, um seinem Herzen Luft zu machen. Wir fanden ihn daselbst in Thränen, die von seiner inneren Rührung das unverfälschteste Zeugniß ablegten. Auf unser Befragen, erfuhren wir, daß er über die unglückseligen Eltern des armen Schlacht-Opfers weine! Diese Wendung seiner Betrachtungen machte seinem Herzen Ehre; denn man sahe daraus, daß er für die zärtlichsten Pflichten der Gesellschaft ein lebhaftes inniges Gefühl haben und gegen seine Nebenmenschen überaus gut gesinnt seyn mußte. Er war so schmerzlich gerührt, daß einige Stunden vergiengen, ehe er sich wieder beruhigen konnte, und auch in der Folge sprach er von diesem Vorfall nie ohne heftige Gemüthsbewegung.“
    (Fortsetzung folgt)

    (Forster S. 445)

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    Montag, 14. Dezember 2009
    Sprachspiele 3
    Als Homonym oder Äquivokation, Gleichlauter, bezeichnet man Wörter, die bei unterschiedlicher Bedeutung eine gleiche oder ähnliche Lautgestalt haben.
    Das Spiel vom Teekesselchen werden sie kennen.
    Fühmann hat ein sehr schönes Homonym von Friedrich Schleiermacher ausgegraben:
    Getrennt mir heilig,
    Vereint abscheulich.
    Als rhetorische Figur nennt man das dann Kolligation und in anderen Sprachen barbart es gelegentlich.
    Und das Gegenteil gibt es natürlich auch: Paronym.
    Und zu guter Letzt ein verwaistes Blog über Homonyme.

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    Freitag, 11. Dezember 2009
    Naslöcher VI: Der Charlottenburger
    Die Charlottenburger Fuhrleute, so erzählt man sich, seien im 18. Jahrhundert berühmt gewesen für ihre außerordentliche Grobheit und Ungehobeltheit. Sie hätten mit dem Daumen ein Nasloch verschlossen, um dann mit Vehemenz den Inhalt des anderen auf das Pflaster zu prusten. Diese Form der Erleichterung heißt heute noch ‚Charlottenburger’.

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    Donnerstag, 10. Dezember 2009
    Georg Forster: Reise um die Welt 62-2
    (Seefahrt von den freundschaftlichen Inseln nach Neu-Seeland – Trennung von der Adventure – Zweyter Aufenthalt in Charlotten-Sund)
    (Fortsetzung von Forster 62-1)

    Als er mit seiner Gesellschaft an Bord zurück kam, stellte er ihn oben auf das Geländer des Verdecks zur Schau hin. Indem wir noch alle darum her waren ihn zu betrachten, kamen einige Neu-Seeländer vom Wasserplatze zu uns. Sobald sie des Kopfes ansichtig wurden, bezeugten sie ein großes Verlangen nach demselben, und gaben durch Zeichen deutlich zu verstehen, daß das Fleisch von vortrefflichem Geschmack sey. Den ganzen Kopf wollte Herr PICKERSGILL nicht fahren lassen, doch erbot er sich ihnen ein Stück von der Backe mitzutheilen, und es schien als freuten sie sich darauf. Er schnitt es auch würklich ab und reichte es ihnen; sie wolltens aber nicht roh essen, sondern verlangten es gar gemacht zu haben. Man ließ es also, in unsrer aller Gegenwart ein wenig über dem Feuer braten, und kaum war dies geschehen, so verschlungen es die Neu-Seeländer vor unsern Augen mit der größten Gierigkeit. Nicht lange nachher kam der Capitain mit seiner Gesellschaft an Bord zurück, und da auch diese Verlangen trugen, eine so ungewöhnliche Sache mit anzusehen, so wiederholten die Neu-Seeländer das Experiment noch einmal in Gegenwart der ganzen Schiffsgesellschaft. Dieser Anblick brachte bey allen denen die zugegen waren, sonderbare und sehr verschiedene Würkungen hervor. Einige schienen, dem Eckel zum Trotze, der uns durch die Erziehung gegen Menschenfleisch beygebracht worden, fast Lust zu haben mit anzubeißen, und glaubten etwas sehr witziges zu sagen, wenn sie die Neu-Seeländischen Kriege für Menschen-Jagden ausgaben. Andre hingegen waren auf die Menschenfresser unvernünftigerweise so erbittert, daß sie die Neu-Seeländer alle todt zu schießen wünschten, gerade als ob sie Recht hätten über das Leben eines Volkes zu gebieten, dessen Handlungen gar nicht einmal für ihren Richterstuhl gehörten! Einigen war der Anblick so gut als ein Brechpulver. Die übrigen begnügten sich, diese Barbarey eine Entehrung der menschlichen Natur zu nennen, und es zu beklagen, daß das edelste der Geschöpfe dem Thiere so ähnlich werden könne!
    (Fortsetzung folgt)
    (Forster S. 444/5)
    Engländer und Neuseeländer teilen sich den Kopf. Unglaublich!

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    Mittwoch, 9. Dezember 2009
    Hum-bug
    In der Bahn sitzt mir ein Herr gegenüber, Ende 40, beleibt, weißhaarig, spitzes Gesicht, irgendwann mal ist anscheinend ein Eisbär in die Erblinie geraten. Sein Telefon klingelt (‚O when the saints ...’).

    „Hum?“
    Hum scheint der schottische Ableger der Familie Pronto aus Italien zu sein.
    „Hum, hum!“
    Er erregt sich.
    „No! Bug! Bug! Bug!“
    Die Stirn legt sich in Falten.
    „Hum!“
    Die Stirn fältelt sich noch intensiver.
    „No, bug! I told youh!“
    Sein Kopf läuft rot an.
    „Bug!“ brüllt er los. „Bug! Youh fockin basterd, bug! Bug! Bug!“

    Und jetze allens klar?

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    Dienstag, 8. Dezember 2009
    Georg Forster: Reise um die Welt 62-1
    (Seefahrt von den freundschaftlichen Inseln nach Neu-Seeland – Trennung von der Adventure – Zweyter Aufenthalt in Charlotten-Sund)
    “Das erste, was ihnen daselbst in die Augen fiel, waren die Eingeweide eines Menschen, die Nahe am Wasser auf einem Haufen geschüttet lagen. Kaum hatten sie sich von der ersten Bestürzung über diesen Anblick erholt, als ihnen die Indianer verschiedne Stücke vom Cörper selbst vorzeigten, und mit Worten und Gebehrden zu verstehen gaben, daß sie das übrige gefressen hätten. Unter den vorhandenen Gliedmaaßen war auch noch der Kopf befindlich, und nach diesem zu urtheilen, mußte der Erschlagene ein Jüngling von funfzehn bis sechzehn Jahren gewesen seyn. Die untere Kinnlade fehlte, und über dem einen Auge war der Hirnschedel, vermuthlich mit einem PÄTTU-PÄTTU, eingeschlagen. Unsre Leute fragten die Neu-Seeländer, wo sie diesen Cörper her bekommen hätten? worauf jene antworteten, daß sie ihren Feinden ein Treffen geliefert, und verschiedne derselben getödtet, von den Erschlagnen aber nur allein den Leichnam dieses Jünglings mit sich hätten fortbringen können. Sie setzten hinzu, daß auch von ihrer Parthey verschiedne umgekommen wären und zeigten zu gleicher Zeit auf einige seitwärts sitzende Weiber, die laut wehklagten und sich zum Andenken der Gebliebnen die Stirn mit scharfen Steinen verwundeten. Was wir also von den Zwistigkeiten der Indianer bisher nur blos vermuthet hatten, das fanden wir jetzt durch den Augenschein bestätigt, und allem Anschein nach, war die Muthmaßung, daß wir selbst zu diesem Unheil Gelegenheit gegeben hätten, nicht minder gegründet. Hiernächst blieb uns nun auch kein Zweifel mehr übrig, die Neu-Seeländer für würkliche Menschenfresser zu halten. Herr PICKERSGILL wünschte den Kopf an sich zu kaufen, und solchen zum Andenken dieser Reise mit nach England zu nehmen. Er both also einen Nagel dafür und erhielt ihn, um diesen Preiß, ohne das mindeste Bedenken.
    (Fortsetzung)
    (Forster S. 443/4)
    über Kannibalismus. Einen Kopf als Souvenir an die Reise in die Südsee.

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