Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Dienstag, 13. Januar 2009
Jean Paul Seebuch
Dreizehnte Fahrt ,
darin ein Badeaufenthalt zum Räsonnieren über hoch und niedrig und schließlich zu einer Predigt führt.
„Die armen Reichen und Vornehmen, die noch immer eine gewisse Passion für die Tugend nicht verlassen will und die vielmehr auf diese erpicht sind wie Spinnen und Mäuse auf Musik, müssen sich aus Unvermögen aufs Anschauen dieser Grazie auf Bühnen, Bildern und romantischen Papieren einziehen; aber wie gerne wären sie gleich euch im Besitz derselben, wenn sichs geben wollte! Ihr wisset kaum, was ihr habt, Zuhörer! – Kränklichkeit gebiert Furcht; aber diese, die sonst die Götter erschuf, vernichtet jetzt das Göttliche. Es ist entsetzlich bis zum Ekelhaften, wie weit ein Gemütsschwächling sich an andern nicht sowohl versündigen kann als an sich, und es ist ordentlich jammerschade, dass er ein Ich hat; so sind auch Leute in physischer Ohnmacht wegen Lähmung der Schließmuskeln nicht in der besten Lage, sondern in ähnlicher.“

( Jean Paul Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch
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Montag, 12. Januar 2009
Deutschland 1919/4
10.1.1919
„Ich ging bei der Gelegenheit bis zum Augustusplatz, wo Maschinengewehre aufgefahren sein sollten für die auf morgen angekündigten Demonstrationen (Sympathiestreik für Spartakus in Berlin); ich entdeckte nichts außer friedlichen Jahrmarktsbuden. Überhaupt ist Leipzig immer noch tadellos ruhig. Nur in Leutzsch ist Blut vergossen worden; man hat Züge mit Regierungstruppen angehalten u. entwaffnet, die nach Berlin wollten. ‚Regierungstruppen’ – wie sich das anhört! Und in Berlin ständig auf u. ab wogende Kämpfe, um Bahnhöfe, um Zeitungsgebäude, um das Brandenburgerthor. ... es ist märchenhaft gräßlich, u. man nimmt es als selbstverständlich in Stumpfheit hin, sitzt im Conzert, im Caféhaus, auf der Bibliothek ...“


(Victor Klemperer Tagebücher)

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Freitag, 9. Januar 2009
Deutschland 1919/3
7.1.1919
„Harms selber berichtete dann aus Berlin. Man sieht noch nicht klar. Es herrscht Chaos u. beginnender Bürgerkrieg. Sollte es der Regierung nicht gelingen – Noske ist Dictator – durchzugreifen, dann halte ich Deutschland für endgiltig verloren. Dann bekommen wir Ententebesetzung u. gänzlichen Reichszerfall.“

(Victor Klemperer Tagebücher)
Am 4. Januar hatte der so genannte Spartakusaufstand
begonnen. Anlass war die Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Eichhorn (USPD). Am 8.1. begannen Regierungs- und Freikorpstruppen unter Führung von Gustav Noske den Aufstand niederzuschlagen. Am 12. 1. 1919 brach der Spartakusaufstand zusammen.

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Donnerstag, 8. Januar 2009
Deutschland 1919/2
4.1.1919
„Auch der ‚Siplicissimus’ scheint der Revolution müde zu werden. Gestern zwei treffliche Bilder. ‚Liebknecht II’ auf einem Bajonett-gespickten Automobil: ‚Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen; wer gegen mich ist, den zerschmettere ich!’ Und Mühsam auf rotem Divan zur Manicure: ‚Maniküren sie mir Schwielen an die Hände, ich bin jetzt im Arbeiterrat!’“

(Victor Klemperer Tagebücher)
Da habe ich doch, trotz des zeitlichen Abstandes, sehr herzlich lachen müssen. Insbesondere Karl Liebknecht, Worte von Wilhelm II in den Mund zu legen, ist genial. Zudem zeigt der Hieb auf Erich Mühsam, dass es eine Kontinuität des ‚sich öffentlich zum Horst machen’ gibt. Tröstlich ist das aber auch nicht.

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Mittwoch, 7. Januar 2009
Deutschland 1919/1
3. Januar 1919
„Ich werde den Demokraten wählen. Harms u. Kopke sind für den Mehrheitssocialisten, sagen, die Liberalen hätten nie regieren können. Dem setze ich entgegen. Ein Liberaler kann nicht regieren. Denn er vertritt den Einzelnen u. regieren heißt in Masse denken. Aber ich mag mich nicht aufgeben. Der Proletarier fühlt sich als Glied der Masse, die Socialdemokratie vertritt ihn. Ich fühle mich als Individuum. Die Liberalen werden nicht zur Regierung kommen, aber sie werden hier u. da mildernd für den Einzelnen eintreten, wo der Regierende die Massen balanciert ... Der Liberale ist die Hefe im Kuchen.“


(Victor Klemperer Tagebücher)
Ja, ja, der Liberalismus und das Individuum, genauer gesagt: das Individuum als Fetisch. Soll man sich darüber lustig machen? Über die abstruse Entgegensetzung von Individuum und Masse? Über sein Bild vom Proletarier, der sich als Glied fühlt? Darüber, dass ein Einzelner, ein Individuum nicht vertreten werden kann, wenn man es konsequent zu Ende denkt? Es also gar nicht um das Eintreten für den Einzelnen gehen kann? Wie heißt es doch so schön bei den Pythons: „Wir sind alle verschieden!“ „Ja, wir sind alle verschieden!“ „Ich nicht!“ (Das Leben des Brian) Doch doch, ein bisschen darf und muss man sich darüber lustig machen.

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Dienstag, 6. Januar 2009
Jean Paul Seebuch
Zwölfte Fahrt ,
die ihn zu unerhörten Gelehrten in ferne Länder führt, nebst einem Seitenhieb auf einen reisenden Dintenschleimer.
„Ich lief zu keinem einzigen Genie in St. Görgen. Mein Stolz würde sich dagegen aufbäumen, wenn ich vor den Thronsessel der so genannten Genies auf unsichtbaren Regenwurmfüßen mich hinziehen wollte, da er und ich das egoistische Pusten und Blasen und sogar die mündliche Leerheit dieses fliegenden Corps seit Jahren kennen; von ihnen ist wenig mehr zu holen als das Weiber- oder Kunkellehn, der Körper, von einem andern, obwohl unberühmten Mann aber sehr oft ein gescheutes Wort, so wie nur unberühmte Leute, deren literaturbriefliche Rezension die Antwort des Freundes ist, die bessern Briefe schreiben.“

( Jean Paul Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch
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Montag, 5. Januar 2009
Deutschland 1918/7
Leipzig 30.12.1918
„Gestern Abend beim Essen mußte ich das Besteck hinlegen u. aufhören, weil mir die Hände zu sehr zitterten u. der Magen sich umdrehte; so sehr ärgerte ich mich über mein Gegenüber, einen kahlköpfigen Handwerksmeister, der seine teure Flasche Rotwein trank u. dabei erklärte, es müsse Blut fließen, die Rache müsse kommen, die Matrosen müßten mit allen abrechnen, die uns betrogen hätten, ‚von den Kohlenbaronen bis zu den Mehrheitssocialisten’. D.h. der Alte verbreitete stupide die Hetzworte der Leipziger Volkszeitung. Ich sagte ihm, er möge sich schämen ...
Auch unsere Frau Streller ist erfreulich. Daß sie ständig die edlen Bayern rühmt u. sinnlos auf Preußen schimpft, mag der Bayerin hingehen. Aber erst war sie blutrot; dann rückte sie vom Spartacus ab – und nun sind die Juden in Berlin an allem schuld ... Ich habe eine solche Verachtung des Volkes in mir, einen solchen Ekel vor allem Volk überhaupt. Demokratie in jeder Form ist noch viel blöder als Despotie. Blöder ist nicht das rechte Wort: verlogener, gemeiner, dümmer, sinnloser, unberechtigter ...“


(Victor Klemperer Tagebücher)
Clara Zetkin arbeitete übrigens für die Leipziger Volkszeitung.
Was für ein Sammelsurium irrationaler Deutungsmuster: die Matrosen sollen uns rächen; das – anscheinend schon alte – Motiv des landsmannschaftlichen Gegensatzes von Bayern und Preußen, die Juden sind an allem schuld; und zu guter Letzt das unzuverlässige Volk, dem man mit Misstrauen begegnen muss (mit elitärem Subtext: ..., gemeiner, dümmer, ...)

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Sonntag, 28. Dezember 2008
Pause
bis 5.Januar

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Samstag, 27. Dezember 2008
Nein, meine Herren,
um die Freiheit oder die Bevormundung durch den Staat geht es gerade nicht. Es geht um den Verlust ihrer Privilegien.



Der Senat von Berlin versucht, dem von ihm vermuteten Verfall allgemeiner gesellschaftlicher Werte durch ein Fach ‚Ethik’ Einhalt zu gebieten. Das passt der evangelischen und katholischen Kirche nicht, weil sie zu Recht vermuten, dass Eltern und Schüler in vielen Fällen, sei es dass sie Atheisten, sei es dass sie Religionsunterricht nicht eben in bester Erinnerung haben, einem Wahlfach Religion nicht sehr aufgeschlossen gegenüber stehen.
Vor diesem Hintergrund wirbt nun eine Interessengemeinschaft ‚Pro Reli’, die im Wesentlichen von den beiden großen christlichen Kirchen initiiert und getragen wird, für ein Wahlpflichtfach Religion. Die Schüler und das heißt bei Jüngeren natürlich die Eltern sollen an Stelle des Faches Ethik Religionsunterricht wählen können.

Nun mag man es bezweifeln, dass ein Unterrichtsfach das Verschwinden ethischer Maßstäbe behindern oder gar aufhalten kann, nur ist Religionsunterricht ein legitimer Ersatz? Zielen die beiden ‚Fächer’ überhaupt auf den gleichen Gegenstand? Hat Religion und seine Vermittlung in einem Unterrichtsfach denn im Kern etwas mit gesellschaftlichen Maßstäben, insbesondere solche, die als anerkennenswerte Regeln für eine Gesellschaft dienen können, zu tun?
Religionen sind zuvörderst ein irrationales Welterklärungsmuster, das eben aus diesem Grund bei vielen, inzwischen den meisten Menschen auf Desinteresse, bei denen, die darunter gelitten haben, auf vehemente Ablehnung stoßen. Erst in zweiter Linie, und aus diesem Deutungsmuster abgeleitet, werden Regeln für ein gedeihliches Zusammenleben von Menschen formuliert.
Als eingefleischter Atheist kann ich es gar nicht glauben, mit welcher Unverfrorenheit sich die beiden großen christlichen Kirchen als Sachwalter von Ethik und Moral gebären, ohne die erschreckende Flexibilität ethischer Maßstäbe, die erstaunliche Anpassungsbereitschaft an fast jegliche Herrschaftsform, sei es in der jüngeren, sei es in der ferneren Geschichte, der Kirchen auch nur zu erwähnen. Beide Großkirchen (die kleineren sind organisatorisch gar nicht in der Lage einen Religionsunterricht anzubieten bzw. haben kein Interesse), daran sei kurz erinnert, hatten nicht die geringsten Probleme sich der neoliberalen Propaganda anzupassen und etwa von der Verantwortung für künftige Generationen zu faseln, um so den Rückbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme zu legitimieren.

Es mag ja jeder seine Götter anbeten, Proselytenmacherei mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung des Staates, der Allgemeinheit, geht zu weit.

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Donnerstag, 25. Dezember 2008
Reiche Beute
zu Weihnachten:

  • Alfred Döblin November 1918
    Eine deutsche Revolution
    Erzählwerk in drei Teilen
    4 Bände S. Fischer Frankfurt/Main 2008
  • Michael Bienert
    Berlin Ein Reiselesebuch
    Ellert & Richter Hamburg 2008
  • Sven Regener Der kleine Bruder
    Eichborn Frankfurt/Main 2008
  • Gay Talese Du sollst begehren
    Rogner & Bernhard Berlin 2007
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    Dienstag, 23. Dezember 2008
    Jean Paul Seebuch
    Elfte Fahrt ,
    die Anlass gibt, über Finsternis und Hoffnung in poetischen Bildern zu schwelgen..
    „Auch gehst fort, bleiche Sonne, und als ein weißer Engel hinab ins stille Kloster der Eismauern des Pols und ziehest dein blühendes, auf den Wogen golden schimmerndes Brautgewand nach dir und hüllst dich ein! – Die Blasse im Rosenkleide! Wo ist sie jetzt? Wird sie in ein warmes, reges Auge schimmern zwischen den Eisfeldern? – Ich schaue herab auf den finstern Winter der Welt! Wie stumm und unendlich ists da unten!“


    ( Jean Paul Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch
    1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. letzte Fahrt)

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    Montag, 22. Dezember 2008
    Braut und Kraut
    Zubrauten meint ja bekanntermaßen, jdn. mit einem Übermaß an Bräuten zu versehen.
    Stanley Donen wäre es zuzutrauen, seinen Hauptdarsteller zuzubrauten.

    Zukrauten war etwas, das wir als Kinder mit Begeisterung taten, indem wir uns anmaßten, Nachbarn, die uns wegen lauten Spielens maßregelten („Ganget ihr Saukrüpel von dem Rasen runter!“) mit einer großen Tüte Pusteblumen den Garten zuzukrauten.

    Blödsinn sowas.

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    Freitag, 19. Dezember 2008
    Fundstuecke 51. KW
    Hintergründe und Sichtweisen:
  • Zur Räterepublik in Bayern
  • Politisches Zeremoniell im Kaiserreich


  • amüsantes:
  • "Die Torte soll entstellen, lächerlich machen, der Schuh dagegen primär beleidigen"
    Über Tortungen und Schuhungen. via adresscomptoir
  • Macht die Schotten dicht


  • kluges und interessantes:
  • über Moritz Schreber, nach dem die Schrebergärten benannt sind (1808 bis 1861)
  • via lysis darin: “Engbrüstigkeitswunder”
  • Über Jim Knopf und Charles Darwin
  • via Der Morgen
  • Interessengemeinschaft für historische Militär-, Industrie- und Verkehrsbauten
  • via holgi

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    Donnerstag, 18. Dezember 2008
    Tageslosung
    Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Weihnachtsdekorationen.

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