Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Donnerstag, 3. Mai 2012
Mein Opa und die Gefühlsvegetarier
In der Kantine setze ich mich mal zu diesem, mal zu jenen. Der Aufbau einer festen Peer-Group hatte sich nie bewerkstelligen lassen, da immer einige auf Trebe sind.
Ich frage also eine Kollegin, die mir auf dem Weg zum Aufzug über den Weg läuft: „Hungrig?“ Sie sagt ja und so sind wir einige Minuten später in der Kantine. Kantinenessen ist – tja – nicht wirklich schlecht, aber auch nicht gut und für meine Gewohnheiten extrem fleischlastig. Nun ja, ich nahm also nicht übermäßig begeistert ein Schnitzel mit Pommes. Die Kollegin nahm die vegetarische Bratwurst mit Kartoffelbrei und so etwas hellem, flüssigem Irgendetwas das nach wenigen Minuten an der Oberfläche brach.
Wir setzen uns.
„Ich würde mich gelegentlich auch ganz gern für das vegetarische Gericht entscheiden. Ich finde es nur meistens so schrecklich lieblos zusammengeschustert. Schade eigentlich, Vorspeisen aus Italien, Spanien oder der Türkei – so ließe ich mir ein vegetarisches Mittagessen durchaus gefallen.“
„Stimmt“, meinte sie, „es ist häufig sehr ähnlich, immer ein Fleischersatz und dann eine Beilage dazu. Wobei ich eigentlich gar keine Vegetarierin bin. Es ist nur so, dass ich, wenn ich das Fleisch da liegen sehe, immer daran denken muss, dass es vor einigen Tagen noch ein lebendiges Tier war. Ich bin so die typische Gefühlsvegetarierin.“

‚Aha‘ dachte ich so bei mir und sah auf den panierten Fladen auf meinem Teller.
„Dich erinnert das Schnitzel hier an die Sau, aus der es geschnitten wurde?“
„Hör auf, sonst kann ich dir nicht mal mehr beim Essen zusehen.“

Eigentlich ist die Kollegin ganz nett und so kann ich mir nicht ganz erklären, warum mich der Teufel geritten hat und ich ihr erzählte, dass ich da ganz anders gestrickt sei.
Mein Opa, erzählte ich ihr, sei immer sehr darauf bedacht gewesen, dass wir Kinder, so bis wir 11 oder 12 Jahre alt waren, weder die Hühner noch die Karnickel im Stall streicheln. Das gäbe nur Ärger, wenn die Tiere dann in den Kochtopf wandern, meinte er. Futter bringen, ausmisten und dann wieder raus aus dem Stall, das war seine Devise.
Ich könne mich noch erinnern, erzählte ich ihr, wie ich als 4- oder 5-Jähriger im Hof des Hauses gestanden hätte und ihm beim Schlachten des Hahns für den Sonntagsbraten zusah. Ich fand das damals sehr faszinierend. Mit der linken Hand das Huhn an den Füssen packen, mit der rechten Hand das Beil nehmen, das Huhn mit dem Kopf auf den Hackklotz und ab. Das Huhn sei noch zwei Meter geflattert, dann sei es tot gewesen. Mein Opa hätte mich danach direkt angesehen und sei aber schnell beruhigt gewesen, als er sah, dass ich nicht erschreckt, sondern fasziniert von dem Vorgang gewesen sei.
„Ich habe das Huhn ohne Widerwillen zu Mittag gegessen. Es schmeckte sehr gut.“
„Hör auf oder ich rede nie wieder ein Wort mit dir.“


Es wachsen heute sehr viele Kinder in Gated Communitys auf, sei es in Kleinmachnow oder Prenzlauer Berg. Da kommt man weder mit Leben und Sterben, noch mit Wild- oder Haustieren in Kontakt, man kriegt komische Vorstellungen, was denn ein Ökosystem ist und irgendwann landet man bei Tierrechtlern oder Tierschützern, wird Veganer, nimmt Drogen oder wählt FDP.
Opa wuchs als Findelkind auf einem Bauernhof auf und das hieß viel Arbeit und wenig Freizeit, das hieß auch, dass er häufig die Schule versäumte, wenn irgendwas auf dem Hof zu tun war. Schließlich sollte sich der Esser rentieren. Damit er sich richtig rentiert wurde beim Essen gespart. Es gab exakt so viel wie der Bauer für ausreichend befand. So nimmt es nicht Wunder, dass mein Opa sich nicht vorstellen konnte, dass einem etwas nicht schmecke oder dass man etwas nicht essen dürfe. Er fand auch die Vorstellung absurd, dass man aus religiösen Gründen an bestimmten Tagen kein Fleisch essen dürfe. Gegessen wurde, was es gerade gab und in den Mengen, die man zur Verfügung hatte oder bis man satt war. Wenn jemand etwas nicht essen wollte, roch er daran, prüfte den Geschmack und sagte dann: „Es ist nicht verdorben.“ Er zwang allerdings auch niemand Speisen zu essen, wie es einige meiner Schulfreunde zu erdulden hatten. Es ging ihm nicht ums Prinzip. Wer nicht wollte, wollte halt nicht und hatte dann eben Pech gehabt.
Nun haben wir andere Zeiten und heute kann es sich ein Kind wie ein Erwachsener – zumindest in weiten Teilen Europas – leisten, seine Nahrung nach sinnvollen und auch weniger sinnvollen Kriterien auszuwählen. Man kann es sich sogar leisten, so viel oder so wenig Nahrung zu sich zu nehmen, dass man sein Leben gefährdet. Es ist in der Regel immer jemand da, der einen rettet, der sich darum sorgt. Man kann es sich also erlauben, aus einer simplen Überlebensnotwendigkeit ein Drama zu machen, ein Schau-Spiel, eine Aufforderung zur Beachtung oder eine Marotte.
Man muss allerdings nicht.
Die Frage wäre dann, warum gewinnen solche Dramen anscheinend immer mehr Anhänger?

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