Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Montag, 25. Oktober 2010
Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben VI
»Muß man denn, meine Herrn, immer nur Vorteil suchen«, fing er an, »wenn man der Meinung eines klugen angesehenen Mannes beitritt? Soll man ihm der Höflichkeit, der Freundschaft, ja seiner eigenen Oberzeugung zum Trotz nur stets widersprechen, bloß um der Welt zu zeigen, daß man unabhängig von ihm leben könne? Nur der Egoismus kann in allen Schritten Eigennutz entdecken. – Und warum soll ich auch nicht die unschädliche Schwachheit eines Vornehmen auf eine unschädliche Art benutzen dürfen? Wir sind selbst gegen unsere vertrautesten Freunde nie ganz aufrichtig, wir geben ihnen manches zu, wovon wir nicht überzeugt sind, wir behalten in den herzlichsten Stunden eine gewisse Lebensart bei, wir schonen ihrer Schwachheiten, um sie nicht gegen uns aufzubringen, und damit sie wieder andere Schwächen an uns übersehn. Hanc veniam damus petimusque vicissim.«

»Schön«, rief der Mann aus, der den Traktat geschrieben hatte – »Schade, daß Sie ein Sophist sind, und für Sophistereien einen Spruch des redlichen Horatii zitieren.«

»Machen wir es in unserm ganzen Leben anders?« fuhr Siegmund fort, »und machen sich wohl die edelsten Menschen Vorwürfe darüber? – Wer gibt dem Müller das Recht, einem Wasserfalle sein Mühlenrad unterzustellen, so daß die Wellen, statt frei und ungehindert fortzufließen, erst angespannt werden, um mit Mühe ein ungeheures Rad zu drehen?«

»Eine seltsame Ideenkombination!« rief der Traktatenschreiber.

»Nicht so seltsam kombiniert«, antwortete der Mann, der in Verlegenheit gewesen war, und dessen Gesichtswellen sich jetzt zur Ruhe legten; – »nicht so seltsam, als Sie die Ode Justum et tenacem etc. erklärt haben.«

»Sutor ne ultra crepidam!« antwortete kaltblütig der Gelehrte, und warf sein Motto wie einen Fehdehandschuh über den Tisch hinüber. Der Gegner hatte eine außerordentliche Fertigkeit im Rotwerden, denn schneller als in einem erhitzten Thermometer stieg nun das Blut wieder in die aufgedunsenen Wangen. Er schöpfte frischen Atem, als Siegmund wieder von neuem anfing:

»Wenn wir die Schwäche eines Menschen ertragen, so ist dies nichts als eine Pflicht der Menschenfreundlichkeit; bringt es aber der Zufall mit sich, daß wir durch diese Schonung irgendeinen Vorteil erlangen können, so sind wir große Toren, wenn wir uns nicht an dem Geländer festhalten, das uns einen steilen Pfad hinauf begleitet. Wer wird nicht bergunter langsam gehn, und einem bergabrollenden Steine aus dem Wege treten?«
Wohl gesprochen, aber Partei zu ergreifen kann auch nach hinten losgehen. Zumindest macht es Vieles komplizierter.

Permalink (0 Kommentare)   Kommentieren


... 376 x aufgerufen