Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Freitag, 2. Juli 2010
Der Möglichkeitsroman
Andreas Okopenko veröffentlichte 1970 einen Lexikonroman:
„Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden“
Gebrauchsanweisungen sind für Romane gewöhnlich unüblich und eigentlich auch für solche sinnlos, da die Handlung Schritt für Schritt hübsch nacheinander ausgeführt wird. Andreas Okopenkos Roman hingegen ist ein Möglichkeitsroman, d.h. wie in einem Lexikon oder auch im Internet können Sie einem Verweis folgen oder eben auch nicht. Ganz wie es ihnen beliebt. Sie kommen dann von A nach B oder nach F, gegebenenfalls über S., Je nach dem, welchen Wegen sie folgen wollen.

Der Roman ist alphabetisch von „Aberdeen“ bis „Zukunft des Rotgebrauchs“ geordnet, die meisten Leser fangen mit dem Eintrag „Anfang der Reise“ an:
“Hochfrühling-Morgen, 6.30. Sich mit der →Straßenbahn fast verirrt haben.
(Die Leute verstanden diese Fertigkeit an ihm doch nie. Ich Kann viele Beispiele aus meiner Jugend anführen:


(Raum für einschlägige Erinnerungen des Lesers.)



)
J geriet in den Strudel des Straßen-Schlussstückes mit den NICHTS ALS Wirtshäusern und Autobushaltestellen nahe der

noch näher

und jetzt war sie schon da die

Brücke.
Man? Er? Ich? – Zur Identifikation des Helden suchen Sie, bitte die →Taufstelle auf. Wen die tiefen Gründe für den Erzählerwechsel nicht interessieren, der folge mir gleich zur → Brücke.“
Sie sehen, es werden ihnen drei Möglichkeiten angeboten weiter zu lesen, abzuschweifen.

Man kann den Roman mehrfach anders lesen, sich auf anderen Wegen im Buch bewegen. Man kann natürlich auch einen völlig anderen Einstieg wählen, sagen wir beim W und dort, sagen wir, mit dem Eintrag „Weg zur Schiffstation“, den Anfang des Eintrages überlesen wir und landen unmittelbar beim zentriert gesetzten:
“Ein Schiff wird kommen

fühlte er

und zwar geschwommen.
(Käm es geflattert,
wär ich verdattert.)
von diesem Reim aus kann man sich dann natürlich zu Melina →Mercouri begeben, wenn man möchte.

Vor einigen Tagen, am 27. Juni 2010, ist er gestorben.

zum weiterlesen in den unendlichen Weiten des Internets:
Im Gegensatz zur wohl eher überkandidelten elektronischen Umsetzung ist die Radioadaption des Lexikonromans sehr schön (zumindest fantasiere ich mir das so aus).

Die böse Sonne D3 von Andreas Okopenko.
Gesammelte Aufsätze und andere Meinungsausbrüche aus fünf Jahrzehnten.
Ein Interviewmit Andreas Okopenko.
Friederike Mayröcker über Andreas Okopenko

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