Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Donnerstag, 16. Februar 2012
Masse und Individuum
Wenn ich früh morgens zur Arbeit gehe, muss ich an einer großen Verwaltung vorbei. Dann wird es voll. Ein unendlicher Strom an Menschen kommt mir vom Bahnhof entgegen und strebt in einen der Seiteneingänge dieser Verwaltung. Müssen die alle zur gleichen Zeit anfangen?
Aber davon wollte ich nicht erzählen.

Im Winter schieben bekanntlich alle Schneeräumer und Schneeräumerinnen ihren Schnee links und rechts des Gehweges auf die Seite. Wohin auch sonst, werden Sie jetzt nicht ganz unberechtigt einwenden. Schon, würde ich dann entgegnen, aber dadurch verengt sich die Gehrinne im Lauf des Winters doch erheblich. Ich kann dann nicht mehr neben meiner Frau gehen und das ist ziemlich doof, weil wir uns ganz gerne auf dem Weg unterhalten und überhaupt.
Wenn sich nun, wie in den letzten Tagen, der Weg auf einen schmalsten Pfad verengt hat, trippelt die unübersehbare Masse der Verwaltungsangestellten in einer feinen Linie ohne den geringsten Zwischenraum vom Bahnhof bis fast vor meine Haustüre. Diese erdrückende Masse zwingt uns nun, auf dem verharschten Schnee zugehen, in den man zu allem Überfluss, mit einem spürbaren Ruck, einbricht. Wahrscheinlich war es so ähnlich auf dem Yukontrail, als Jack London, dem Golde nach strebend, schwerbeladen den Chilkoot Pass zu überwinden trachtete. Nur dass er eben den Vorteil hatte, dass ihm, im Gegensatz zu mir, auf dem Wege über die verschneiten Pässe der Boundary Ranges eben kein Strom an Kontrahenten entgegen kam und ihn vom rechten Wege abdrängte. Der Glückliche!
Ich hingegen leide unter der entgegenkommenden Masse, die uns beiden bedauernswerten Individuen keine Chance lässt, etwa durch Lückenhooping (auf der Autobahn nervt das ja gewaltig) schneller und bequemer voran zu kommen.

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Montag, 30. Januar 2012
Im Vorbeigehen aufgeschnappt
„Kreativer Kindertanz wäre mir für meine Tochter auch lieber, aber die Tanzlehrerin ist mehr so eine klassische Balletttänzerin, die kann das nicht.“
Ist kreativer Kindertanz sowas wie hopsen, aber für Geld?

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Dienstag, 24. Januar 2012
Fahrraddiebe
Mal wieder Freiburg Mitte der 70er Jahre. Ich wohnte damals im Wohnheim der Zivildienstleistenden und wie das eben so ist mit jungen Männern, die zum ersten Mal weg von zuhause sind, da geschehen Dinge, an die man sich auch noch Jahre später recht vergnügt erinnert. Wenn ich an unsere Nacktwannenpartys denke … Aber darum soll es heute nicht gehen.

An einem dieser Sonnabende an denen wir einigermaßen früh aufstanden, um noch vor dem großen Touristenansturm auf dem Bauernmarkt am Münster einzukaufen, schälte ich mich aus dem Bett, hielt meinen Kopf unter die Dusche und versuchte mich an den gestrigen Abend zu erinnern. Wir waren im Reichsadler gewesen, einer Kneipe, die am Kirchentag der Katholiken (ziemlich gefährlich übrigens, so ein Kirchentag) sogar von den Kirchentagsteilnehmern heimgesucht worden war, damals normalerweise aber die übliche Mischung aus jungen Leuten, Drogenfahndern und Verfassungsschützern aufwies. Wir hatten Skat oder Doppelkopf gespielt und es war spät geworden. Wir wankten heim nach Herdern, nur der lange, dürre S. (?) hatte gesagt, dass er mit seinem Fahrrad nach Hause fahren wollte. Wir hatten ihm abgeraten, da er Schwierigkeiten hatte durch die Tür der Gaststätte zu treffen. Okay, wir wankten nach Hause und er wankte um die Ecke zu seinem Fahrrad. Wir kamen alle wohlbehalten zu Hause an.

Am Frühstückstisch sahen wir uns alle wieder, etwas ramponiert, aber guter Dinge. Kaffee trinken, noch eine Runde quatschen, eine Zigarette und dann los zum Wocheneinkauf.
Vor der Haustür sehe ich den S. verzweifelt den Fahrradständer durchsehen.
„Wo ist denn nur mein Fahrrad geblieben?“
„Keine Ahnung, du bist doch gestern Abend damit nach Hause gefahren, oder nicht?“
„Ich glaube ja, doch, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mit dem Rad gekommen bin.“
„Ziemlich sicher?“
„Natürlich, hier ist doch mein Fahrradschlüssel.“
Er hielt mir den Schlüssel vor das Gesicht.
„Ja schon, das ist dein Schlüssel, aber das heißt doch nicht, dass du mit dem Rad auch gefahren bist.“
„Stimmt, aber welches ist mein Rad?“
„Wenn du das nicht weißt?“
„Es ist blau, denke ich?“
„Tja, wenn du es nicht mehr weißt, dann musst du eben alle Räder versuchen aufzuschließen und das Schloss, das du öffnen kannst, gehört zu deinem Rad.“

Und das machte er dann auch, der S. Nach zehn Minuten hatte er das Rad gefunden, öffnete das Schloss, der Riegel schnappte zurück und gab die Speichen frei. Er beäugte das Rad dann misstrauisch und drehte sich zu mir um.
„Das ist nicht mein Rad.“
„Das ist nicht dein Rad?“
fragte ich.
„Niemals, an meinem Rad war ein Schutzblech lose, dieses hier ist tipp topp und sauber. Das kann nicht mein Rad sein. Ich habe mein Rad noch nie sauber gemacht.“
„Aber der Schlüssel passt?“
„Ja, aber das ist nicht mein Rad.“

Wir sahen uns an, dann sagte er:
„Vielleicht habe ich gestern aus Versehen ein Fahrrad geklaut?“
„Aus Versehen?“
Ich musste lachen.
Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Verzweiflung.
„Was soll ich denn jetzt machen?
Ich musste noch einmal lachen.
„Na, am besten gehst du zu den Bullen und sagst, Guten Tag, mein Name ist S. Ich habe aus Versehen ein Fahrrad geklaut.“
Ich stellte mir die Gesichter der Polizisten vor und musste lachen.
Auf seinem Gesicht machte sich Panik breit.
„Meinst du?“
Dann dachte ich, es werde Zeit seine Wirrnis zu kanalisieren.
„Weißt du was? Du fährst jetzt mit dem Fahrrad zum Geier, suchst alles ab und wenn dir ein dreckiges Rad mit losem Schutzblech begegnet, siehst du es dir genau an. Vorher gehst du aber noch einmal auf dein Zimmer und sucht einen anderen Fahrradschlüssel und mit dem probierst du dann die, dir bekannt vorkommenden Räder aus. Okay?“
Erleichtert machte er sich von dannen und kurz danach kamen auch alle anderen aus unsrer Truppe und wir machten uns auf den Weg in die Innenstadt. Unterwegs erzählte ich ihnen von dem Problem des S. und so beschlossen wir, vor dem Einkauf noch einen Abstecher zu machen und den S. bei seinem Fahrradproblem zu unterstützen.

Als wir ankamen, stand der S. schon da. Er hatte sein Fahrrad gefunden und auch aufgeschlossen.
Wir beglückwünschten ihn. Er hatte sein Fahrradproblem leichter Hand selber gelöst.
„Na, siehst du, alles kein Problem!“ sagte ich. Er sah mich unglücklich an.
„Ich habe keinen zweiten Schlüssel?“ sagte er zaghaft.
„Wie jetzt?“
„Na, dieser Schlüssel mit dem ich das fremde Fahrrad vorher aufgeschossen habe, das passt auch zu meinem Fahrradschloss.“
„Lass mal sehen.“

Und
„Tatsächlich.“
Und
„Der Schlüssel passt in beide Schlösser.“
Und
„Wie kann das sein?“
„Wahrscheinlich hat der Hersteller nur eine beschränkte Anzahl von Schlössern und dazu passenden Schlüsseln?“
„Schon möglich, aber ausgerechnet hier vor der Kneipe und direkt neben meinem Rad? Das ist unmöglich.“
„Vielleicht hat der Hersteller nur zehn verschiedene Schlösser.“
„Lass uns mal noch einige weitere Schlösser ausprobieren.“

Und das taten wir dann auch, aber kaum hatten wir ein weiteres Schloss geöffnet, kam ein Streifenpolizist vorbei und wir machten uns auf den Weg zum Einkaufen.

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Donnerstag, 19. Januar 2012
Die rauchende progressive Universalpoesie
Im ersten Semester meines Studiums bin ich in der ersten Vorlesungswoche in geschätzt zwanzig Einführungsveranstaltungen von Grundkursen gegangen, um die Dozenten zu begutachten und mangels feststehender Vorlieben für bestimmte Epochen oder Texte, mir von dem Angebotenen irgendetwas herauszusuchen, das Freude am Gegenstand und Zugang zu wissenschaftlicher Beschäftigung mit Literatur versprach.
An die neunzehn ausgesiebten Veranstaltungen kann ich mich nicht mehr erinnern. Deutlich wurde allerdings, dass in vielen Grundkursen Selbstdarstellungskünstler unter den Studis und den Dozenten reichlich im Angebot waren. Ob ich mir eine Liste der auf jeden Fall zu vermeidenden Autoren und Texte und natürlich auch bestimmter Dozenten anfertigte, weiß ich nicht mehr. Sinnvoll wäre es auf jeden Fall gewesen.

Hängen geblieben bin ich bei einem Grundkurs über die Frühromantik. Der Dozent, Prof. H.-G. R. war lustig und demonstrierte ad personam mit seiner überbordenden Egozentrik ganz gut das frühromatische Genieideal.
Es war ‚reine’ Literaturwissenschaft, die sich um eine soziohistorische Bestimmung nicht groß scherte. Das ist ja nicht das Schlechteste.

An was ich mich erinnern kann ist Lucinde, ein Roman von Friedrich Schlegel, den ich als grauenhaftes Gestoppel in Erinnerung habe und eben die progressive Universalpoesie.
„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird. Die romantische Poesie ist unter den Künsten was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.“
(Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente 116)
Ich weiß noch, dass mir als Erstes durch den Kopf schoss: Ziemlich große Fresse, der Schlegel. (Nebenbei: Romantik meint hier romanhaft)

Bei Durchsicht der alten Reclamausgaben fällt auf, dass ich mich wohl einigermaßen intensiv mit Schlegels Brief über den Roman auseinandergesetzt habe. Hier sind die meisten Unterstreichungen sichtbar. Was der Friedrich Schlegel zum Roman meint, ist mir aber nicht in Erinnerung geblieben, obwohl ich mich für Romantheorie immer schon interessiert habe.

Sehr deutlich in Erinnerung ist mir aber nach all den Jahren die Lex R. Dabei handelt es sich, wie uns schon in der Einführungssitzung mitgeteilt wurde, um das nach dem Dozenten benannte Gesetz, dass im Seminar niemand rauchen dürfe außer dem Dozenten und auch der dürfe es nur aus dem geöffneten Fenster (demnach konnte es sich nur um das Sommersemester gehandelt haben) paffend. Die Begründung war so einleuchtend wie simpel. Wenn ihm das Rauchen nicht gestattet würde, könne er kein Seminar abhalten und wenn jeder, der rauchen wolle auch rauche, sei es für die Nichtraucher unerträglich.
Das Seminar war lustig und einigermaßen ertragreich, auch wenn einem vor lauter Arabeskengeklingel ganz komisch im Magen wurde und bis auf die Selbstdarstellungskünste einiger höherer Semester, die wie unser Dozent süffisant anmerkte, wohl nur in einen Grundkurs kämen, um neue Bewunderer zu rekrutieren.

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Dienstag, 10. Januar 2012
Über Räucherwürste und Polizeidienst
Ich habe ja schon das eine oder andere Mal einen Schwank aus meiner Freiburger Zeit, Mitte der 70er Jahre erzählt.

Als ich letztes Jahr mit meiner Liebsten im Kaiserstuhl zum Wandern, Wurstsalat essen und Wein trinken war, stand natürlich auch ein Abstecher nach Freiburg auf unsrem Programm. Nach einem kleinen Einkauf auf dem Markt am Münster schlenderten wir durch die Altstadt und ich linste in die eine oder andere Gaststätte, sofern sie mir bekannt vorkam. Nun ja, es hat sich sehr vieles verändert und selbst Lokale, die in den 70ern schon seit 300 Jahren Ortsansässig waren, existieren nicht mehr oder sind zu Touristenkaschemmen verkommen. An einer Dönerbude blieb ich stehen und sinnierte in mich hinein.
„Was ist?“ wollte meine Frau wissen.
„Hm? Ich glaube, hier neben dem Dönerladen war mal ein Photo-Porst?“
„Tja und nun nicht mehr oder hast du damals bei Photo-Porst deine erste große Liebe … ?“
„Nein, nein, aber neben Photo-Porst lag damals eine Kneipe, glaube ich.“
Sie sah mich an.
„Also“, sagte ich, „diese Kneipe damals, das war so eine ganz schöne Kneipe, holzgetäfelt und mit großen Tischen und netten Kellnerinnen, zwischen Photo-Porst und einem Durchgang, ich glaube zu einem kleinen Platz, in dem Durchgang war ein Kino, ein wunderschönes Kino, in das wir damals viel gingen und nach dem Film tranken und aßen wir dann noch eine Kleinigkeit in dieser Kneipe. Hm? Aber hier ist kein Durchgang? Dann kann das auch hier nicht gewesen sein.“
„Nein, hier ist kein Durchgang.“
Wir schlenderten weiter.
„Weißt du, diese Kneipe …“
Sie sah mich an.
„Also, eines Abends, als wir aus dem Kino kamen, welcher Film lief weiß ich natürlich nicht mehr. Auf jeden Fall habe ich in dem Kino mal „Jules und Jim“ gesehen, aber wahrscheinlich nicht an diesem Abend? Na egal, auf jeden Fall war – glaube ich – der R. dabei, von dem ich dir schon mal erzählt habe, der bei irgendeiner dieser K-Gruppen und dessen Revolutionslosung „Jägerschnitzel für alle!“ war, weil Jägerschnitzel für ihn das kulinarisch Anspruchsvollste der Welt darstellte. Na egal. Ich glaube, die – wie hieß sie gleich nochmals? – die damals mit diesem einen Kumpel meines Bruders zusammen war, na egal, deren Bruder war auf jeden Fall bei der Polizei von Baden Württemberg und erzählte von seinem Polizeiposten im Hochschwarzwald. Wahrscheinlich gibt es heute gar keine Polizeiposten auf dem Lande mehr?“
„Nein, wahrscheinlich nicht. Was wolltest du von dem Polizisten erzählen?“
„Ja also, ich fragte ihn in der Kneipe, nachdem wir alle unser Viertele und etwas zu essen bekommen hatten, was er denn so mache. Er erzählte dann begeistert, nachdem er mich zunächst kritisch gemustert hatte, von seinem Leben in dem kleinen Ort, von den Besoffenen, die er nach den Festen aus dem Auto holt und wie er den Frauen Bescheid gibt, damit sie ihre besoffenen Männer von der Wache abholen und nach Hause bringen, wie er Jugendliche zusammenstaucht, wenn sie über die Stränge schlagen und davon, dass einige Bauern einmal im Jahr auf der Wache vorbeikämen, um eine Flasche Selbstgebrannten und Schinken und Räucherwürste vorbei brächten. Man kennt sich halt, die Kinder gehen in die gleiche Schule, man ist zusammen bei der freiwilligen Feuerwehr und sofern es nicht um ernste Vergehen ginge, müsse man halt auch mal ein Auge zudrücken. So ein Polizeiposten auf dem Lande wäre ja etwas völlig anderes als in einer größeren Stadt. Er erzählte sich in immer größere Begeisterung und konnte gar nicht mehr aufhören von Räucherwürsten und Dorffesten zu schwärmen.“
„Er scheint ja ein netter Kerl gewesen zu sein?“
„Ja, unbedingt. Irgendwann fragte ich ihn dann, ob es ihm – vor allem im Winter, wenn alles zugeschneit und eine Fahrt nach Freiburg gefährlich und anstrengend würde - nicht manchmal die Decke auf den Kopf fallen würde?“
„Ist das denn schwierig im Winter aus den Bergen nach Freiburg zu kommen?“ wollte meine Liebste wissen.
„Damals schon, damals wurde auf den Nebenstrecken im Schwarzwald nicht gestreut. Eine Fahrt nach Freiburg war im tiefen Winter ein Abenteuer. Heute wird wahrscheinlich für die Wintersportler alles mit Streusalz oder Fahrbahnheizung oder was weiß ich eis- und schneefrei gehalten.“
„Ah ja, aber erzähl weiter.“
„Na ja, auf die Frage, ob es da oben nicht manchmal auch einsam würde, schwieg er eine Weile, trank dann einen großen Schluck Wein und sah mich direkt an: „Weißt du, bevor ich mit meiner Frau – inzwischen haben wir zwei kleine Kinder – in den Schwarzwald gezogen bin, war ich bei der Bereitschaftpolizei. Eines Abends haben sie uns in Mannschaftswagen gesetzt und wir sind mehrere Stunden in Kolonne ins Badische gefahren worden. Wir saßen die ganze Nacht in voller Einsatzausrüstung im Wagen, morgens nur einen Kaffee, kein Frühstück und dann ab auf eine Demonstration. Übernächtigt und hungrig sollst du dann eine Demonstration begleiten und wenn es Ärger gibt, kommt die Anweisung die Demonstranten in Seitenstraßen abzudrängen.“ Er sinnierte einen Moment in sich hinein. „Weißt du, G., da gab es eine Situation, da stand ich plötzlich neben mir und habe gesehen, wie ich mit aller Kraft auf mir völlig unbekannte Leute eingedroschen habe, immer und immer wieder. Da habe ich mich gefragt: was machst du eigentlich hier?“ Er sinnierte wieder in sich hinein. „Na ja, zuhause habe ich das meiner Frau erzählt und sie meinte dann, wenn ich nicht in zehn Jahren mit Magengeschwüren oder einem Alkoholproblem landen wolle, müssten wir uns etwas überlegen. Zwei Monate später habe ich mich auf die freie Stelle oben bei Titisee-Neustadt beworben.“ Wir tranken einen Schluck. „Seit dem habe ich keine Magenprobleme mehr, die Kinder sind glücklich und meine Frau und ich verstehen uns prächtig.“ Er trank einen Schluck. „Es war die beste Entscheidung meines Lebens.“

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Montag, 12. Dezember 2011
Über Päpste, Fahrradkuriere und gewisse Erscheinungen
In Kreuzberg, da wo es schon friedrichshainig wird, machen sich immer mehr gastronomische Erscheinungen breit, die einen fuchtig machen können.

In eine dieser Erscheinungen war ich eingeladen, freiwillig wäre ich wohl nicht hingegangen.

Als ich fragte, ob sich denn der Name englisch, französisch oder deutsch ausspräche, erntete ich von der Kellnerin einen Blick als hätte ich ihr unter den Rock gegriffen. Nun ja, ich wurde kellnerhöflichst knapp belehrt, die dazu servierte Miene sagte: wie kann man so etwas Blödes fragen?

Nun ja, könnte man natürlich denken, wenn man das Wort in einem englischen oder französischen Wörterbuch nachschlüge, ob man weise und klug oder brav und artig als Name für eine gastronomische Erscheinung wählt oder sogar noch etwas unsägliches aufgetischt bekommt, das ist doch eine Nachfrage wert?

Weise und klug war es jedenfalls nicht ‚Wiener Schnitzel mit lauwarmem Kartoffel-Vogerlsalat‘ auf die Speisekarte zu setzen und Schnitzel und Salat dann in der Mikrowelle so lange zu lassen bis sich der Gast – in diesem Fall ich – an Salat und Schnitzel den Mund verbrennt. Man hätte das Wiener Schnitzel vielleicht nicht original nennen sollen sondern ‚Kalbsschnitzel aus der Mikrowelle- all well done‘ oder so ähnlich. Außerdem will ich für 19 Euro auf einem Wienerschnitzel die klassische Garnitur mit Zitronenscheibe, Sardelle und Kapern.

Nun ja, diese gastronomische Erscheinung liegt in jenem Teil Kreuzbergs, der früher als die Mieten noch billig und die Frauen schön waren, direkt an der Mauer lag und damit so angenehm weit ab vom Schuss, dass sich die Kreuzberger Alternativmafia erst sehr spät dafür interessierte. Auf der Straße spielten die Kinder und die Anwohner waren mehrheitlich aus der Türkei und stellten gerne einen Tisch und mehrere Stühle vor ihre Haustür, um abends mit der Familie noch einen Tee zu trinken und mit den Nachbarn zu plauschen. Heute ist es eine Durchgangsstraße mit Schwerlastverkehr und die Maueridylle ist passé.

Nun ja, was es noch immer gibt, sind Fahrradkuriere, die in einer irren Geschwindigkeit durch die Stadt rasen. Wenn sie auf dem Bürgersteig knapp an einem vorbeidüsen überkommt mich ja immer die unbändige Lust mal einen vom Rad zu treten. Aber das gehört nicht hierher.
Vor einiger Zeit war ich mal wieder in der Gegend, sah mich um, registrierte die Veränderungen und kramte in meinem Gedächtnis. Irgendwo hier hatte ich doch mal eine Kurzzeitbekanntschaft? Oder war es doch weiter östlich in der Eisenbahnstraße?

Nun ja, plötzlich hörte ich hinter mir brüllen:

„… von hinten. Du musst von hinten kommen!“

Der Kurier bretterte an mir vorbei und sein stetes Brüllen:

„… von hinten. Da ist keine Straße. Du musst von hinten kommen!“

verliert sich mit der Entfernung.

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Montag, 5. Dezember 2011
Vögel,
diese übrig gebliebenen Dinosaurier, das müssen Sie doch zugeben, sind ein fürchterliches Volk.

Früher, in den goldenen Zeiten, kackten zwar Heerscharen von Tauben die Stadt voll, aber immerhin konnte man verhalten hoffnungsvoll in die Zukunft sehen, Erna und Kurt sei Dank, heute sind die goldenen Zeiten der Taubenplage („geflügelte Ratten“ Woody Allen) vorbei. Unwiederbringlich. Kein sanft enervierendes gurr-gurr-gurr unterbricht den sonntäglichen Mittagsschlaf, kein deppertes Flügelschlagen und abkoten über dem eigenen Kopf verleidet einem die Zeitungslektüre und auch die aufgeblasenen Hälse der Columba livia forma domestica, dabei dem weiblichen Tier unermüdlich hinterherjagend, werden wohl bald der Vergangenheit angehören. Ich fürchte, wir werden uns noch alle danach zurücksehnen, denn schon bald taucht eine neue, ernstere, weil nervtötendere Spielart der Belästigung auf gegen die Erna und Kurt nicht auszurichten vermögen:
„Grruuar, grruar“, schnarrt dieses lärmende, aggressive Volks, die Krähen das sich anschickt die Tauben auf der Lästlingsskala (die Latte-Macchiato-Muttis sind in dieser Beziehung natürlich nach wie vor unangefochten an der Spitze aller Widrigkeiten, die dem gemeinen Städter das Leben schwer machen) zu überholen. Sie veranstalten ein Gezeter, wenn ein Regen droht. Irgendwann muss ich eines dieser Mistviecher fragen, warum sie das tun. Beschwören sie ihren Krähengott? Oder ist es wie bei den Italienern, die bei einem Stau frenetisch zu hupen anfangen, weil sie durch die Bank davon überzeugt sind, dass die Autos vor ihnen durch lauten Hupen zuerst opak werden, dann langsam zerbröseln um in einer dritten und letzten Phase gasförmig und anschließend vom Winde verweht werden. So wird es wohl sein. Vielleicht sind die Krähen aber auch wie alle anderen Berliner und nehmen erst mal übel, so ganz grundsätzlich: sich irgendwo hin setzten und übel nehmen.
„Grruuar, grruar“ , grölt dieses Pack, wenn sie ihre Kumpels herbeirufen, um einen Abfallkorb oder liegengebliebenen Pommesreste an einer Imbissbude zu plündern. Zehn Krähen mit Beute machen beschäftigt, sollten Sie besser nicht stören.
Wenn einem Kind das Junkfood aus der Hand fällt, kann man weithin hören, wie die Krähen herbeigerufen werden und wehe das Kind will seine Käsestange, seinen Burger oder seine Wurst wieder haben. Diese Biester hacken nach den Händen oder fliegen Angriffe gegen den Kopf. Noch haben sie Respekt vor einem kräftigen Schuh oder Regenschirm, aber wie lange noch? Irgendwann werden sie lernen, dass man gemeinsam einen Menschen, egal wie groß er ist, genau so leicht vertreiben kann, wie einen Raubvogel, einen Fuchs oder eine Katze.
Die dritte Vogelart, die mir das Leben schwer macht, sind die Mauersegler über meinem Schlafzimmerfenster. Pünktlich jedes Frühjahr rücken sie an, schmeißen den ganzen Dreck vom letzten Jahr aus ihren Nestern auf meinen Balkon um dann den Sommer über jeden Morgen und jeden Abend unter schrillem Gefiepe auf Mückenjagd zu gehen. Können die keine Tauben oder Krähen fressen?
Pünktlich jeden Morgen und jeden Abend stehen meine beiden Mädels an der Balkontüre. So viel Beute, so nah.
„Knack, knack“ , knirscht die eine Katze mit den Zähnen. Der Schwanz zittert vor Aufregung. Da sie an die Vögel nicht heran kann, dreht sie sich zu mir um und maunzt mich an: „Du bist doch die große Katze, bring mir diesen wilden Flieger. Ich will ihm den Kragen durchbeißen. Knack, knack, jetzt, sofort.“
„Klappe Katze“ raune ich dann im Halbschlaf, „lass die blöden Mauersegler tun was immer sie zu tun haben.“
„Mauiah“ ruft dann die andere Katze und springt mit einem Satz auf die Fensterbank, dass die Blumentöpfe wackeln. „Mauiah“ so viel Beute, so nah, so lecker und man kommt nicht dran.


Zum Abschluss: ein kleines Lied über Vögel

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Mittwoch, 30. November 2011
Eheglück oder so
In der Bahn setzt sich ein älteres Ehepaar neben mich, der Mann sitzt direkt neben mir. Schon beim Einsteigen hörte ich, wie die Frau ihrem Mann etwas erzählt. Nachdem sie sich gesetzt hatten, ging es um eine Nachbarin, die zu einer anderen Nachbarin etwas gesagt hatte, worauf diese … usw. usf. Ein stetig dahin rieselnder Redefluss. Die Stimme kaum moduliert, aber mit lautem, schrillen Diskant. Die Erzählung wurde nicht direkt geschrien, lag aber dennoch etwas über dem erträglichen Maß, die Klangfärbung schepperte nicht direkt, hatte aber einen leichten ‚Überschlag‘, so wie ihn Pubertierende gelegentlich hören lassen. Kurz: so weit an der Schmerzgrenze, dass das Lesen und sei es nur ein Artikel von der letzten Seite (Vermischtes, Weltspiegel, oder wie eine Freundin von mir diese Rubrik nennt: Frauen, Pferde und Rentner), nicht möglich ist. Immer wird die Aufmerksamkeit gerade so weit angezogen, dass man eineinhalb Sätze zuhört, um dann gelangweilt wieder zu seiner Zeitung zurückzukehren. Der Mann neben mir schwieg beharrlich.

Das ging so zwei oder drei Stationen, dann fällt mir auf, dass sich ganz leise, undeutlich, im Hintergrund ein weiteres Geräusch dazu gesellt hatte. Neugierig hörte ich genauer hin: ein gleichmäßiges Atmen hatte sich unter die scheppernde Rede gelegt. Der Mann war eingeschlafen.

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Montag, 28. November 2011
Versuch die Fährnisse beim Pinkeln genauer zu fassen
Versuch über den Versuch lautete vor vielen Jahre mal der Titel eines Aufsatzes, ich glaube im Kursbuch, an den ich mich nur in Bruchstücken erinnere. Damals wurde viel versucht. (Nein, nein, nein, über die Versuchung und die Versuchungen, da sei der H. vor, werde ich mich jetzt nicht äußern.)

Ich will mich heute nur den Widrigkeiten, Gefahren und Ungezogenheiten, denen man beim Pinkeln ausgesetzt ist, widmen.

Zunächst jedoch müssen wir den Gegenstand noch etwas eingrenzen.

Unberücksichtigt bleiben soll beispielsweise das wilde Pinkeln in der Natur. Wir werden uns also nicht ins Freie begeben und es werden auch keine Reflexionen über die natürliche Überlegenheit des Mannes über die Frau in diesem Zusammenhang erörtert. Ferner soll es nicht über das Sitzpinkeln bei Freunden oder im häuslichen Bereich gehen. Auch hier ließen sich Erfahrungen und Widersprüche bezüglich Männer und Frauen einflechten. Dies wird nicht geschehen. Auch werden keine Betrachtungen über denkbare oder tatsächliche physiologische Probleme und deren Behandlung, wie man vielleicht denken mag, die zudem keineswegs in Zusammenhang mit den verschiedenen Geschlechtern gebracht werden, geschildert. Über all dies wird hier nichts zu lesen sein.

Gegenstand des nachfolgenden Versuchs ist ausschließlich das halböffentliche Pinkeln am Urinal, wobei Bauweise, Funktion und Geschichte des Urinals als bekannt vorausgesetzt werden.

Der Versuch gliedert sich in drei Teile und betrifft ausschließlich den männlichen Teil der Bevölkerung.

1. Das Krawattenproblem
Wie der Eine oder Andere weiß oder vermutet liebe ich Krawatten. Ich habe eine ganze Reihe davon, die Manche schön und Einige auch krass finden. Leider sind die Gelegenheiten eine Krawatte zu tragen in unserer, der Etikette eher fernen Zeit, selten geworden. Auf Beerdigungen gehe ich nur bei begründeten Anlässen und im Theater oder in der Oper tragen nur Theater- und Opernhasser einen Binder. So bleiben eigentlich nur Hochzeiten, Konfirmationen, Taufen, die ja nun auch eher selten sind, sowie einige wenige berufliche Anlässe, um sich mal mit einer Krawatte zu schmücken. Schade eigentlich.

Nun trinkt man zu solchen Anlässen, vor allem wenn man nicht selbst vortragen muss und es nach kurzer Zeit rechtschaffen langweilig wird, viel – keinen Alkohol, Gott bewahre bzw. bedauerlicherweise – sondern Wasser, Kräutertee oder Saft, keinesfalls aber Kaffee, denn, jeder erfahrene Herumsitzer weiß das, Kaffee macht einen nach der vierten oder fünften Tasse völlig kirre und verhindert jenes interesselose Wegdämmern, das, jeder erfahrene Weghörer weiß das, so notwendig ist, das man jedem Studenten und jeder Studentin ein Praktikum in dieser Disziplin vor Aufnahme einer Berufstätigkeit verpflichtend vorschreiben sollte. Aber die Jugend hört ja nicht zu und schlägt wohlmeinende oder mahnende Worte in den Wind.

Wiewohl Klagen über die ignorante Jugend zweifellos berechtigt sind und zu allen Zeiten berechtigt waren, müssen wir uns nun der Pause widmen, die auch nach den längsten Meetings, Sitzungen, Beratungen, Tagungen, Schulungen oder Seminaren zwangsläufig eingelegt werden müssen. Irgendwann fordert der Körper sein Recht und die Unruhe im Raum ist nur noch zu dämpfen, wenn man die Teilnehmerinnen und Teilnehmer endlich in die hart erduldete Pinkelpause entlässt. Lassen wir mal das Sonderproblem beiseite, dass die Toilettenausstattung in manchen Betrieben, Einrichtungen oder Bildungsstätten (der Alternativsektor ist in diesem Zusammenhang besonders kritisch hervorzuheben) ungenügend und lange Schlangen unvermeidlich sind und wenden uns sofort dem Kern unsrer Betrachtungen zu: Wir müssen dringend, wir stehen vor dem Becken, wir blicken nach unten und sehen: eine Krawattenspitze, die in einem Winkel von ca. 30º die Sicht auf den Reißverschluss (englisch zipper; auch Zippverschluss oder kurz Zipp genannt) beziehungsweise die Knopfleiste versperrt. Was tun ohne genervt tastend suchend herum zu nesteln? Ganz klar! Mit geübtem Schwung wird die Krawatte über die Schulter geworfen und alles Weitere geht dann wie von selbst. Soweit stellt sich die Angelegenheit noch als weitgehend unproblematisch dar.

Das Problem und nun befinden wir uns im weiten Feld der Ästhetik, wird erst offensichtlich, wenn man sich anschließend zum Waschbecken begibt, um seine Hände zu waschen. Denn nun steht man vor dem Spiegel und erblickt eine reichlich lächerliche Gestalt über die man nur zu gerne Hohn und Spott ausschütten möchte, wenn man es den nicht selbst wäre. Die Spottlust wird bei solchen Gelegenheiten noch weiterhin angeheizt, wenn einer oder zwei Leidensgenossen zugleich ihre Geschäfte getätigt haben und in gleicher Weise mit Krawatte über der Schulter hinter einem stehen und ebenfalls ihre Hände waschen wollen. Drei Herren in sanft entblößter Situation, die sich im gleichen Augenblick im Spiegel sehen. Nichts könnte lächerlicher sein.

2. Das Diskursproblem
Nichts könnte lächerlicher sein, führte ich im ersten Kapitel aus. Weit gefehlt!

Zum näheren Verständnis kehren wir zurück zu der Situation als die Herren mit über den Schultern geklappten Krawatten am Urinal stehen. Noch können sie sich nicht sehen, denn jeder ist darauf konzentriert den völlig identischen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, jeder erledigt die anstehende Angelegenheit mit Konzentration und Hingabe. Jeder? Nein, es gibt Zeitgenossen, denen just in diesem eher privaten Moment einfällt, dass sie schon längst und man vergisst ja so viel, aber wo wir doch gerade hier stehen und da fällt mir ein, also es ist ja nicht so wichtig und einen gesonderten Termin wollte ich wegen so einer Kleinigkeit nun auch nicht machen, aaahber, wie ist das noch mal …

Unversehens ist man in einem Fachgespräch. Die Kleinigkeit stellt sich dann als doch etwas größer dar. Mit einem halben Satz oder einem Ja bzw. Nein lässt sie sich nicht beantworten und nach einer präzisen und knappen und doch nur vorläufigen Antwort kommt man überein, das Thema nach der Sitzung bzw. in den nächsten Tagen dann ausführlicher und mit Blick in die dazu benötigten Unterlagen nochmals zu besprechen. Wenn man Glück hat war zu der kurzen Antwort keine übergroße Konzentration notwendig, wenn man Pech hat, pinkelt man so ungeschickt an den Rand, dass einige Tröpfchen auf die Hand oder die Hose spritzen. Das sind dann so die Momente unter denen die Kollegialität leidet und einem so Gedanken kommen. Gedanken, für die sich auch ein Staatsanwalt interessiert, Gedanken, die den Verfassungsschutz oder die Homeland Security hellhörig werden lassen, Gedanken, die sich mit Explosionen, Faustfeuerwaffen oder Brandbeschleunigern befassen, Gedanken, die auch nicht verschwinden wollen, wenn sich der Dritte im Bund in die Diskussion einmischt und noch ein anderes Thema einführt und sowieso die Welt Scheiße findet, insbesondere wie er im Betrieb behandelt wird und was man denn – bitteschön – dagegen zu unternehmen gedenkt, so Gedanken halt. Wenn man dann den Hosenschlitz endlich geschlossen hat und an das Waschbecken tritt, während die Krawatten noch über den Schultern hängen und man die Welt ziemlich ungerecht findet und die beiden Mitstreiter immer noch auf einen einreden, wenn man sich dann im Spiegel sieht, kommt man sich ziemlich lächerlich vor.

3. Das Problem des fernmündlichen Austauschs
Wir sprachen gerade über die Momente im Leben, in denen man sich ziemlich lächerlich vorkommt und längst zu der Auffassung gekommen ist, dass es nun aber auch langsam gut sei. Das muss nicht so sein.

Kehren wir zurück zu der oben und auch noch weiter oben geschilderten Situation: Drei Herren am Urinal mit geschürzten Krawatten, zwei intensiv diskutierend, einer eher verhalten. Die Debatte ist in dem Stadium etwas an Fahrt und Hitze aufzunehmen als das Handy in der Hosentasche klingelt. Je nun, man kann ja berechtigterweise der Auffassung anhängen, dass es Situationen gibt, das sollen sie einen doch einfach am Arsche lecken. Solchen Auffassungen kann man nur schwer widersprechen, Gegenargumente lassen sich nur in sehr überschaubarer Anzahl finden. Ein gutes Gegenargument ist, dass man einen wichtigen Anruf erwartet, den man mit Blick auf die spärlichen Pausen versucht hat so zu arrangieren, dass er passgenau in die erwartete Pinkelpause fällt und dass dieser Anruf aus Übersee kommt, wirklich wichtig ist und von dem Anrufer aufgrund der Zeitverschiebung freundlicherweise während des Abendessens mit seiner geliebten Frau versprochen hat zu tätigen. Je nun, da kann man nicht einfach sagen: rutsch mir den Buckel runter. Ich kann jetzt nicht, macht doch was ihr wollt, mit mir nicht, ist mir doch alles sowas von scheißegal. Kann man nicht. Man kann nur abschütteln, die Hose zumachen, das Telefon zwischen Schulter, Krawatte und Backe einklemmen, zu den Mitdiskutanten sagen: „Ruhe jetzt!“ und das Gespräch annehmen. Es empfiehlt sich ruhig zu bleiben, auch wenn keine Ruhe ist. Wenn man dann beim telefonieren mit übergeworfener Krawatte und eingeklemmten Handy und zwei gestikulierenden Herren im Hintergrund, deren Krawatten ebenfalls über der Schulter liegen, sich die Hände wäscht und dabei zufällig in den Spiegel sieht, dann erst ist der Punkt erreicht, der die Situation aus jeder Realität enthebt. Glauben Sie mir: das sieht lächerlich aus.

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Montag, 21. November 2011
Über kalte Hühnerbeine
Habe ich eigentlich schon mal davon erzählt, dass ich jeden Samstag auf den Boxhagener Markt gehe? Na egal, auf jeden Fall wartete ich wie gewöhnliche an der nordöstlichen Ecke neben dem orangenen Abfalleimer gegenüber von dem Zigarettenladen alldiwo ich damals den Österreicher, der mir einen … aber das wissen sie ja bereits.
Eigentlich müsste man sowieso noch etwas weiter ausholen:

Ich liebe ja Huhn in Riesling, das fast so ist wie coq au vin, nur ein bisschen anders und statt Beaujolais (?) nimmt man eben Riesling.
Genau genommen bereitet man das Rieslinghuhn, wie es im Elsass und im benachbarten Baden-Württemberg gegessen wird, folgendermaßen zu:
Man braucht zunächst ein Huhn bzw. eigentlich einen Hahn, denn früher wurden die Damen zum Eierlegen benötigt und die Kerle, bis auf einen, kamen in die Bratröhre.

Die Großmutter meiner Frau pflegte übrigens gelegentlich den jungen Frauen den Merkvers:
„Mädchen, die rauchen und Hühnchen, die krähen,
soll man beizeiten die Hälse umdrehen!“
mißbilligend vorzudeklamieren. Aber das gehört nicht hierher. Dass es sich um einen unreinen Reim handelt soll uns auch nicht weiter interessieren. Dass Hühner ziemlich hysterisch sind und sich leicht aufregen, ist ohne Belang. Wobei … aber das ist eine andere Geschichte.
In Süddeutschland nennt man die Tiere übrigens Göckeler. Der Göckeler sollte von guter Qualität sein, muss aber nicht unbedingt aus der Bresse kommen, ein ordentliches Ökohuhn tut es auch. Hähnchen aus Massentierhaltung hingegen haben oft einen schmierigen Geschmack. Zumindest bilde ich mir das ein. Nun ja, sie können ein Huhn aus einigermaßen artgerechter Haltung natürlich auch aus anderen Gründen verwenden.

Die Haut des Huhn wird abgelöst und beiseite gelegt. Das Tier in mundgerechte Stücke zerlegen, Bürzel und üppigere Fettpolster entfernen und in den Suppentopf oder Mülleimer schmeißen.
Zwei große Zwiebeln in kleine Würfel schneiden.
Die Hühnerteile salzen und pfeffern und nach und nach in einer Reine mit Butterschmalz anbraten. Die Zwiebeln hinzugeben und glasig dünsten. Eine Flasche Riesling dazu, etwas Zitronenschale darüber reiben und etwa 45 Minuten ohne Deckel schmoren lassen.
Wenn das Huhn fertig ist und die Zwiebeln, das Hühnerfett und der Riesling eine schöne Soße erzeugt haben, die Haut des Huhn in schmale Streifen schneiden und mit wenig Fett knusprig ausbacken. Wenn sie nicht aufgepasst haben, ist die Hühnerhaut verbrannt und taugt nur noch für den Mülleimer, wenn sie alles richtig gemacht haben: auf etwas Küchenkrepp abtropfen lassen und mit etwas Petersilie über das Huhn streuen. Baguette oder Ciabatta dazu.

Kann man essen.

Wo waren wir? Richtig: gegen Hühnerbeine ist grundsätzlich nichts einzuwenden.

Ich stand also am orangen Mülleimer der Stadtreinigung und rauchte eine Zigarette als sich fünf schwer betrunkenen Briten mit Bierflaschen und kalten Hühnerbeinen in den Händen durch das morgendliche Marktgetümmel drängelten, mal den Einen anpöbelten, mal den Anderen anrempelten und mit Bier bespritzten. Berlin scheint zunehmend interessant für die Trunkenbolde aller Länder zu werden. Be happy, be drunk, be Berlin! Na gut, dachte ich, wenn die jungen Leute zu Hause sich keinen auf die Glocke gießen dürfen? Nur waren die Fünf nicht einfach nur betrunken, sie waren auch nicht einfach sternhagelvoll, nicht knülle oder voll wie eine Haubitze, sie hatten anscheinend eine Druckbetankung an sich durchgeführt.
Der Erste schlug sich seine Bierflasche gegen die Zähne, weil er offensichtlich nicht mehr wusste, wo sich denn die Körperöffnung zum Trinken so genau befindet, zwei weitere Jungs versuchten mit ihren Hühnerbeinen die gleiche Öffnung zu treffen. Einer der Beiden schmierte sich das Hühnerfett undekorativ auf das Gesicht, rülpste mehrfach hintereinander und fand das sehr spaßig. Richtiggehend überfordert waren aber alle fünf angesichts des orangenen Mülleimers.

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