Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Donnerstag, 29. Juli 2010
Familiengeschichten V: Die Tochter des R.
R. habe ich so 1983/84 kennengelernt. Eine Riese mit sanften und mit ungehobelten Seiten. Er konnte zuhören, aufmerksam nachfragen und niederpöbeln gleichermaßen.

Er erzählte mir, wie er 1944 aus der Wehrmacht desertiert ist und nach England ging und wie sie ihn nach dem Krieg deswegen angepöbelt haben. Ob er zu feige gewesen sei, das Vaterland zu verteidigen, wurde er gefragt. Er habe dann immer geantwortet, dass es bedeutend mehr Mut erfordert habe, Befehle zu verweigern und dass er mit der Schlächterei, die auch in seinem Namen betrieben wurde, nicht zu tun haben wollte. Zumindest den Naiven und Dummen habe er so geantwortet, denen die Krieg, Terror und Vernichtung gut geheißen haben, hätte er Prügel angedroht. Menschen, die seine Entscheidung als Jugendlicher sich dem zu verweigern, gut geheißen hätten, habe er nur sehr selten getroffen.

Er hat auch die antikommunistische Hetze der 50er Jahre nicht mitgemacht: „So lange wie alte Nazis in diesem Land an den Schalthebeln der Macht sitzen, werde ich jeden Kommunisten umarmen und als meinen Freund begrüßen.“ Sie sehen, er konnte sich auch theatralisch geben.

Als in 80ern die Solidarność gegründet wurde, war er einer der ersten, die sie unterstützten. Er fuhr immer mal wieder nach Gdańsk und Kraków , brachte Geld vorbei, aß sehr viele polnische Würste und unterhielt sich. Glücklicherweise kam er nie mit dem polnischen Geheimdienst ins Gehege. Später dachte er viel darüber nach, ob der weitere Entwicklungsweg der Solidarność nicht schon damals zu erahnen gewesen war. Im Nachhinein ist man ja immer schlauer, lachte er dann.

Er arbeitete und rauchte, trank und aß mehr, als er es hätte tun sollen und er liebte die Frauen. In Momenten, in denen er sich unbeobachtet wähnte, verfiel sein fröhliches Gesicht und wurde alt und grau.

Wenige Jahre nachdem ich ihn kennengelernt hatte, starb er.

Zwanzig Jahre später traf ich durch Zufall seine Tochter. Wir wurden vorgestellt und ich fragte sie nach einer Weile, ob sie denn mit dem R. etwas zu tun hätte? Ja, das wäre ihr Erzeuger. Ich hatte nicht weiter nachgefragt, sie machte ungeachtet dessen, eine Reihe von abfälligen Bemerkungen über den R.

Unversöhnlich weit über den Tod hinaus.

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