Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Versuch die Fährnisse beim Pinkeln genauer zu fassen
Versuch über den Versuch lautete vor vielen Jahre mal der Titel eines Aufsatzes, ich glaube im Kursbuch, an den ich mich nur in Bruchstücken erinnere. Damals wurde viel versucht. (Nein, nein, nein, über die Versuchung und die Versuchungen, da sei der H. vor, werde ich mich jetzt nicht äußern.)

Ich will mich heute nur den Widrigkeiten, Gefahren und Ungezogenheiten, denen man beim Pinkeln ausgesetzt ist, widmen.

Zunächst jedoch müssen wir den Gegenstand noch etwas eingrenzen.

Unberücksichtigt bleiben soll beispielsweise das wilde Pinkeln in der Natur. Wir werden uns also nicht ins Freie begeben und es werden auch keine Reflexionen über die natürliche Überlegenheit des Mannes über die Frau in diesem Zusammenhang erörtert. Ferner soll es nicht über das Sitzpinkeln bei Freunden oder im häuslichen Bereich gehen. Auch hier ließen sich Erfahrungen und Widersprüche bezüglich Männer und Frauen einflechten. Dies wird nicht geschehen. Auch werden keine Betrachtungen über denkbare oder tatsächliche physiologische Probleme und deren Behandlung, wie man vielleicht denken mag, die zudem keineswegs in Zusammenhang mit den verschiedenen Geschlechtern gebracht werden, geschildert. Über all dies wird hier nichts zu lesen sein.

Gegenstand des nachfolgenden Versuchs ist ausschließlich das halböffentliche Pinkeln am Urinal, wobei Bauweise, Funktion und Geschichte des Urinals als bekannt vorausgesetzt werden.

Der Versuch gliedert sich in drei Teile und betrifft ausschließlich den männlichen Teil der Bevölkerung.

1. Das Krawattenproblem
Wie der Eine oder Andere weiß oder vermutet liebe ich Krawatten. Ich habe eine ganze Reihe davon, die Manche schön und Einige auch krass finden. Leider sind die Gelegenheiten eine Krawatte zu tragen in unserer, der Etikette eher fernen Zeit, selten geworden. Auf Beerdigungen gehe ich nur bei begründeten Anlässen und im Theater oder in der Oper tragen nur Theater- und Opernhasser einen Binder. So bleiben eigentlich nur Hochzeiten, Konfirmationen, Taufen, die ja nun auch eher selten sind, sowie einige wenige berufliche Anlässe, um sich mal mit einer Krawatte zu schmücken. Schade eigentlich.

Nun trinkt man zu solchen Anlässen, vor allem wenn man nicht selbst vortragen muss und es nach kurzer Zeit rechtschaffen langweilig wird, viel – keinen Alkohol, Gott bewahre bzw. bedauerlicherweise – sondern Wasser, Kräutertee oder Saft, keinesfalls aber Kaffee, denn, jeder erfahrene Herumsitzer weiß das, Kaffee macht einen nach der vierten oder fünften Tasse völlig kirre und verhindert jenes interesselose Wegdämmern, das, jeder erfahrene Weghörer weiß das, so notwendig ist, das man jedem Studenten und jeder Studentin ein Praktikum in dieser Disziplin vor Aufnahme einer Berufstätigkeit verpflichtend vorschreiben sollte. Aber die Jugend hört ja nicht zu und schlägt wohlmeinende oder mahnende Worte in den Wind.

Wiewohl Klagen über die ignorante Jugend zweifellos berechtigt sind und zu allen Zeiten berechtigt waren, müssen wir uns nun der Pause widmen, die auch nach den längsten Meetings, Sitzungen, Beratungen, Tagungen, Schulungen oder Seminaren zwangsläufig eingelegt werden müssen. Irgendwann fordert der Körper sein Recht und die Unruhe im Raum ist nur noch zu dämpfen, wenn man die Teilnehmerinnen und Teilnehmer endlich in die hart erduldete Pinkelpause entlässt. Lassen wir mal das Sonderproblem beiseite, dass die Toilettenausstattung in manchen Betrieben, Einrichtungen oder Bildungsstätten (der Alternativsektor ist in diesem Zusammenhang besonders kritisch hervorzuheben) ungenügend und lange Schlangen unvermeidlich sind und wenden uns sofort dem Kern unsrer Betrachtungen zu: Wir müssen dringend, wir stehen vor dem Becken, wir blicken nach unten und sehen: eine Krawattenspitze, die in einem Winkel von ca. 30º die Sicht auf den Reißverschluss (englisch zipper; auch Zippverschluss oder kurz Zipp genannt) beziehungsweise die Knopfleiste versperrt. Was tun ohne genervt tastend suchend herum zu nesteln? Ganz klar! Mit geübtem Schwung wird die Krawatte über die Schulter geworfen und alles Weitere geht dann wie von selbst. Soweit stellt sich die Angelegenheit noch als weitgehend unproblematisch dar.

Das Problem und nun befinden wir uns im weiten Feld der Ästhetik, wird erst offensichtlich, wenn man sich anschließend zum Waschbecken begibt, um seine Hände zu waschen. Denn nun steht man vor dem Spiegel und erblickt eine reichlich lächerliche Gestalt über die man nur zu gerne Hohn und Spott ausschütten möchte, wenn man es den nicht selbst wäre. Die Spottlust wird bei solchen Gelegenheiten noch weiterhin angeheizt, wenn einer oder zwei Leidensgenossen zugleich ihre Geschäfte getätigt haben und in gleicher Weise mit Krawatte über der Schulter hinter einem stehen und ebenfalls ihre Hände waschen wollen. Drei Herren in sanft entblößter Situation, die sich im gleichen Augenblick im Spiegel sehen. Nichts könnte lächerlicher sein.

2. Das Diskursproblem
Nichts könnte lächerlicher sein, führte ich im ersten Kapitel aus. Weit gefehlt!

Zum näheren Verständnis kehren wir zurück zu der Situation als die Herren mit über den Schultern geklappten Krawatten am Urinal stehen. Noch können sie sich nicht sehen, denn jeder ist darauf konzentriert den völlig identischen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, jeder erledigt die anstehende Angelegenheit mit Konzentration und Hingabe. Jeder? Nein, es gibt Zeitgenossen, denen just in diesem eher privaten Moment einfällt, dass sie schon längst und man vergisst ja so viel, aber wo wir doch gerade hier stehen und da fällt mir ein, also es ist ja nicht so wichtig und einen gesonderten Termin wollte ich wegen so einer Kleinigkeit nun auch nicht machen, aaahber, wie ist das noch mal …

Unversehens ist man in einem Fachgespräch. Die Kleinigkeit stellt sich dann als doch etwas größer dar. Mit einem halben Satz oder einem Ja bzw. Nein lässt sie sich nicht beantworten und nach einer präzisen und knappen und doch nur vorläufigen Antwort kommt man überein, das Thema nach der Sitzung bzw. in den nächsten Tagen dann ausführlicher und mit Blick in die dazu benötigten Unterlagen nochmals zu besprechen. Wenn man Glück hat war zu der kurzen Antwort keine übergroße Konzentration notwendig, wenn man Pech hat, pinkelt man so ungeschickt an den Rand, dass einige Tröpfchen auf die Hand oder die Hose spritzen. Das sind dann so die Momente unter denen die Kollegialität leidet und einem so Gedanken kommen. Gedanken, für die sich auch ein Staatsanwalt interessiert, Gedanken, die den Verfassungsschutz oder die Homeland Security hellhörig werden lassen, Gedanken, die sich mit Explosionen, Faustfeuerwaffen oder Brandbeschleunigern befassen, Gedanken, die auch nicht verschwinden wollen, wenn sich der Dritte im Bund in die Diskussion einmischt und noch ein anderes Thema einführt und sowieso die Welt Scheiße findet, insbesondere wie er im Betrieb behandelt wird und was man denn – bitteschön – dagegen zu unternehmen gedenkt, so Gedanken halt. Wenn man dann den Hosenschlitz endlich geschlossen hat und an das Waschbecken tritt, während die Krawatten noch über den Schultern hängen und man die Welt ziemlich ungerecht findet und die beiden Mitstreiter immer noch auf einen einreden, wenn man sich dann im Spiegel sieht, kommt man sich ziemlich lächerlich vor.

3. Das Problem des fernmündlichen Austauschs
Wir sprachen gerade über die Momente im Leben, in denen man sich ziemlich lächerlich vorkommt und längst zu der Auffassung gekommen ist, dass es nun aber auch langsam gut sei. Das muss nicht so sein.

Kehren wir zurück zu der oben und auch noch weiter oben geschilderten Situation: Drei Herren am Urinal mit geschürzten Krawatten, zwei intensiv diskutierend, einer eher verhalten. Die Debatte ist in dem Stadium etwas an Fahrt und Hitze aufzunehmen als das Handy in der Hosentasche klingelt. Je nun, man kann ja berechtigterweise der Auffassung anhängen, dass es Situationen gibt, das sollen sie einen doch einfach am Arsche lecken. Solchen Auffassungen kann man nur schwer widersprechen, Gegenargumente lassen sich nur in sehr überschaubarer Anzahl finden. Ein gutes Gegenargument ist, dass man einen wichtigen Anruf erwartet, den man mit Blick auf die spärlichen Pausen versucht hat so zu arrangieren, dass er passgenau in die erwartete Pinkelpause fällt und dass dieser Anruf aus Übersee kommt, wirklich wichtig ist und von dem Anrufer aufgrund der Zeitverschiebung freundlicherweise während des Abendessens mit seiner geliebten Frau versprochen hat zu tätigen. Je nun, da kann man nicht einfach sagen: rutsch mir den Buckel runter. Ich kann jetzt nicht, macht doch was ihr wollt, mit mir nicht, ist mir doch alles sowas von scheißegal. Kann man nicht. Man kann nur abschütteln, die Hose zumachen, das Telefon zwischen Schulter, Krawatte und Backe einklemmen, zu den Mitdiskutanten sagen: „Ruhe jetzt!“ und das Gespräch annehmen. Es empfiehlt sich ruhig zu bleiben, auch wenn keine Ruhe ist. Wenn man dann beim telefonieren mit übergeworfener Krawatte und eingeklemmten Handy und zwei gestikulierenden Herren im Hintergrund, deren Krawatten ebenfalls über der Schulter liegen, sich die Hände wäscht und dabei zufällig in den Spiegel sieht, dann erst ist der Punkt erreicht, der die Situation aus jeder Realität enthebt. Glauben Sie mir: das sieht lächerlich aus.

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