Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Mittwoch, 18. Februar 2009
Goethe: Italienische Reise
„Neapel, den 28. Mai 1787
Der gute und so brauchbare Volkmann nötigt mich, von Zeit zu Zeit von seiner Meinung abzugehen. Er spricht z.B., dass dreißig- vierzigtausend Müßiggänger in Neapel zu finden wären, und wer spricht’s ihm nicht nach! Ich vermutete zwar sehr bald nach einiger erlangter Kenntnis des südlichen Zustandes, dass dies wohl eine nordische Ansicht sein möchte, wo man jeden für einen Müßiggänger hält, der sich nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht. Ich wendete deshalb vorzügliche Aufmerksamkeit auf das Volk, es mochte sich bewegen oder in Ruhe verharren, und konnte zwar sehr viel übelgekleidete Menschen bemerken, aber keine unbeschäftigten“ (S.428)

„Ich gehe in ein näheres Detail, um das, was ich behaupte, glaubwürdiger und anschaulicher zu machen. Die kleinsten Kinder sind auf mancherlei Weise beschäftigt. Ein großer Teil derselben trägt Fische zum Verkauf von Santa Lucia; andere sieht man sehr oft in der Gegend des Arsenals, oder wo sonst etwas gezimmert wird, wobei es Späne gibt, auch am Meere, welches Reiser und kleines Holz auswirft, beschäftigt, sogar die kleinsten Stückchen in Körbchen aufzulesen. ... Sie gehen nachher mit dem Körbchen tiefer in die Stadt und setzen sich mit ihren Holzportionen gleichsam zu Markte. Der Handwerker, der kleine Bürger kauft es ihnen ab, brennt es auf seinem Dreifuß zu Kohlen, um sich daran zu erwärmen, oder verbraucht es in seiner sparsamen Küche.“ (S. 429/430)

„Es ist wirklich artig anzusehen, wie ein solcher Junge, dessen ganzer Kram und Gerätschaft in einem Brett und Messer besteht, eine Wassermelone oder einen halben gebratenen Kürbis herumträgt, wie sich um ihn eine Schar Kinder versammelt, wie er sein Brett niedersetzt und die Frucht in kleine Stücke zu zerteilen anfängt.“ (S. 430)

„Wie diese Art Herumträger geschäftig sind, so gibt es noch eine Menge kleine Krämer, welche gleichfalls herumgehen und ohne viel Umstände auf einem Brett, in einem Schachteldeckel ihre Kleinigkeiten, oder auf Plätzen geradezu auf flacher Erde ihren Kram ausbieten.“ (S. 432)

„Es ist wahr, man tut nur wenige Schritte, ohne einem sehr übelgekleideten, ja sogar einem zerlumpten Menschen zu begegnen, aber dies ist deswegen noch kein Faulenzer, kein Tagdieb! Ja, ich möchte fast das Paradoxon aufstellen, dass zu Neapel verhältnismäßig vielleicht noch die meiste Industrie (=Gewerbe, Anm. von mir) in der ganz niederen Klasse zu finden sei.“ (S. 432)

„Der zerlumpte Mensch ist dort noch nicht nackt; derjenige, der weder ein eigenes Haus hat, noch zur Miete wohnt, sondern im Sommer unter den Überdächern, auf den Schwellen der Paläste und Kirchen, in öffentlichen Hallen die Nacht zubringt und sich bei schlechtem Wetter irgendwo gegen geringes Schlafgeld untersteckt, ist deswegen noch nicht verstoßen und elend; ein Mensch noch nicht arm, weil er nicht für den ganzen Tag gesorgt hat.“ (S. 433/434)

„Man würde alsdann im ganzen vielleicht bemerken, dass der sogenannte Lazarone nicht um ein Haar untätiger ist als alle übrigen Klassen, zugleich aber auch wahrnehmen, dass alle in ihrer Art nicht arbeiten, um bloß zu leben, sondern um zu genießen, und dass sie sogar bei der Arbeit des Lebens froh werden wollen. Es erklärt sich hiedurch gar manches: dass die Handwerker beinahe durchaus gegen die nordischen Länder sehr zurück sind; dass die Fabriken nicht zustande kommen; dass außer Sachwaltern und Ärzten in Verhältnis zu der großen Masse von Menschen wenig Gelehrsamkeit angetroffen wird, so verdiente Männer sich auch im einzelnen bemühen mögen; dass kein Maler der neapolitanischen Schule jemals gründlich gewesen und groß geworden ist; dass sich die Geistlichen im Müßiggange am wohlsten sein lassen und auch die Großen ihre Güter meist nur in sinnlichen Freuden, Pracht und Zerstreuung genießen mögen.“ (S. 434/435)
( Goethe: Italienische Reise)
Der Mann geht ganz selbstverständlich von bestimmten Herrschaftsverhältnissen aus, die als gut und natürlich empfunden werden. Der edle, wohlmeinende Patron. Die heitere Gelassenheit des vermögenden Mannes. Wer’s sowohl im Kopfe wie im Geldbeutel hat, mag wohl für einen angenehmen Zeitgenossen gelten.
Dem Studiosusreisenden ist alles pittoresk.
„Aber nirgends putzen sie mehr als bei den Fleischwaren, nach welchen das Auge des Volkes besonders lüstern gerichtet ist, weil der Appetit durch periodisches Entbehren nur mehr gereizt wird.“ (S. 438)
Nur wenige Jahre später, in einem anderen Land, haben dann einige Hosenlose, entnervt vom periodischen Entbehren, ihre Meinung ebenfalls kundgetan.

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