Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Montag, 14. November 2011
Über e-reader
oder Close Encounters of the Third Kind
Dieser Verführer da hat mich zu Venus oder Merkur oder Neptun oder so ähnlich getrieben. Dafür sei ihm eine zusätzliche Runde im Fegefeuer gegönnt. Aber schließlich will man ja mitreden können und nicht nur so irgendwie dagegen oder dafür sein in den Schlachten um die Deutungshoheit über die Wunder der Mechanisierung oder Digitalisierung. (Da linke ich besser nirgendwo hin, womöglich kriegt man den morbus seemannn von.)

Wo waren wir? Ach ja richtig. Ich ging also zu einem dieser Händler, die von Waschmaschinen über Taschentelefone bis hin zu Klapprechnern so alles anbieten, was elektrisch funktioniert. Ich dachte mir, dass die eben eine breitere Palette an Geräten anbieten und das ich dann so ein bischen vergleichen könnte. Dachte ich mir und dachte falsch. Irgendwie ist der Kapitalismus auch nicht mehr das, was er einmal war.

Es waren drei Geräte ausgestellt, die laut Preisschild e-reader sein sollten. Das erste war ein Tablett mit kleinem Bildschirm ( „Es bietet zusätzlich die Möglichkeit auch Bilder und Videos anzugucken.“ sagte der Verkäufer), das zweite arbeitete zwar mit e-ink-Technologie, stürzte aber sofort ab, wenn man ein Buch laden wollte ( „Ich weiß auch nicht, warum es nicht funktioniert. Es hat irgendwie eine Macke.“ sagte der Verkäufer und sah mich treuherzig an. Ich sah treuherzig zurück. Er machte keine Anstalten ein funktionierendes Gerät zu holen.), das dritte Gerät funktionierte prima und war mit einem Menu ausgestattet, aber nicht mit e-books. Na ja, könnte man sich ja vorstellen, also wie ein e-reader so mit e-books funktionieren würde, wenn es welche im Speicher gäbe (ich habe den Verkäufer zu diesem Gerät nichts weiter gefragt und so hat er auch nichts weiter dazu gesagt). Ich habe dann den Verkäufer nach dem Kindle oder Kaindel oder wie man das ausspricht fragen wollen. Er sah mich an, als hätte ich ihm in den Schritt gefasst.
„Wir sind hier bei S. und nicht bei A.“ „Nun gut“, sagte ich, „so genau habe ich mich nicht damit beschäftigt. Ich habe halt einen Erfahrungsbericht im Netz gelesen (hier und hier) und da wolle ich mir mal einige Geräte ansehen und vergleichen.“

Er sah mich treuherzig an.

Ich wartete darauf, dass er mir erkläre, dass sie den Kindle nicht führen, weil er exklusiv von einer anderen Firma vertrieben werde, sie aber folgende Geräte im Angebot hätten und dass diese die folgende Vor- und Nachteile hätten. Er sah mich weiterhin treuherzig an und wollte dann von mir wissen, wie viel denn der Kindle so kosten würde? Ich gab ihm nach bestem Wissen Auskunft, nämlich dass ich keine Ahnung hätte und mich für Preise erst interessieren würde, wenn ich herausgefunden hätte, ob ich so ein Gerät überhaupt will und welche Vorteile und Nachteile die Geräte der verschiedenen Hersteller denn so hätten.

Er sah mich treuherzig an.

Nun gut, dachte ich so für mich hin, man könnte natürlich jetze einen anderen dieser pickligen Jungs befragen, aber ich habe ja schon öfter mit pickligen Jungs zu tun gehabt, die einem zu verstehen geben, dass man, ohne sich vorher eingehend beispielsweise mit Anschlusskabeln für Digitalfernseher beschäftigt zu haben, so ein Elektrikgeschäft besser nicht betritt. Also besser nicht. Ich sagte also zu ihm:
„Ich habe von einem e-book-reader von der Firma S. gehört, der ganz gut sein soll?“
„Da muss ich mal gucken, ob wir den schon vorrätig haben.“
Sprachs und verschwand an seinen Kombuter, suchte und wurde fündig. Es ist gut, wenn die jungen Leute an ihren Kombutern was finden.
„Soll ich den für Sie aus dem Lager holen?“
„Das wäre sehr nett. Ich würde ihn mir gerne anschauen.“
„Welche Farbe soll es denn sein?“
„Das ist mir zunächst völlig Wurst. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob so ein e-reader überhaupt interessant für mich ist.“
„Sagen Sie das nicht.“
sagte er und wollte zu einer längeren Rede über Gerätefarben ansetzen.

Ich sah ihn treuherzig an.

„Soll ich einen schwarzen oder einen in Metallic Look holen?“
„Das ist mir egal, wie gesagt, ich will zunächst ...“
„Aber Sie müssen doch wissen, was Sie wollen?“
„Nehmen Sie einfach den, der als erstes auf dem Stapel liegt.“

Grummelnd zog er ab und kam nach einer Minute mit einem roten Gerät zurück. Mir war es recht.
„Soll ich es auspacken?“
„Das wäre sehr freundlich.“

Grummelnd öffnete er den Karton.
„Der S. ist noch nicht ausgestellt. Er wurde erst heute morgen geliefert.“ Ich nickte, er packte aus und drückte mir den Reader in die Hand.
„Nächste Woche ist er wahrscheinlich schon ausverkauft.“ sagte er. Ich sagte nichts, nickte freundlich und schaltete den Reader ein.
Menu okay, schlicht und selbsterklärend. Display okay, klar und scharf. Schriftbild okay, auch für längeres Lesen geeignet. Ich lud eines der drei installierten e-books. Darstellung okay, etwa eine Taschenbuchseite groß. Der geladene Roman war ein Krimi aus skandinavischer Standardproduktion. 250 Seiten. Ich blätterte durch den Roman, mal hier mal da einige Sätze lesend. Okay, angenehm. Um was geht es eigentlich in dem Roman? Zurückblättern, die Taste für das Menu findend, dann auch die Taste zum Anfang des e-books. Kein Inhaltsverzeichnis. Na okay, nicht jeder Roman hat eine Kapiteleinteilung. Ein anderes e-book geladen, kein Roman, irgend ein amerikanischer Standardschund über Männer und Frauen, die irgendwie so oder anders seien, diesmal mit Inhaltsverzeichnis. Der Verkäufer guckt in der Zwischenzeit treuherzig und wartet zunehmend genervt. Wahrscheinlich fragt er sich, ob ich kaufen werde oder nicht, ob sich ein Gespräch mit mir lohnt oder nicht. Sein Gesichtsausdruck sagt: Hoffentlich komme ich hier bald weg: Der Typ ist ja ätzend.
Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählt er mir etwas über die Verkaufszahlen des Vorgängermodells. Sie seien sehr gut gewesen. Diese Information hatte ich noch nicht und nicke ihm zu.

Also: Haptik scheiße. Ein dünnes Plastiktäfelchen, das einen zwingt dieses halbe Taschenbuch zwischen Daumen und Zeigefinger krampfend fest zu klemmen. Vor und zurück zu blättern, wenn es nur um eine oder zwei Seiten geht: okay. Zum Anfang finden: okay, wenn das Inhaltsverzeichnis mehrere Seiten umfasst ist es nicht so intuitiv wie bei einem gedruckten Buch die gewünschte Stelle zu finden, um sich einen Überblick über das Buch und seinen Inhalt zu verschaffen oder wieder ins Gedächtnis zu rufen, aber auch kein Drama. Was ich schon ahnte: E-Books zwingen zum sequenziellen Lesen, daher sind sie für komplexe Romane, die nicht linear erzählen und/oder ein umfangreicheres Figurenensemble haben, nicht geeignet. Komplexe wissenschaftliche Texte sind aufgrund des behinderten Überblicks über Argumentationsstrukturen wohl auf dem e-reader nicht sinnvoll zu lesen bzw. behindern das Verständnis.

Vorteil: ganz klar, man kann auf dem Teil mehrere hundert Texte mit sich schleppen. In Texten herumstöbern: leichter, angenehmer, schneller als im Netz oder Bücherschrank. Suchen nach Textstellen: solange man einen charaketeristischen Begriff parat hat, genau so unproblematisch wie im Netz, in dieser Hinsicht dem Bücherschrank oder einer Bibliothek weit überlegen. Die Suche nach Textstellen, die einem nur so ungefähr in Erinnerung sind, also der Art: In Wielands Abderiten gab es doch diese Rede von ‚wie hieß der noch mal’ über Demokrit. Von diesem griechischen Arzt vor der Ratsversammlung. Das war im dritten oder vierten Buch oder doch früher? Na, es fing auf jeden Fall unten rechts an und war in viele, relativ kleine Absätze geteilt, mit vielen K’s in Fraktur. Die Suche nach so erinnerten Textstellen ist auf dem Reader genaus so schwer wie im Netz. Wenn man den Titel des Textes nicht mehr weiß, also nur: ein modernerer Autor, aus einem Kleinverlag, den hab ich doch damals in den wilden 70ern, grüner Einband mit einem Aufkleber, dann kann man suchen und blättern wie man will. Weder im Netz noch in einer digitalen Bibliothek wird man da etwas finden. Aber okay, man kann nicht alles haben.

Wörterbücher kann man laden, wohl auch Übersetzungsprogramme, die ich nicht brauche und die nicht sinnvoll sind. WLAN-Anschluss vorhanden, für schnelles Nachladen zusätzlicher Bücher okay, Internetrecherche nicht möglich. Okay, man kann nicht alles haben. USB-Schnittstelle vorhanden.

Die Funktion zur Texteingabe habe ich nicht sofort gefunden und musste mich von Pickelgesicht daher darüber belehren lassen. Die eingeblendete Tastatur ist für einzelne Wörter, bestenfalls für Halbsätze tragbar, angenehm ist was anderes. Die Funktion zur Textmarkierung um Zitate zu kennzeichnen fand ich auch nicht. Pickelman fuhrwerkte mit einem und dann mit zwei Fingern so lange herum, bis er es geschafft hatte. Oh je, oh je, soll ich unter die Wischer und Grabbler gehen? Ich bekomme ja schon Anfälle, wenn ich die Schnösel digital natives in der Bahn hingebungsvoll ihre Ipfphones traktieren sehe. Da ist dann mein Distinktionsbedürfnis doch geweckt.

Ein zufällig vorbei kommender Kunde sagte mir dann, dass zum Lieferumfang auch ein Stift gehöre, der das Markieren und die Eingabe von Anmerkungen deutlich angenehmer mache. Leider hat das Gerät keine Führung, um den Stift direkt am Gerät zu verstauen. Ich habe natürlich sofort danach gesucht. Na okay, dann sucht man das Teil halt irgendwo auf dem Küchentisch. Irgendwo ist sind sie immer. Der Pickel nickte dazu und wollte sich dem neuen Kunden zuwenden, wenn ich nicht noch Fragen hätte. Hätte ich noch Fragen haben sollen? Jedenfalls erzählte mir der Kunde, dass er sich noch eine Hülle dazu gekauft hätte. Mit der Hülle sei das Gerät sehr viel angenehmer zu halten, erst dadurch sei ein Lesegenuss überhaupt möglich, weil man nur so das Ding vernünftig in der Hand halten könne. Er wäre nach anfänglicher Ablehnung inzwischen begeistert. Keine zehn Bücher mehr im Gepäck, Lesen am Strand auch bei Sonnenlicht völlig unproblematisch, eine rundum angenehme Sache. Und das Display des S., auch schon bei seinem Vorgänger, den er in Gebrauch habe, sei einfach das Beste, was es derzeit auf dem Markt gäbe. Der S. sei zwar etwa teuerer, die Qualität aber überzeugend. An dieser Stelle hatte ich den Eindruck, dass er ein Verkäufer der gleichen Firma ist, der nur an diesem Abend keinen Dienst hatte. Ohne-Pickel-Mann beriet mich dann noch geduldig, ohne den Pickelbuben mit seinen Wünschen weiter zu behelligen. Dieser war dankbar dafür und ich dachte, dass es nun aber genug sei und verließ das Geschäft.

„Sie können ja noch mal eine Nacht drüber schlafen!“ rief mir Prickelpit noch hinterher.
Das habe ich dann getan: „Bin ich für, muss aber nich sein!“

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Montag, 7. November 2011
Mon oncle,
der – wie er immer zu uns sagte – a Tschech war, kam mit der neuen Zeit nicht zurecht. Mit neuer Zeit meinte er die 60er Jahre in der Bundesrepublik. 1973 ist er dann mit 81 oder 82 Jahren gestorben, wenn ich mich recht erinnere. Er hieß Adolf (für den unaufmerksamen Leser: nein, seine Eltern haben ihn nicht nach dem Österreichischen Anstreicher benannt. Als er geboren wurde war der Adolfnazi noch kein berühmter Mensch.) Geboren in Kakanien, aus einer kaisertreuen Familie stammend, war ihm diese Streiterei der Parteien und insbesondere diese Studentenbewegung fremd. Er hatte in zwei Weltkriegen gekämpft oder eigentlich nicht gekämpft, denn er war ein sehr sanfter Mensch, der eigentlich nur mit Leuten reden, der Geschichten erzählen und von anderen Geschichten hören wollte. Er hatte eine Reihe unterschiedlicher Regierungen mit unterschiedlichen Ideologien und unterschiedlichen Zielen kennen gelernt und eine war ihm so Wurst wie die andere. Er gehörte im Laufe seines Lebens verschiedenen Nationen an und hatte gelernt, dass es unklug war, sich in dieser Frage dauerhaft festzulegen. Er tat still und ohne Diskussionen das, von dem er annahm, dass es von ihm erwartet wurde. Er ging wählen, weil das alle taten. Zu anderen Zeit ging er halt nicht wählen. Es war ihm egal.

Er arbeitete nur genau so viel, dass er nicht auffiel. Wenn dieses Maß erreicht war, unterhielt er sich mit seinen Kollegen und wenn ein Vorgesetzter meinte, nun sei es aber gut, arbeitete er weiter, um dann eine Stunde später wieder mit jemanden ein Gespräch zu beginnen.

In den beiden Weltkriegen war er – zumindest erzählte er so davon – intensiv damit beschäftigt, nichts zu tun. Nach seinen Erzählungen schien er es geschafft zu haben, immer weit ab von Kampfhandlungen in den jeweiligen Etappen, Urlaubsscheine auszustellen, Kleidung zu verwahren oder irgendetwas zu bewachen. Er konnte kenntnisreich über die Verpflegung der verschiedenen Armeen erzählen. Am Besten sei sie in der tschechoslowakische Armee gewesen. Uns Kinder interessierte das nicht. Er sprach nie darüber wie er zu seiner labilen Gesundheit gekommen war. Vielleicht hatte es mit dem Heraushalten doch nicht immer perfekt geklappt?

Als Kind mochte ich ihn nicht, weil er schrecklich nach billigen Zigarren roch. Das Zeug hieß 10er-Stumpen, weil das Stück einen Groschen kostete.

Meine Tante hatte er 1943 (?) in Prag kennen gelernt. Wie meine Tante nach Prag kam und wieso Onkel Adolf zum Volksdeutschenwurde, so dass sie problemlos heiraten konnten, weiß ich nicht. In dieser Region mendelte sich über die Jahrhunderte ja so einiges zueinander. Er sprach deutsch mit starkem Akzent. ( „Ols dann die Deitschen noch Prag kommen, bin ich ja auch a Deitscher worn. War gar nicht schlecht, mecht ma sprechen. Net so scheen wie jetzt hier, aber ganz gut.“ )
Er hatte sich sein ganzes Leben den jeweiligen Umständen angepasst und er hatte das Pech immer in einem einigermaßen passenden Lebensalter zu sein und so für die Armeen der jeweiligen Zeiten zumindest so weit passend zu sein, dass er mitmachen musste.

An Onkel Adolf musste ich denken als Samstagnachmittag die Dokumentation über Siegfried Müller auf Arte wiederholt wurde. Unterschiedlicher können zwei Menschen, die in der gleichen Zeit gelebt haben und die die meiste Zeit ihres Lebens Soldaten waren, nicht sein. Wenn Sie sich die Dokumentation über Siegfried Müller antun wollen, können Sie das auf auf der Tube tun. Man braucht dafür allerdings einen starken Magen.

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Montag, 31. Oktober 2011
Occupy the Seitenstreifen
Nach kleinen Anfängen



wächst die Bewegung



sie wächst



und wächst,

irgendwann wird sie keiner mehr stoppen!

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Mittwoch, 26. Oktober 2011
Lob der Spelunke
Über Spelunken, Kaschemmen, Bierschwemmen u. ä. kann man viel Negatives berichten. Ich könnte ja durchaus auch davon berichten, dass ich zu der Zeit als ich noch in Rixdorf wohnte jeden Morgen auf dem Weg zur U-Bahn am Bierhimmel vorbei musste. Der Bierhimmel schloss seine Türen immer morgens von 8 Uhr bis 9 Uhr, um die Hinterlassenschaften der Gäste des Vortages und der Nacht zu entsorgen. Zu diesem Zweck wurde auf den Boden der Kneipe reichlich Reinigungsmittel aufgetragen und dann mit zwei Schrubbern kräftig durchgewienert. Nachdem aller festgetretener Schmutz vom Fliesenboden gelöst war, wurde mit reichlich Wasser gespült. Die so entstandene Moorlauge wurde dann mit den Schrubbern der Einfachheit halber auf den Bürgersteig und anschließend in den Gully gefegt. Für den Kneipenbetreiber ist das durchaus eine praktische und kostensparende Angelegenheit, für mich als Passant war die Brühe auf dem Bürgersteig unerträglich. Es stank nach Bier, Schweiß und Pisse und wem die Kellner die braun-gelbe Brühe an das Hosenbein fegten, der hatte auf der Arbeit einiges zu erklären oder er musste wieder nach Hause, um sich eine frisch gewaschene Hose anzuziehen. Ich war nach dem ersten Unfall so clever, fünfzig Meter vorher die Straßenseite zu wechseln. Wie gesagt, über Spelunken lässt sich viel Unerfreuliches berichten.

In Spelunken kann man aber auch richtig schöne Dinge erleben.

Ich erinnere mich an ein besonders schönes Exemplar, ein Neuköllner Schlauchlokal, kaum 5 Meter breit und zwanzig Meter lang, mit Pissrinne für die Herrn und Toilette für die Damen am Ende des Raumes in einer Art abgeteilten Verschlag. Die Hälfte der Kaschemme wurde vom Tresen belegt, gegenüber gab es noch einige Barhocker an in der Wand verschraubten Abstelltischchen. Einige Spielautomaten, die von einem Stammgast am Tresen regelmäßig mit Münzen versorgt wurden, fanden neben dem Eingang Platz. Das Speisenangebot bestand aus geriffelten Pommes, wahlweise mit Schweineschnitzel oder Wurst, die vorgebraten waren und in der Fritteuse bei Bedarf aufgefrischt wurden. Der nicht zu leugnende Vorteil der Kneipe war, dass an der Eingangstür ein kleines, weil anscheinend täglic gewienertes, blitzendes Messingschild mit der Aufschrift: „seit August 1961 geöffnet“ angebracht war. Berlin hatte ja das Garaus-Geläute schon 1949 abgeschafft. Ob die Pinte irgendetwas mit dem Mauerbau zu tun hatte, habe ich nie heraus gefunden. Vielleicht ist der Besitzer aus Ost-Berlin geflüchtet? Oder er betrachtete sich als ersten Anlaufpunkt für Flüchtlinge, schließlich lag die Mauer nicht sehr weit weg? Nun ja, ich weiß es nicht. Der Vorteil war: es war immer geöffnet und es gab immer etwas zu essen und zu trinken. Und aus diesem Grund war ich gelegentlich des Nächtens, wenn ich von einer Sauftour mir mal einen netten Abend gemacht hatte, ich hungrig war, nicht anderes mehr auf hatte und zuhause mal wieder nichts im Kühlschrank bereit lag, und noch Lust auf eine Runde Feldforschung verspürte, in dieser Kneipe.

Der Name der Kneipe war übrigens Tweety. Eines Nachts wurde ich am Tresen über die Vorteile der Pissrinne haarklein informiert. Ich hatte zwar nicht das Bedürfnis meinen Wissensschatz zu diesem Thema zu erweitern, wurde nichtsdestotrotz darüber informiert, dass die Pinkelrinne das Pissen im Stehen erlauben würde, zudem für Zwerge und Riesen gleichermaßen geeignet („Versuch mal mit Anzug und Krawatte, also wenn de von der Beerdigung kommst oder so und wenn de dann noch so klein bist wie ich am Pisspot, also nichts wie Probleme, kann ich dir sagen.“) und zudem einen Massenansturm von Bedürftigen und Beladenen locker bewältigen könne. Hätten Sie das gedacht?
Über manche Dinge macht man sich einfach zu wenig Gedanken.

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Freitag, 14. Oktober 2011
Im Streit
In der Bahn, Tochter zur Mutter:
Du bist ja gar nicht wichtig. Du hast ja keinen Blackberry!"

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Mittwoch, 31. August 2011
Emanzipation
Auf der Warschauer Brücke: ich überhole ein blutjunges Punkerpärchen. Drei Schritte weiter höre ich eine Stimme hinter mir:

„Ey, jetzt wart doch mal!“
„Was’n?“
will ihr Kerl wissen.
„Jetzt wart doch mal!“
„Hng?“
„Jetzt wart doch endlich, da machen mich ein paar alte Säcke blöd an! Stefan! Sag doch was!“


Also, denke ich so bei mir: In meiner Jugend hätten die Punkmädels die „alten Säcke“ völlig ohne Hilfe des dazugehörigen Kerls angerotzt. Etwa so: „Ey, du blöder Sack, brauchst du eins aufs Maul?“

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Donnerstag, 25. August 2011
Über Sex und Heuschnupfen
Twiggy, wörtlich übersetzt: ein dünner Zweig , wird kaum noch jemand ein Begriff sein, eigentlich ist es auch nicht weiter schade drum. Na wie dem auch sei, Tatsache jedenfalls ist, dass wir als pubertierende Knaben Ende der 60er Jahre all unsere erwachenden Phantasien auf Twiggy konzentrierten. Modern war sie damals, groovy nannten wir das und ihr Minirock trieb uns das Testosteron in die Lenden. Das Wichtigste aber war, dass sie völlig anders als unsere eher spießigen Klassenkameradinnen wirkte, sie verkörperte eine Ahnung wilder & ausschweifender & ungezügelter Sexualität, genauer unserer damaligen Vorstellungen davon. Für 13, 14 oder 15-jährige Jungs ist das auch völlig in Ordnung. Mit Mrs. Robinson hingegen konnten wir nichts anfangen und ob eine der beiden mit Heuschupfen zu kämpfen hatte, weiß ich nicht.

Die Referendarin hingegen, die vertretungsweise einige Wochen bei uns Englisch unterrichtete, sah nicht nur Twiggy ähnlich, genau genommen trug sie lediglich ausnahmslos Miniröcke in diesem heißen Sommer, war schlank aber nicht so schauerlich dürr und trug ihre blonde Haare genauso kurz, sondern litt schrecklich unter Heuschnupfen. Damals gab es wohl noch keine wirksamen Medikamente gegen Heuschnupfen.

Tag für Tag kam sie mit rotgeränderten Augen, schniefend und übernächtigt in den Unterricht, setzte sich auf das Lehrerpult, bat für ihre Rotznase und heisere Stimme um Entschuldigung und erklärte uns, dass sie sich setzen müsse, um nicht vor Schwäche umzufallen.

Die Frauen in unsrer Klasse waren ob ihrer selbstverständlichen Weiblichkeit und deren Wirkung auf die Männerwelt unangenehm berührt, wir Jungs waren sofort verschossen.

Nicht sehr konzentrationsfördernd wirkten sich unsere Blicke unter den Minirock vorne auf der Lehrerbank aus. Natürlich konnte man nicht wirklich etwas sehen, außer einer Strumpfhose, die unter dem Rock verschwand. Für unsere Phantasien war das aber völlig ausreichend.

Für den Direktor unserer Schule war die Vorstellung, was wir uns vorstellten auch völlig ausreichend, die Referendarin war irgendwann nicht mehr da, über die Gründe ließ sich nichts herausfinden.

Warum nun ist mir das nach so vielen Jahren wieder ins Gedächtnis gerutscht? Das kam so: aus Gründen, die mir nicht mehr erinnerlich sind, wollte ich wissen, ob Johannes Agnoli, bei dem ich die eine oder andere Veranstaltung besucht habe, noch lebt und beim suchen ist mir der Gründungaufruf des Republikanischen Clubs vom Mai 1967 auf den Bildschirm gefallen und bei der Gelegenheit dachte ich so bei mir: Wann wurde eigentlich der Club Voltaire in Tübingen gegründet, den wir Anfang der 70er häufiger besuchten? War das um die gleiche Zeit?
Auf einer der Veranstaltungen im Club Voltaire (unter anderem sah/hörte ich da Poesie & Musik zum ersten Mal, ich glaube mit ihrem Heineprogramm) habe ich auf jeden Fall/glaube ich einige Jahre später unsere Englischlehrerin wieder gesehen.

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Donnerstag, 11. August 2011
„kriminalnie organisatz“
schrie der jüngere Bruder von Feridun Zaimoglu (zumindest hätte er es sein können, wenn man ihm ins Gesicht blickt) in sein Taschentelefon, als ich an ihm vorbeiging.

Dann folgte eine prachtvolle Schimpfkanonade ("нецензурные выражения" ist der Fachausdruck wie ich mich habe belehren lassen), so schön habe ich dergleichen schon lange nicht mehr gehört:
“собака, авторучить, алик, ёб твою мать“
oder so ähnlich, schließlich kann ich kein russisch. Die Sprachmelodie und die schiere Fülle von Ausdrücken war berückend. Schade, dass ich nicht mitbekommen habe, was den jungen Mann denn so erbost hat. Irgendjemand hat ihn wohl böse herein gelegt.

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Dienstag, 9. August 2011
Unbezweifelbar authentisch
Ein Mann um die 40, schütteres, feuchtes Haar, aufgeschwemmtes, zerfurchtes Gesicht. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift:
„Wer nicht kotzt, säuft nicht am Limit.“

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Donnerstag, 4. August 2011
„Überholen ohne einzuholen“
schoss mir durch den Kopf als eine junge Frau, zunächst sportlich rechts an der Ampel überholte, dann uns leicht schneidend, vor uns wieder in den Strom der morgendlichen Fußgänger zum Bahnhof einfädelte, um dann unverzüglich zu einem wackelnden Trippelschritt abzubremsen. Walter Ulbricht wird wohl etwas anderes im Kopf gehabt haben als er dieses Bild 1957 schuf.

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