Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Montag, 15. Dezember 2008
Deutschland 1918/6
Leipzig 14.12.1918 über die Tage (10. – 13.12.) in München:
„Das akademische Mietsfräulein klagte, die Italiener oder gar Franzosen würden in Deutschland einrücken, weil Spartacus immer mächtiger werde u. das Chaos hervorrufe – u. dann werde es in M. erst recht Wohnungsnot geben. In diesem Punkt beruhigte ich sie. Wir würden mit Spartacus allein fertig werden, u. wenn es auch auf die Barrikaden gehe.“


Wir = die Deutschen? Wahrscheinlich, nur dass eben die Spartakisten auch Deutsche waren.
„Besonders am Eingang der Alfonsschule steht in der Mauer eine steinerne Bank. Dort saß ich im Juli 1915 in Sträflingsdrillich mit Eva, die mir abends meine Post brachte u. mich begrüßte. Ich durfte nicht heraus, war buchstäblich gefangen, weil ich noch nicht grüßen konnte. Ich der 33jährige, der Privatdozent, der Ehemann, der Kriegfreiwillige! Ich weiß, Disciplin ist notwendig u. der Gruß ist ein notwendiges Übel, ich weiß, wie es jetzt ohne diese Disciplin zugeht, ich bin durchaus ‚contrarevolutionär’ gestimmt, ich lache vergnügt, wenn jetzt Theodor Wolff eine ‚klar sichtbare militärische Macht’ fordert, wenn die Regierung Ebert eine ‚freiwillige Volkswehr’ bildet, zu der sie nur Soldaten heranzieht, die über 24 Jahre alt sind u. lange Frontdienst gemacht haben, also gerade das beste Menschenmaterial, das durchgebildetste des alten Heeres! Und dennoch: wenn ich an die Bank denke, oder an den Tag, wo mich der verrückte Hauptmann Berghausen mit dem Tropenkoller in Kasernenarrest brüllte, weil ich den Hacken beim ‚stillgestanden’ zusammenzunehmen vergessen hatte, dann legt es sich geradezu körperlich wie ein Stein auf die Brust, wie eine zusammengepresste Hand um den Hals; ich gedenke dann meiner bittersten Verzweiflungen u. verstehe jede, aber auch jede Sinnlosigkeit der Revolution.“

Von einer Wahlversammlung der unabhängigen Sozialdemokraten:

„Mit einemmale wird es still. Alles sieht nach einer Seitentür, wo ein kleines Gedränge entsteht. Man flüstert: ‚Eisner, Eisner ist da!’ Der gerade redet, bricht ab u. bringt unvermittelt ein Hoch auf Eisner aus. Er ist ein Soldatenrat; er setzt an mit ‚Hurr ...’ unterbricht sich und ruft ‚Hoch, Hoch, Hoch!’ Stürmisches Mitrufen der Menge. Eisner kommt dicht an mir vorbei, u. beim Weggehen sehe ich ihn noch einmal fast in ‚Tuchfühlung’. Ein zartes gebrechliches winziges gebeugtes Männchen. Der Schädel kahl, nicht imposant groß. In den Backen hängen ihm schmutziggraue Haare. Der Vollbart ist rötlich, schmutziggrau, die schweren Augen sehen trübgrau durch Brillengläser, nichts Geniales, nichts Ehrwürdiges, nichts Heroisches ist an der ganzen Gestalt. Ein leidender, verbrauchter, mittelmäßiger alter Mann, dem ich mindestens 65 Jahre gebe.
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Sehr jüdisch sieht er nicht aus, germanisch oder bajuwarisch erst recht nicht.
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Er spricht leise u. ist doch überall verständlich, weil alles ehrfurchtsvoll schweigt. Er sei leidend, er sei auch den Abend über nicht hier gewesen, er könne also alles ablehnen u. widerlegen, weil er nichts gehört habe. Dies ist der erste Witz von vielen, der Witz ersetzt ihm fast immer das Pathos u. wird ihm immer dankbar bejubelt.
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Ein feuilletonistischer Plauderer unter Freunden, die ihm bestimmt zujubeln, er sage, was er wolle, ein vielgeliebter Präsident eines Kegelklubs, ein erfolgssicherer Komiker, der gelegentlich eine moralische Note anschlägt.
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Eisner ist mir rätselhaft: wie kann dieser Feuilletonist, diese Wippchennatur ohne heroische, ohne dictatorische Geste auf das Volk u. nun gar auf die Bayern wirken? Aber eines ist mir gewiß geworden: er herrscht in Bayern, er ist im Volke verankert, das ihn wie einen Gott verehrt. Vielleicht wird er bald fallen, aber zur Zeit stützt er sich gewiß auf das Volk ...
Ich war nach diesem Eisnerabend von Hitze u. Müdigkeit vollkommen erschöpft, ich war um keinen Satz bereichert, den ich nicht 100x aus 101 Zeitungen erfahren hatte; dennoch habe ich den größten Revolutionseindruck empfangen. Unterleitner, Levin, Eisner, die Masse – welche seltsame, rätselhafte, unberechenbare, alogische Angelegenheit!“


(Victor Klemperer Tagebücher)

Klemperer hatte wohl revolutionäres Pathos erwartet. Insbesondere vermisst er einen ‚diktatorischen Gestus auf das Volk, die Masse’. Heute würde wohl ein Journalist etwas von Populismus faseln. Interessant ist auch, dass er anscheinend erwartet hatte, dass Eisner ‚jüdisch’ aussieht. (Solche Bemerkungen, dass jemand jüdisch oder sehr jüdisch aussehe, tauchen häufiger auf. Bei mir löst das keinerlei Assoziationen aus. Außer dem NS-Bild natürlich, aber das wird Klemperer wohl nicht vorgeschwebt sein?)

Kurt Eisner, geboren am 14.5.1867 in Berlin, zunächst Anhänger von Friedrich Naumann, einem der Begründer des ‚modernen Liberalismus’ (der durch den ‚Freiheit oder Sozialismus’-Liberalismus eines Guido Westerwelle inzwischen abgelöst wurde. Insofern ist der Westerwelleliberalismus ein Rückgriff; vormodernistisch?), dann Mitglied der SPD und ab 1917 der USPD. Er proklamierte am 7./8.11. 1918 den Freistaat Bayern und versuchte als Bayrischer Ministerpräsident Rätesystem und Parlamentarismus zu verbinden. Er wurde zwei Monate später, am 21.2.1919 von Graf Arco ermordet.

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