Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Mittwoch, 27. Mai 2009
Über die Ökonomie des Kornadels
Jeden Morgen und jeden Abend komme ich an einem Kiosk vorbei, der in der Unterführung meines S-Bahnhofes liegt.
Manchmal morgens, immer abends stehen einige Herren unterschiedlichen Alters an den Tischen und genießen Bier und Schnaps. Einige kommen von der Arbeit und trinken noch schnell ein Bier, bevor es zu Frau und Kind geht, vier der Herren sind jedoch jeden Tag zugegen und wenn ich am Abend gegen sechs Uhr vorbei gehe, in gehobener Stimmung.
Die Betreiberin des Kiosk, eine resolute Dame, die auch schon bessere Zeiten erlebt hat, wischt gelegentlich mit einem einfachen Tuch aus Waffelpiquet das Erbrochene weg. Das ist allerdings selten, den die Herren vertragen schon einen Stiefel und wissen auch wie man sich in Gegenwart einer Dame benimmt.
Da ist zunächst Glühnase mit völlig unbehaarten Naslöchern, seit kurzem Nanga Parbat, über den vielleicht noch einmal zu berichten sein wird, Pat der Leuchtturm und der birnenförmige Elvis.

Von was leben sie und wie bezahlen sie ihren Sprit?
• Stütze werden sie wohl alle bekommen, denn der Arbeitsmarkt in den sie integrierbar wären, den gibt es schon lange nicht mehr. Verlorene Seelen, die mit vielen anderen durch ihre nackte Existenz, den Arbeitsplatz eines Sachbearbeiters im Sozialamt sichern. Nur, die Stütze wird für die Alkoholmengen nicht reichen. Zwar benötigen sie zusätzlich keinerlei Kalorien mehr, aber für mehr als eine Wohnung, einige Kohlehydrate und etwas Margarine sorgt das Amt nun doch auch nicht.
• An Samstagen sehe ich Glühnase meist beim Kontrollieren der Mülltonnen, die eine oder andere Pfandflasche wird dabei herausspringen und auch in den Abfallkörben an der Straße und auf den Bahnhöfen sind PET-Flaschen zu ergattern.
• Zum Klauen sind sie eindeutig nicht in der Lage.
• Das eine oder andere Bier geben die Arbeiter aus, die sich am Abend dazugesellen. Nanga Parbat scheint über einen gewissen Charme zu verfügen.
• Einmal habe ich Pat gesehen, wie er Verpackungsmüll, Kippen und anderen Unrat vor unserem Discounter wegsammelte. Vielleicht hat der Filialleiter oder die ganze Belegschaft ein Herz und ermöglicht ihnen so eine Verdienstmöglichkeit? Die Reinigungsfirma, die für den Markt zuständig ist, wird ihn wohl kaum anstellen.

Ob das alles reicht?

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Dienstag, 26. Mai 2009
Georg Forster: Reise um die Welt 17
(Reise vom Cap nach dem antarctischen Zirkel – Erste Fahrt in höhere südliche Breiten – Ankunft auf der Küste von Neu-Seeland)
„Da wir jetzt auf einer Reise begriffen waren, die noch Niemand vor uns unternommen hatte, auch nicht wußten, wenn, oder wo wir einen Erfrischungs-Ort finden würden, so gab der Captain die gemessensten Befehle, daß mit dem Trinkwasser gut hausgehalten werden sollte. Zu dem Ende ward eine Schildwache an das Wasserfaß gestellt und von dem Schiffsvolk bekam der Mann täglich ein gewisses Maas zugentheilt. Außerdem durfte ein jeder auch noch beym Faß trinken, aber nichts mit sich nehmen. Der Captain selbst wusch sich mit Seewasser und unsre ganze Reisegesellschaft mußte sich ein gleiches gefallen lassen. Auch ward die von Herrn IRVING* verbesserte Destillir-Maschine beständig im Gange erhalten, um die tägliche Abnahme des süßen Wassers wenigstens in ETWAS wieder zu ersetzen.“
(Forster S. 106)
* Über die Irvingsche Destilliermaschine konnte ich bislang nur den Eintrag in Gehlers Physicalischem Wörterbuch finden:
„In England zeigte D. Lind (Essay on diseases incident to Europeans in hot climates) eine bequeme und ihrem Endzwecke vollkommen entsprechende Methode der Destillation. Nach seinen Vorschriften erfand D. Irving eine ganz einfache Destillirmaschine, und erhielt dafür vom brittischen Parlamente eine Belohnung von 4000 Pf. Sterling. Man braucht dabey nicht mehr Brennholz, als sonst, sondern es wird blos an vier Tagen der Woche, da die Matrosen kein Fleisch bekommen, der eine Kochkessel, der ohnehin mit Seewasser gefüllt werden muß, um nicht vom Feuer zu leiden, mit einem hölzernen Deckel bedeckt, an dem sich eine kupferne Röhre mit einer Vorlage und einem Kühlgefäße befindet, in welches letztere ein Matrose beständig frisches Seewasser hineinpumpt und durchlaufen läst. Bey Cooks Seereise im Jahr 1772 war diese Methode auf beyden Schiffen angebracht, und gab jedesmal 120 Quart Wasser, welches aber für das Bedürfniß der Mannschaft bey weitem nicht zugereicht hätte, wenn man sich auf dieses destillirte Wasser allein hätte verlassen sollen. So bequem diese Einrichtung ist, so gesteht doch Herr Forster, daß sie noch immer mehr Holz erfordere, als irgend ein Schiff mit sich führen kan, wenn man hinlängliches Trinkwasser dadurch erhalten wolle, daß sie also nur im Nothfall von wirklichem Nutzen seyn könne, welches inzwischen bey einer Aufgabe von dieser Art schon genug ist.“

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Montag, 25. Mai 2009
Tageslosung
„...aber die besten unter den Armen sind niemals dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, unbotmäßig und aufsässig. Sie haben ganz Recht, so zu sein. Sie fühlen, dass die Wohltätigkeit eine lächerlich ungenügende Art der Rückerstattung ist oder eine gefühlvolle Spende, die gewöhnlich von einem unverschämten Versuch seitens der Gefühlvollen begleitet ist, in ihr Privatleben einzugreifen. (…) Unbotmäßigkeit ist für jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche Tugend des Menschen. Durch die Unbotmäßigkeit ist der Fortschritt gekommen, durch Unbotmäßigkeit und Aufsässigkeit.“
( Karl Kraus)

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Freitag, 22. Mai 2009
Berlin 1810
Anne Germain de Staël-Holstein, kurz Madame de Staël, war im Frühjahr 1804 in Berlin. Der zitierte Abschnitt ist aus dem 1810 erschienen Buch "De L'Allemagne".
„Berlin ist eine große Stadt mit breiten, geraden Straßen und von regelmäßiger Bauart. Da sie größtenteils neu gebaut ist, so finden sich wenige Spuren älterer Zeiten. Unter den modernen Gebäuden erheben sich keine gotischen Monumente, und das Neue wird in diesem neugebildeten Lande auf keinerlei Weise durch Altes unterbrochen und eingezwängt.
...
Berlin, diese ganz moderne Stadt, so schön sie immer sein mag, bringt keine feierliche, ernste Wirkung hervor, sie trägt das Gepräge weder der Geschichte des Landes noch des Charakters der Einwohner; und die prächtigen neu aufgebauten Gebäude scheinen bloß für die bequeme Vereinigung der Vergnügungen und der Industrie bestimmt zu sein. Brandenburger Tor, erbaut von C. G. Langhans (1788 - 1791)Die schönsten Paläste von Berlin sind von gebrannten Steinen; kaum wird man in den Portalen und Triumphbogen Quaderstücke auffinden. Preußens Hauptstadt gleicht Preußen selbst; Gebäude und Einrichtungen zählen nur ein Menschenalter und nichts darüber.
Berlin, im Mittelpunkt des nördlichen Deutschlands, kann sich als den Brennpunkt der Aufklärung und des Lichtes betrachten. Wissenschaften und Künste sind in Flor, und bei den Mittagstafeln, wozu bloß Männer geladen werden, bei Ministern, Gesandten etc., findet die Abstufung des Ranges, die dem Verkehr in Deutschland so nachteilig ist, nicht statt; Männer von Talent aus allen Klassen treffen hier zusammen.
...
Dagegen machte in den letzten Jahren die Pressefreiheit, der Verein geistreicher Männer, die Kenntnis der deutschen Sprache und Literatur, die sich allgemein verbreitet hatte, Berlin zur wahren Hauptstadt des neuen, des aufgeklärten Deutschlands.“

( Anne Germain de Staël-Holstein »Über Deutschland« (3 Bände) Leipzig und Wien 1893, S. 101 – 105, zitiert nach Bienert )

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Donnerstag, 21. Mai 2009
Georg Forster: Reise um die Welt 15 + 16
(Aufenthalt am Cap – Nachricht von der dortigen Colonie)
Bronzeskulptur von Antoine-Louis-Barye (1750-1875), Louvre
„Außer diesem Büffel-Geschlecht giebt es noch eine andre Art wilder Ochsen, welche von den Eingebohrnen GNU genannt werden. Sie haben dünne kleine Hörner, Mähnen und Haarborsten an der Nase und den Wammen*; und scheinen wegen ihre feinen Baues eher zum Pferde- und Antelopen- als zum Ochsen-Geschlecht zu gehören.“
(Forster S. 103)

* Hautfalte von der Kehle bis zur Brust.
„An reissenden Raubthieren fehlt es dem Cap auch nicht, und die Colonisten können sich nicht Mühe genug geben sie auszurotten. Löwen, Leoparden, Tieger-Katzen, gestreifte und fleckichte Hyänen, Jackals und andre dergleichen Thiere, nähren sich hauptsächlich von Antelopen, Hasen, Jerbua’s*, Cavia’s** und kleinen vierfüßigen Thieren, wovon das Land überall voll ist.“
(Forster S. 104)
* wahrscheinlich sind Springhasen gemeint.
** Caviidae sind Meerschweinchen , die allerdings aus Südamerika stammen. Welches Tier Forster in Südafrika sah, war nicht heraus zu finden.

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Mittwoch, 20. Mai 2009
houdinisieren
Vor einiger Zeit erinnerte der Tagesspiegel an Harry Houdini, den größten Entfesselungskünstler aller Zeiten. In diesem Zusammenhang wurde auch ausgeführt, dass bei Funk & Wagnalls 1920, wohl im ‚Standard Dictionary of the English Language’, erstmalig das Verb „to houdinize“, im Sinne von: ‚sich aus einer Zwangslage herauswinden’, verzeichnet war. Die deutsche Wikipedia meint:
„Der Name Houdini ist im Laufe der Zeit in der amerikanischen Alltagssprache zu einem Synonym für Flüchten geworden („to houdinize“). Sein Mythos als unbesiegbarer Supermann qualifizierte ihn für Generationen von US-Amerikanern als Idol.“
Im Deutschen existiert derzeit wohl kein Verb ‚houdinisieren’ (houdinieren klingt noch schräger: beim dinieren houdinieren?), zumindest ist es in keinem meiner Wörterbücher verzeichnet und über Suchmaschinen nicht auffindbar.

Schade eigentlich.

Nicht nur in Vorstandsitzungen deutscher und internationaler Banken könnten damit kurz und knapp aktuelle Unternehmensstrategien charakterisiert werden, auch in unserem Alltag wäre es nützlich:

• Einem Freund, der ihnen erzählt, seine Vorgesetzte habe sich in ihn verliebt, könnte man den Hinweis geben: „Zeit sich zu houdinisieren, bevor es richtig schlimm wird.“
„Houdinisiere!“ könnte man Indianer Jones vor dem Bildschirm zuraunen, wenn er fast allein unter Schlangen in ägyptischen Gewölben abenteuert.
„Ich houdinisiere niemals, ich bin schließlich ein Mann!“ könnte man ebenso dämlich wie kryptisch seiner Angebeteten entgegenhalten, wenn sie den Fehltritt entdeckt hat und fragt: „Willst du das etwa leugnen?“
„Wir werden niemals houdinisieren, wir schaffen die 5% Hürde“, ist schließlich auch die Wahlaussage der SPD bei den kommenden Bundestagswahlen.

Blödsinn, sowas!

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Dienstag, 19. Mai 2009
Georg Forster: Reise um die Welt 14
(Aufenthalt am Cap – Nachricht von der dortigen Colonie)
„Die größten vierfüßigen Thiere, der Elephant, das Rhinoceros und die Giraffe oder Camelopardalis* sind in dieser Spitze von AFRICA zu Hause. Die beyden ersten Arten fanden sich sonst innerhalb der nächsten funfzig Meilen von der Stadt; sie sind aber so häufig gejagt und verfolgt worden, daß sie jetzt, viele Tagereisen weit jenseits der Stadt, nur noch selten zum Vorschein kommen. Das Nashorn besonders ist so rar geworden, daß das Gouvernement sogar eine Verordnung hat ergehen lassen müssen, um desselben gänzliche Ausrottung zu verhindern. Das Flusspferd mit anatomischen Instrumenten (Kupferstich). In: Georges–Louis Leclerc de Buffon: Allgemeine Historie der Natur. Holle: Leipzig 1767; Sechsten Theils zweiter Band, Tafel III S. 30fDas FLUßPFERD (Hippopotamus) wird hier SEEKUH genannt und war ehedem ohnweit der Stadt, schon in SALANDHA-BAY anzutreffen, jetzt aber ist es ebenfalls so selten geworden, daß, kraft obrigkeitlichen Verboths, innerhalb einer großen Entfernung vom Cap keines mehr geschossen werden darf. Ohnerachtet dies Thier, seinem Nahmen nach, im Wasser leben sollte, so nährt es sich doch blos von Kräutern, und soll nur auf kurze Zeit, auch nie auf größere Strecken als ohngefähr dreyßig Schritt weit, untertauchen können. Das Fleisch wird hier zu Lande gegessen und für einen Leckerbissen gehalten, gleichwohl schmeckte es mir nicht besser als festes Rindfleisch, das Fett aber hat mit Mark viel Ähnlichkeit. Zu den übrigen großen Thieren, die es allhier giebt, gehört auch der WILDE BÜFFEL, dessen Hörner jenen vom wilden americanischen Ochsen (BISON) gleichen, worüber man die im neunten Theile von Büffons Naturgeschichte**, befindliche Abbildung nachsehen kann. Sie halten sich jetzt ebenfalls nur in den entlegnern Gegenden auf und sollen von ausnehmender Stärke und Wildheit seyn.“
(Forster S. 102/3)
* giraffa camelopardalis ist die lat. Bezeichnung der Giraffe.
**Georges Louis Marie Leclerc, Comte de Buffon (* 7. September 1707 in Montbard; † 16. April 1788 in Paris) wurde durch sein Hauptwerk Histoire naturelle générale et particulière, deutsch: "Allgemeine Historie der Natur" (ab 1752 bei Grund und Holle in Hamburg erschienen), das in viele europäische Sprachen übersetzt wurde, bekannt. 1739 wurde er Direktor des Königlichen Botanischen Gartens in Paris.

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Montag, 18. Mai 2009
Zum Wochenanfang etwas Klassisches
Bittschrift

Dumm ist mein Kopf und schwer wie Blei.
Die Tobacksdose ledig,
Mein Magen leer – der Himmel sei
Dem Trauerspiele gnädig.

Ich kratze mit dem Federkiel
Auf den gewalkten Lumpen;
Wer kann Empfindung und Gefühl
Aus hohlem Herzen pumpen?

Feur soll ich gießen aufs Papier
Mit angefrornem Finger? - - -
O Phöbus, hassest du Geschmier,
So wärm auch deine Sänger.

Die Wäsche klatscht vor meiner Tür,
Es scharrt die Küchenzofe -
Und mich – mich ruft das Flügeltier
Nach König Philipps Hofe.

Ich steige mutig auf das Roß;
In wenigen Sekunden
Seh ich Madrid – am Königsschloß
Hab ich es angebunden.

Ich eile durch die Galerie
Und – siehe da! - belausche
Die junge Fürstin Eboli
In süßem Liebesrausche.

Jetzt sinkt sie an des Prinzen Brust
Mit wonnevollem Schauer,
In ihren Augen Götterlust
Doch in den seinen Trauer.
Schon ruft das schöne Weib Triumph,
Schon hör ich – Tod und Hölle!
Was hör ich? - einen nassen Strumpf
Geworfen in die Welle.

Und weg ist Traum und Feerei -
Prinzessin, Gott befohlen!
Der Teufel soll die Dichterei
Beim Hemderwaschen holen.

Friedrich Schiller

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Freitag, 15. Mai 2009
Vom ironischen, sarkastischen, polemischen, zynischen Sprechen, nebst Hinweisen zum uneigentlichen Sprechen
Am Nebentisch in der Kneipe unterhalten sich vier mir unbekannte Männer. Einer von ihnen hat einen wüsten Anflug von Vaterstolz, zeigt Bilder seiner Tochter in Windeln. Von den anderen Drei lobt einer die herausragende Schönheit des kleinen Schreihalses, ein anderer meint lächelnd:
„Ja, wenn’s so klein sind, schmutzen sie ein wenig, sind aber herzig. Später werden sie dann drogensüchtig oder wählen FDP!“
Der Vater antwortet sturzbetroffen:
„Du zynischer Arsch!“
Je nach handelnden und sprechenden Personen, nach Vorgeschichte und Situation, nach Absicht und Kontext war das ironisch, sarkastisch, vielleicht polemisch oder sonstewas, nur zynisch?

1. Wir kennen alle Anflüge von überbordendem Vaterstolz, insbesondere wenn man selbst Vater ist und wir wissen auch, dass der Stolz dosiert sein muss, sein sollte, will man seinen Mitmenschen nicht auf den Wecker fallen.

Iro|nie, die; -, -n [lat. ironia < griech. eirōneía =
geheuchelte Unwissenheit, Verstellung;] (Duden)
Redeweise, bei der das Gegenteil des Geäußerten gemeint ist.
Ironie als rhetorisches Mittel kann sich von ironischer Anspielung, spielerischem Spott über Polemik bis zum Sarkasmus steigern; literarisch konstituiert sie damit die Gattungen Parodie, Satire, Travestie.
‒ Selbstironie ist eine kritische, spielerisch-überlegene Haltung sich selbst gegenüber.“ (Brockhaus)

Hätte man die oben geschilderter Situation schon eine Weile vorher belauscht, ist es gut vorstellbar, dass auch der Mann, der den Vaterstolz so rüde unterbrochen hatte, einige Zeit die Schönheit des Säuglings wohlwollend kommentierte, bevor es ihm geboten schien, der Hymne ein Ende zu setzen.

2. Man hört ja immer wieder von Schön-Wetter-Vätern, die Kinder vor allem dann lieben, wenn sie frisch bebadet sind, keine Zähne bekommen und sich freundlich ihrem Erzeuger zuwenden. In allen anderen Situationen kümmert sich die Frau um den stinkenden Schreihals. Möglicherweise kannten die Zuhörer unseren stolzen Vater.

Sar|kạs|mus, der; -, ...men [spätlat. sarcasmos < griech. sarkasmós = beißender Spott, zu: sarkázein = verhöhnen, eigtl. = zerfleischen, zu: sárx (Gen.: sarkós) = Fleisch] (bildungsspr.):
beißender, verletzender Spott, Hohn, der jmdn., etw. lächerlich machen will. (Duden)

Po|le|mik, die; -, -en [frz. polémique (subst. Adj.), eigtl. = streitbar, kriegerisch < griech. polemikós = kriegerisch, zu: pólemos = Krieg]:
scharfer, oft persönlicher Angriff ohne sachliche Argumente
(Duden)


Völlig ungerechtfertigt erscheint es mir, den Kommentar zynisch aufzufassen.

zy|nisch [(frz. cynique <) lat. cynicus < griech. kynikós = zur Philosophenschule der Kyniker gehörend, eigtl. = hündisch, zu: kýōn = Hund]:
auf grausame, den Anstand beleidigende Weise spöttisch.
(Duden)


Je nun. Der stolze Vater hat den Einwurf abgewehrt. Die Stimmung war natürlich versaut, ich hatte mein Bier ausgetrunken und war nicht begierig, mir den anschließenden Streit anzuhören.

Auf dem Weg nach Hause schossen mir die unterschiedlichsten Dinge durch den Kopf:
Ich bin mal drei Monate in Indonesien von Insel zu Insel gereist und fühlte mich häufig völlig hilflos, da die kulturellen Differenzen teilweise so groß sind, dass man in alltäglichen Situationen in unerwartete Schwierigkeiten gerät. So bedeutet ein Kopfnicken Ablehnung, während das Kopfschütteln Zustimmung signalisiert.
Die größte Schwierigkeit ist aber, dass uneigentliches Sprechen weithin unbekannt ist. In der Regel wird alles wörtlich aufgefasst:
Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich mit der Vorstellung konfrontiert wurde, dass Schnee, den mein Gesprächspartner nur aus Filmen kannte, wohl Puderzucker sein müsse, den diese Europäer (unvorstellbar reich, wie sie sind) auf ihre Hügel und Berge kippen. Aus Wasser kann der Schnee ja nicht sein, weil Eisblöcke, die allerorten zum Kühlen verwandt wurden, schließlich nicht weiß sind.
Meine Antwort: „Ja klar, und wenn wir genug davon haben, lecken wir alles wieder weg!“ führte zu einer angeregten Debatte, wie viele Menschen wohl wie lange dafür bräuchten. Ich habe daraufhin versucht nur noch in einfachen, klaren Sätzen zu reden. Gar nicht so einfach übrigens.

In unserer eigenen Geschichte ist das uneigentliche Sprechen, wenn wir die Antike mal beiseite lassen, etwa seit dem 15. Jahrhundert bekannt. Es ist damit eine Kulturtechnik, die relativ spät Einzug gehalten hat. Als eines der frühesten Zeugnisse fällt mir Heinrich Wittenwilers „Der Ring oder Wie Bertschi Triefnas um sein Mätzli freite“ ein. Im Lalebuch und natürlich im „Dil Ulenspiegel“ (1510) ist es dann voll entwickelt.
Wittenwiler hielt es noch für angebracht im Prolog deutlich zu machen, wie das Epos gemeint ist:
„...
Nu ist der mensch so chlainer stät,
Daz er nicht allweg hören mag
Ernstleich sach an schimpfes sag,

Und fräwet sich vil manger lai.
Dar umb hab ich der gpauren gschrai
Gemischet unter diseu ler,
Daz sei dest senfter uns becher,
...“
Vers 32-38
Im Lalebuch (1597) wird dies schon nicht mehr für nötig erachtet, wenn auch die Kennzeichen (Königreich Utopien) uns übertrieben deutlich erscheinen mögen. Aus dem Prolog :
Eyngang in diese Histori / darinnen vermeldet /auß was Vrsachen vnd Anlaß solche beschrieben worden.

Im Jahr von der Auffrichtung vnd Bestellung deß Großmächtigen vnnd weitläufftigen Königreichs Vtopien* / 753.
Als der grosse Reichstag zu Vthen** in der Haupt-Statt angangen /
vnnd derowegen auß allen vmbgelegenen Landt vnnd Herrschafften /
so wol als auß dem gantzen Königreich /
ein vnzahl Menschen /
Geistlich vnd Weltlich /
sich dahin verfüget hatten /
bester Hoffnung /
es würde da was mercklichs außgericht werden: Kame auch selbst eigner Person dahin /
Vdeys*** der Vtopische Keyser /
vorhabens dem Reichstag selbst bey zu wohnen /
vnd mit seinem Beywesen Sicherheit zuverschaffen vnd gute Ordnung zu erhalten.“
* Nirgendland
**Nirgendheim
*** Keiner, Niemand

Ach, vielleicht sollten wir wieder dazu übergehen überdeutliche sprachliche Zeichen zu setzen, um uneigentliches Sprechen zu kennzeichnen: „Na endlich, die Weiber werden wieder normal.“

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Donnerstag, 14. Mai 2009
Georg Forster: Reise um die Welt 13
(Aufenthalt am Cap – Nachricht von der dortigen Colonie)

„Einer unsrer Spatziergänge war nach dem TAFELBERGE gerichtet. Er ist steil und, wegen der vielen losen Steine die unter des Wanderers Füßen wegrollen, mühsam und schwer zu ersteigen. Gegen die mittlere Höhe des Berges kamen wir an eine tiefe Schlucht, deren Seiten aus senkrechtstehenden und oft überhängenden Felsen-Schichten bestanden, aus deren Rissen kleine Quellen aussprudelten oder von den Felsen herabträufelten, und in der Tiefe ganzen Hunderten von Pflanzen und Sträuchern Leben und Nahrung gaben. Andre Pflanzen, die an trockneren Stellen standen und aus denselben mehr verdickte Nahrungssäfte zu ihrem Wachsthum zogen, verbreiteten aromatische Gerüche, welche uns durch eine sanftwehende Luft von den Seiten dieses Erdrisses zugeführt wurden. Nach dreystündigem Marsch erreichten wir endlich den Gipfel des Berges, der fast ganz eben, sehr unfruchtbar und beynahe völlig von Erdreich entblößt ist. Hie und da gab es Vertiefungen auf demselben, die theils mit Regenwasser, theils mit guter fruchtbarer Erde angefüllt waren, in welcher allerhand wohlriechende Kräuter wuchsen. Von Thieren trifft man manchmal Antelopen, heulende Bavians, einsame Geier und Kröten auf diesem Berge. Die Aussicht, welche man von der Höhe desselben genießt, ist groß und mahlerisch. Die Bay schien ein kleiner Fischteich und die darinn liegenden Schiffe kleine Boote zu sein. Die Stadt unter unsern Füßen und die regelmäßigen Abtheilungen der dabey liegenden Gärten sahen wie Kinderspielwerke aus. Der LÖWENBERG ward zu einem unbeträchtlichen, niedrigen Bergrücken, gleichwie auch ein andrer Berg, der Löwenkopf genannt, der von unten aus hoch genug zu seyn scheint, weit unter uns blieb, und nur der einzige CARLSBERG schien sich neben dem TAFELBERGE bis in eine etwas beträchtliche Höhe zu erheben. Gegen Norden ward die Aussicht durch ROBBEN-EYLAND, die BLAUEN BERGE, die TIEGERBERGE und, über diese hinaus, von einer noch höheren, majestätischen Kette von Bergen beschränkt. Eine Gruppe gebrochner Felsen-Maßen schloß HOUT-BAY oder die Holz-Bay gegen Westen ein und lief von da gegen Süden fort, woselbst sie die eine Seite von TAFELBAY ausmachte und zuletzt sich in dem berühmten stürmichten Cap endigte, welches König MANUEL von Portugal das VORGEBÜRGE DER GUTEN HOFNUNG genannt hat.“
(Forster S. 89/90)

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Mittwoch, 13. Mai 2009
Der Raum der Stille
Brandenburger Tor: Raum der Stille
Das Brandeburger Tor gehört zu den Bauwerken Berlins, die man als Tourist gesehen haben muss. Da es am Ende der Linden liegt, in der Nähe des Reichtages, kann man eine Besichtigung auch kaum versäumen. Wenn sie als Besucher Berlins die Nase voll haben von Sehenswürdigkeiten und dem aufgeregt-gelangweilten Geschnatter der bildungs- oder erlebnishungrigen Touristen, wenn ihnen der Lärm und die Menschenmassen auf die Nerven gehen, schlendern sie zum nördlichen Torhäuschen. Treten sie ein in den Raum der Stille, lesen sie nicht das Faltblatt, das ihnen die freundliche Dame am Empfangstisch aushändigt, gehen sie zielbewußt durch die Glastüre und setzen sie sich eine halbe Stunde auf einen der Stühle. Kein Laut dringt vom Pariser Platz, von den Linden und von der Strasse des 17. Juni zu ihnen.
Selbst an Feiertagen oder bei Großereignissen, wenn Berlin von Besuchern überflutet wird, ist es wahrscheinlich, dass sie allein in diesem Raum sind.

Und schalten sie ihr Handy aus.

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Dienstag, 12. Mai 2009
Georg Forster: Reise um die Welt 12
(Aufenthalt am Cap – Nachricht von der dortigen Colonie)
„Die Anzahl der Sclaven, welche die Compagnie alhier zu ihrem Dienst hält, beläuft sich auf etliche hundert, die sämmtlich in einem geräumigen Hause wohnen, in welchem sie auch zur Arbeit angehalten werden. Ein anderes großes Gebäude ist zum Hospital für die Matrosen der Compagnie-Schiffe bestimt, die hier anzulegen pflegen und auf ihren Reisen von Europa nach Indien gemeiniglich eine ungeheure Menge von Kranken an Bord haben.

Joseph Vernet: Stürmische See mit Schiffswracks

Ein solcher Ost-Indienfahrer führt oft sechs bis achthundert Mann Recruten nach Batavia und da sie auf der langen Reise durch den heißen Himmelsstrich, sehr eng zusammengesteckt, auch an Wasser sehr knap gehalten werden, und nichts als Eingesalznes zu essen bekommen, so ist kein Wunder, daß ihrer so viele drauf gehen. Es ist was sehr gewöhnliches, daß ein Holländisches Schiff, von Europa bis hieher 80, oder gar 100. Mann Todte zählt und bey seiner Ankunft alhier noch überdies zwey bis drey hundert gefährlich Kranke ins Hospital schickt. Die geringen Kosten und große Leichtigkeit, womit die Holländischen ZIEL-VERKOOPERS* ihren, die Menschheit entehrenden, Recruten-Handel für die Ostindische Compagnie zu treiben im Stande sind, macht sie gegen die Erhaltung der armen Menschen so gleichgültig.“
(Forster S. 87)
* Seelenverkäufer

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Montag, 11. Mai 2009
Windrichtungsanzeiger
Rummelsburg: Das Kraftwerk Klingenberg bei kräftigem Wind aus nördlicher RichtungDas Kraftwerk Klingenberg wurde 1925 im expressionistischen Baustil von Georg und Walter Klingenberg (mit seinem Partner Werner Issel) im Berliner Stadtteil Rummelsburg erbaut. 1987 wurde es zum Heizkraftwerk umgebaut. Die ursprünglich acht gemauerten Schornsteine wurden in den 70ern durch zwei Stahlbetonschornsteine ersetzt. Der eine, 169 m hoch ist weithin im Stadtgebiet zu sehen.

Rummelsburg: Das Kraftwerk Klingenberg bei leichtem Wind aus nördlicher Richtung Rummelsburg: Das Kraftwerk Klingenberg bei Windstille Rummelsburg: Das Kraftwerk Klingenberg bei leichtem Wind aus südlicher Richtung Rummelsburg: Das Kraftwerk Klingenberg bei kräftigem Wind aus südlicher Richtung

Die Säule aus Wasserdampf zeigt, nimmt man die Spree, die im Berliner Stadtgebiet weitgehend in Ost-West-Richtung fließt, als Orientierung, die Windrichtung an.

Das Kraftwerk Klingenberg von der Oberbaumbrücke

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Freitag, 8. Mai 2009
Fundstuecke 17. - 19. KW 2009
amüsantes:
  • human-furniture-photographs
  • via Astrid Paprotta
  • Große Liebesgeschichten: Venus und Adonis
  • Ist heute Dienstag? und Welche Kalenderwoche haben wir??
  • via Im Namen des Volkers

    kluges und interessantes:
  • Karl Kraus – Rosa Luxemburg. Büffelhaut und Kreatur. Die Zerstörung der Natur und das Mitleiden des Satirikers. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Friedrich Pfäfflin. Friedenauer Presse. 32 S., fadengeheftete Broschur, 9,50 EUR.
  • via adresscomptoir
  • Peter Praschl über Zeitungen: i ist kein gutes initial
  • via adresscomptoir
  • "Das alte Rom 3.0 Deluxe"
  • Christoph Butterwegge über Marktradikalismus und moderner Rechtsextremismus
  • via nightline

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