Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Montag, 5. Januar 2009
Deutschland 1918/7
Leipzig 30.12.1918
„Gestern Abend beim Essen mußte ich das Besteck hinlegen u. aufhören, weil mir die Hände zu sehr zitterten u. der Magen sich umdrehte; so sehr ärgerte ich mich über mein Gegenüber, einen kahlköpfigen Handwerksmeister, der seine teure Flasche Rotwein trank u. dabei erklärte, es müsse Blut fließen, die Rache müsse kommen, die Matrosen müßten mit allen abrechnen, die uns betrogen hätten, ‚von den Kohlenbaronen bis zu den Mehrheitssocialisten’. D.h. der Alte verbreitete stupide die Hetzworte der Leipziger Volkszeitung. Ich sagte ihm, er möge sich schämen ...
Auch unsere Frau Streller ist erfreulich. Daß sie ständig die edlen Bayern rühmt u. sinnlos auf Preußen schimpft, mag der Bayerin hingehen. Aber erst war sie blutrot; dann rückte sie vom Spartacus ab – und nun sind die Juden in Berlin an allem schuld ... Ich habe eine solche Verachtung des Volkes in mir, einen solchen Ekel vor allem Volk überhaupt. Demokratie in jeder Form ist noch viel blöder als Despotie. Blöder ist nicht das rechte Wort: verlogener, gemeiner, dümmer, sinnloser, unberechtigter ...“


(Victor Klemperer Tagebücher)
Clara Zetkin arbeitete übrigens für die Leipziger Volkszeitung.
Was für ein Sammelsurium irrationaler Deutungsmuster: die Matrosen sollen uns rächen; das – anscheinend schon alte – Motiv des landsmannschaftlichen Gegensatzes von Bayern und Preußen, die Juden sind an allem schuld; und zu guter Letzt das unzuverlässige Volk, dem man mit Misstrauen begegnen muss (mit elitärem Subtext: ..., gemeiner, dümmer, ...)

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