Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Homer und die Kühe
Der H. war ein Freund meines Bruders, damals in den 70ern, er begehrte öfter und stärker auf, als wir uns das trauten. Er ist in dieser Haltung stecken geblieben und trinkt immer noch zu viel. Aber davon wollte ich nicht erzählen.
Es muss so 1972 oder 73 gewesen sein, wir fuhren per Autostop nach Frankreich, ich glaube ins Languedoc oder in die Gascogne, aber so genau erinnere ich mich nicht mehr.

Na, auf jeden Fall gönnten wir uns ein anständiges Abendessen und ein Fläschchen des örtlichen Roten. Das Essen war gut, der Wein war gut und wir waren ziemlich betrunken, als wir uns auf den Heimweg machten. Der Heimweg führte uns aus dem Örtchen hinaus auf die Wiese eines Bauern, der uns dort zelten ließ. (Da die Polizisten in Frankreich damals eher unfreundlich gegen „Hippies“, wie das ja hieß, empfahl es sich einen „genehmigten“ Lagerplatz zu haben.)
Wir kamen also an einer Weide vorbei, auf der so 30 bis 40 Kühe lagen.
Der H. hatte ein humanistisches Gymnasium besucht und Latein und Griechisch gelernt. Aus Gründen, die wohl tief im Geiste des Rotweines lagen, kam er auf die Idee den ersten Gesang der Ilias vorzutragen.
„Μῆνιν ἄειδε, θεά, Πηληιάδεω Ἀχιλῆος
οὐλομένην, ἣ μυρί’ Ἀχαιοῖς ἄλγε’ ἔθηκε,
πολλὰς δ’ ἰφθίμους ψυχὰς Ἄϊδι προΐαψεν
ἡρώων, αὐτοὺς δὲ ἑλώρια τεῦχε κύνεσσιν
οἰωνοῖσί τε πᾶσι• Διὸς δ’ ἐτελείετο βουλή•
ἐξ οὗ δὴ τὰ πρῶτα διαστήτην ἐρίσαντε
Ἀτρεΐδης τε ἄναξ ἀνδρῶν καὶ δῖος Ἀχιλλεύς.“
(„Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte,
Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden,
Und dem Gevögel umher. So ward Zeus Wille vollendet:
Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten
Atreus Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.“)

Er deklamierte wohl eine halbe Stunde und nach und nach versammelte sich die ganze Herde wie im Auditorium eines griechischen Theaters am Zaun und lauschte den altgriechischen Versen. Wir und die Kühe genossen den Vortrag in dieser lauen Sommernacht. Zu allem Überfluss sah man in der Ferne über dem Rain des nahen Flusses auch noch Sternschnuppen verglühen.

Zwei Jahre später habe ich mir für meine Reise in die Türkei, die Odyssee in den Tornister gepackt.

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nnier, Dienstag, 30. November 2010, 09:46
Eine schöne Geschichte. Mich erinnert sie an den Tag, als ich aus irgendwelchen Gründen auf einem Hochsitz saß, unter mir eine Weide mit Kühen, als plötzlich der Himmel sich verfinsterte und ein starkes Gewitter eben nicht ausbrach, sondern nur in der Luft lag, das aber geradezu elektrisierend. Das Vieh wurde dermaßen unruhig und galoppierte immer wüster hin und her, so dass mein Baumhäuslein massiv vibrierte und ich etwa eine Stunde lang grübelte, wie ich wohl unbeschadet den weiten Weg über die Weide überstehen könnte, wollte ich jemals meinen Sitz verlassen. Zum Glück verzogen sich die Rinder irgendwann in eine Ecke. Vielleicht hat jemand dort Gedichte vorgetragen?

g., Mittwoch, 1. Dezember 2010, 06:44
Rindviecher, sagt man, seien sehr neugierige Tiere. Wenn irgendwo etwas los ist, kommen sie heran, um mit ihren abgrundbraunen Augen zu glotzen und wiederzukäuen. Wahrscheinlich ist dabei völlig egal, worin das Spektakel besteht. Vielleicht hat jemand Heavy Metal auf dem Recorder abgespielt oder mit Bällen jongliert?

jean stubenzweig, Donnerstag, 2. Dezember 2010, 14:33
Ein friesischer Pferde-
und Rindviechflüsterer gab dieser Tage zum besten, die Kuh und sogar ihr männlicher Partner an sich seien sogar sehr viel klüger als der doch recht beschränkte Gaul.

g., Samstag, 4. Dezember 2010, 05:34
Einer meiner Nachbarn, ein gelernter Hufschmied, ist ebenfalls der Meinung, dass Pferde mit Kühen intellektuell nicht konkurrieren können. Nicht dass ich da mitreden könnte, aber wenn er plastisch seine Erlebnisse schildert („Pferde können gerade auslaufen, sonst nix und auch das nur, wenn man es ihnen sagt. Dumm wie geschnitten Brot, die Viecher.“) kann ich das schon nachvollziehen. Allerdings muss man insofern dagegenhalten, dass er als Hufschmied vielleicht eine eher leidvolle Beziehung zu Pferden hat bzw. hatte und da Kühe ja nicht beschlagen werden, mag sein Urteil etwas, nun, zu praxisorientiert sein.

jean stubenzweig, Dienstag, 30. November 2010, 12:14
Haben Sie denn wenigstens Ithaka gefunden?

g., Mittwoch, 1. Dezember 2010, 06:45
„Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, ...“
Aber Ithaka habe ich noch nicht gefunden, dafür bei anderer Gelegenheit die Inseln des Äolos, der dem armen Odysseus keinen zweiten Sack mit günstigen Winden geben wollte Ziemlich windig da.).