Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Deutschland 1919/2
4.1.1919
„Auch der ‚Siplicissimus’ scheint der Revolution müde zu werden. Gestern zwei treffliche Bilder. ‚Liebknecht II’ auf einem Bajonett-gespickten Automobil: ‚Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen; wer gegen mich ist, den zerschmettere ich!’ Und Mühsam auf rotem Divan zur Manicure: ‚Maniküren sie mir Schwielen an die Hände, ich bin jetzt im Arbeiterrat!’“

(Victor Klemperer Tagebücher)
Da habe ich doch, trotz des zeitlichen Abstandes, sehr herzlich lachen müssen. Insbesondere Karl Liebknecht, Worte von Wilhelm II in den Mund zu legen, ist genial. Zudem zeigt der Hieb auf Erich Mühsam, dass es eine Kontinuität des ‚sich öffentlich zum Horst machen’ gibt. Tröstlich ist das aber auch nicht.

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g., Donnerstag, 8. Januar 2009, 11:05
Erich Mühsam
war 1919 vierzig Jahre alt: jugendliche Naivität in Verbindung mit revolutionärem Überschwang kann man ihm nicht mehr zu Gute halten für solche Texte:
Amanda


Niemals ist es zu empfehlen,
daß sich eine Maid, die liebt,
ohne ihm sich zu vermählen,
einem Mann zu eigen gibt.


Hat sie aber doch verleugnet
einmal alle Konvention,
macht sie ja sich ungeeignet
vorher für der Liebe Lohn.


Denn die Männer sind doch schließlich
Leute, denen nicht zu traun,
und die Folgen sind verdrießlich
ganz alleine für die Frau'n.


Laßt euch einen Fall berichten,
wo dies klar zutage tritt,
und wer Töchter hat und Nichten,
sei durch ihn gewarnt hiemit.


Eine Maid hat er betroffen,
die stets keuschen Sinn bewies,
die das Beste ließ erhoffen
und die nur Amanda hieß.


...

[Mühsam: Sammlung 1898-1928. Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 401743
(vgl. Mühsam-Werke Bd. 1, S. 72)
http://www.digitale-bibliothek.de/band125.htm ]


Aber immerhin war Erich Mühsam ein herausragender Schüttler:
„Die Männer, welche Wert auf Weiber legen,
tun dieses leider meist der Leiber wegen.“


jean stubenzweig, Donnerstag, 8. Januar 2009, 12:29
«Die angegebene Seite
(Digitale Bibliothek) wurde nicht gefunden.»

Ich wollte eigentlich nur nachschauen, ob's ein Vertipper ist, wo's heißt:

Eine Maid hat er betroffen, ...

oder ob's nicht doch heißen sollte:

Eine Maid hat er getroffen, ...

Und dann noch: nomen es omen.

g., Donnerstag, 8. Januar 2009, 16:31
Ich habe die Passage per copy and paste eingefügt. Insofern ist es zumindest von meiner Seite kein Vertipper. Ob allerdings beim Digitalisieren der Texte ein Fehler unterlaufen ist, kann ich nicht sagen. Eine andere Quelle steht mir aktuell nicht zu Verfügung.

Die 'Digtiale Biliothek' ist leider online nicht verfügbar, allerdings ist bei Zweitausendeins einiges wohlfeil erhältlich.
Insbesondere für historische Wörtebücher und Texte von mir nicht sonderlich geschätzter Autoren, greife ich ganz gerne auf digitalisierte Ausgaben zurück, obwohl ich sonst nicht unbedingt ein Freund des Lesens und Schmökerns am Bildschirm bin.

jean stubenzweig, Freitag, 9. Januar 2009, 02:39
Ah! Erinnerung.
Der Laden ist mir nicht ganz geheuer. Ich hatte vor langer Zeit mal eine Anfrage an ihn, wollte meine Software zu einer CD-Bildersammlung erneuern bzw. an mein System anpassen. Eine Antwort bekam ich nie. Vermutlich, weil die auf Anfragen von Appleianern nicht antworten. – Bist du nicht willig, so lassen wir's halt.

g., Freitag, 9. Januar 2009, 10:14
Erich Mühsam: Amanda
Ich habe nun doch noch den Text im Netz auftreiben können. Da auch ein Faksimile der Originalausgabe angefügt ist, lässt sich nun zumindest sagen, dass es kein Fehler des Digitalisierers ist. Ob allerdings Erich Mühsam nicht sorgfältig genug Korrektur gelesen oder die Maid absichtsvoll betroffen hat, ist nicht zu entscheiden.

Das ändert natürlich nichts daran, dass das Geschäftsgebaren der Digitalen Bibliothek unter aller Sau ist: Kunde droht mit Auftrag, da heißt es erstmal aussitzen, Kaffee trinken. Wenn er sich dann noch einige weitere Male meldet, kann man ja immer noch einen abschlägigen Bescheid übermitteln.

g., Freitag, 9. Januar 2009, 10:34
Beim zweiten Lesen
der Moritat vom traurigen Schicksal der Maid Amanda nervt die naive, von aufrechter Gesinnung getragene Rezeption der Gedichtform noch mehr als beim ersten Durchlesen. Die - wie ich vermute konstitutiv für diese Form - ironisch gebrochenen Moralsequenzen am Ende von Moritaten, ignoriert er einfach. Wenn es wenigstens geendet hätte:
"und die Moral von der Geschicht:
pflöckeln vor der Ehe lohnet nicht."
oder eine andere, das moralinsaure Aufstossen mildernde Strophe.

jean stubenzweig, Samstag, 10. Januar 2009, 06:20
Mir scheint doch
das Moralinsaure eher typisch für diese politische Geographie. Mühsam ernährt sich der volksnahe Realist. Aber das ist ja nichtmal ein Problem dieser Zeit. Es sieht heute nicht besser aus angesichts der schleichenden Rückwendung zur biblia pauperum. Aber wie soll sich das ändern, denke ich an verkürzte Studien- und gar Schulzeiten?

g., Dienstag, 13. Januar 2009, 10:41
Ich fürchte, dass
sie recht haben und die nachlassende Begeisterung für Robin Hood oder Rinaldo Rinaldini ist wohl auch kein Hoffnungsschimmer. Aber im Ernst: Ich hatte mich bislang nicht näher mit der Novemberrevolution und der Weimarer Zeit beschäftigt und bin erst über Klemperer auf so Geistesriesen wie Erich Mühsam gestoßen. Wenn sie sich mal den Tag versauen möchten, gönnen sie sich einen Blick in seine autobiographischen oder politischen Schriften (bei Gutenberg ist einiges im Netz).

jean stubenzweig, Mittwoch, 14. Januar 2009, 01:26
Ganz so schlimm
will es mir aber dann doch nicht sein. Es gibt durchaus ironische, auch selbstironische Geschichten von ihm, etwa die vom Gespräch mit dem Bruder und den Königsberger Klopsen. Oder seine Berlin-Kritik. Leider fließen ihm immer wieder diese drögen Moralpredigten zwischen die Zeilen. Was er sicher nie war – obwohl er es wohl gerne gewesen wäre: ein großer Dichter. Zumindest sehe ich das so. Andere sind da ganz anderer Meinung. Dennoch muß man seine Texte vor den Geschehnissen seiner Zeit lesen; dabei ist er immer seiner politischen Einstellung verpflichtet.