Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

DER DRITTE RIESE
ein vorweihnachtliches Mysterienspiel
Zu der Zeit als Dietrich Stobbe regierender Bürgermeister von Berlin und es kurz vor Weihnachten war, kam ich von einer meiner Lieblingsbuchhandlungen zurück. Es war schon spät und es dunkelte bereits, und es trug sich folgende, außerordentlich ungewöhnliche Begebenheit zu:

Am Kiosk vor einem U-Bahneingang in Kreuzberg standen vier Herren und eine Dame und betranken sich. Das wäre noch nicht überraschend gewesen. Jeden Tag stehen einige Herren, nicht immer die gleichen und gelegentlich ist auch einmal eine Dame dabei, vor dem Kiosk und trinken Bier.
Ungewöhnlich war die Kleidung, oder in Anbetracht der Jahreszeit eigentlich auch wieder nicht. Die Herren trugen weite wallende Mäntel, drei davon zusätzlich einen umgeschnallten Bauch - der Bauch des Kleinsten schien natürlichen Ursprungs zu sein - und Zipfelmützen mit Bommel. Die Bärte waren hoch auf die Mütze geschoben und nach hinten geklappt. Die Dame trug ein weißes Kleid mit Flügeln und zwei Aliententakel auf dem Kopf. Vielleicht hatte sich jemand nicht zwischen dem Christkind und der Biene Maja entscheiden können? Ohne ihre Kleidung sahen sie wahrscheinlich alle aus wie Helge Schneider bzw Uschi Glas - also fusselig bzw. adrett, aber so sehen die jungen Leute heutzutage ja alle aus.
Die Dame war eher von durchschnittlicher Größe. Neben dem kleinen Dicken mit dem natürlichen Bauch gab es noch einen kleinen Dürren mit Flaumbärtchen und einen sehr dürren und einen normal dürren Riesen, beide mit ausgemergelten Gesichtern. Wahrscheinlich in der Pubertät zu schnell gewachsen. Denke ich mir mal. Das braucht dann einige Jahre bis die Proportionen wieder zurecht gerückt sind. Bier und reichhaltiges Essen ist hilfreich.

Als ich in Hörweite bin, kommt ein weiterer riesiger Weihnachtsmann aus dem U-Bahnschacht dazu:
“Sagt mal, seid ihr blöde, hier herum zu saufen? Ihr solltet doch schon beim nächsten Kunden sein.”
Der kleine Dürre mit dem Flaum haucht ihn an und klopft ihm auf die Schulter.
“Boah ey, komm trink’n Bier und sei friedlich.”
Missvergnügt mustert der dritte Riese die Horde, schiebt seinen Bart auf die Mütze, klappt ihn beiseite, trinkt dann einen Schluck und sagt zum Kioskbesitzer:
“Mach mir mal n Glühwein.”
Ich trete hinzu und bestelle mir eine Currywurst mit Brötchen.
“Anne Uni hab ich nie so’n Durst.”
“Sag mal isn’ das nich kalt mit dem dünnen Kleid?”
“Ich hab immer wollene Leggins unter der weißen Strumphose. Ich seh dann zwar aus wie ne Presswurst, aber besser als frieren.”
“Noch‘n Glühwein?”
“Ach ja.”
“Ihr auch noch mal ne Runde?”
“Ooch ja!”
“Aber jetzt mal im Ernst, wie wollt ihr denn den nächsten Termin durchhalten?”
“Als ich vonne Flügelfabrik zurückkam hatte ich so was von Durst.”
“Ich hab immer nen Durst.”
“So gesehen haste natürlich recht. Prost!”
Der Oberweihnachtsmann schien die Chancen zu bedenken, seine Angestellten wieder nüchtern zu bekommen. Seufzend trinkt er seinen Becher aus. Der Kioskbesitzer gießt nach.
“Die können mich am Arsch lecken, aber voll!” Nicken in der Runde.
Ich bestelle eine Cola.
Das Christkind spendiert eine Runde Wodka.
“Wenn de nacher ein Pfefferminz lutscht riecht das kein Mensch mehr.”
“Schtimmt!”
“Noch‘n Glühwein?”
“Na gut.”
“Ihr auch noch mal ne Runde?”
“Ooch ja!”
Der Oberweihnachtsmann studiert seine Einsatzliste, wiegt bedenklich sein Haupt. Was mag ihm wohl durch den Kopf gehen?
“Ein EDV-Laden, eine Apotheke, eine private Feier, ...”
“Wer macht denn eine private Feier vor Weihnachten?” fragt das Christkind.
“Ist mir doch Wurst, wenn sie dafür bezahlen, bekommen sie das auch.”
“Hätt mich halt interessiert.” Beleidigt trinkt sie ihr Bier aus.
“Noch‘n Glühwein?”
“Hmm!”
“Ihr auch noch mal ne Runde?”
“Ooch ja!”
Einem der beiden dürren Riesen geht es schlecht. Er rülpst und klopft sich auf die Brust. Sein angeschnallter Bauch wippt leicht nach.
“Mann, ist das alles anstrengend.”
Er sieht den Oberweihnachtsmann an und kotzt ihm dann übergangslos auf den Mantel.
“Du alte Sau, wenn du nichts verträgst, musst du aufhören mit saufen. Verfluchte Sauerei.”
Betroffen und mitleidig sieht die Truppe dem Oberweihnachtsmann beim Reinigen seiner Kleidung zu.
“Noch‘n Glühwein?”
“Ach ja, gut.”
“Ihr auch noch mal ne Runde?”
“Ooch ja!”
Es stank inzwischen unerträglich und ich war froh mit meiner Wurst fertig zu sein.
“Wie wird man eigentlich Oberweihnachtsmann?”
“Vitamin B, was sonst.”
“Man muss einige Jahre dabei sein und...” versucht der Oberweihnachtsmann zu erklären.
“Gibt’s auch Hauptweihnachtsmänner, die die Oberweihnachtsmänner beaufsichtigen?”
Ich ging die Treppe zur U-Bahn hinunter. Weihnachtswebel könnte es auch noch geben, denke ich still bei mir. Nur noch ganz leise höre ich:
“Noch‘n Glühwein?”
“Ach ja.”
“Ihr auch noch mal ne Runde?”
“Ooch ja!”

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