Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Donnerstag, 13. März 2014
Mistvieh







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Mittwoch, 12. März 2014
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 44
Wieder Selim


Mangogul ging, um von der Redoute auszuruhen. Mirzoza war gar nicht aufgelegt, zu schlafen, ließ Selim rufen und forderte ihn auf, die Geschichte seiner Liebschaften fortzusetzen. Selim gehorchte.

»Gnädige Frau, die Liebeshändel nahmen nicht meine ganze Zeit weg. Augenblicke, die ich dem Vergnügen entzog, widmete ich ernsteren Beschäftigungen und, die Abenteuer, denen ich nachging, verhinderten mich nicht, die Kriegsbaukunst, das Reiten, das Fechten, das Tanzen zu erlernen und Musik zu treiben. Auch beobachtete ich die Sitten und Gebräuche der Europäer und studierte ihre Staatswissenschaft und ihre Kriegskunst. Als ich nach Congo zurückkam, stellte man mich dem kaiserlichen Großvater des Sultans vor, der mir einen ehrenvollen Posten in seinem Heere anvertraute. Ich erschien am Hofe; bald war ich der beständige Begleiter des Prinzen Erguebzed, und folglich nahm ich auch teil an Abenteuern mit hübschen Frauen. Ich lernte Frauenzimmer von jeder Nation, von jedem Alter, von jedem Stande kennen und fand wenig grausame darunter, sei es, daß mein Rang sie blendete, oder daß sie mich gern plaudern hörten, oder endlich, daß meine Gestalt für mich sprach. Ich besaß damals zwei Eigenschaften, mit denen man es weit in der Liebe bringt; ich war dreist und von mir eingenommen.

Anfangs ging ich nur mit Frauenzimmern von Stande um. Ich traf sie abends in Gesellschaft am Spieltisch der Manimonbanda. Ich brachte die Nacht mit ihnen zu, und am Morgen darauf kannten wir uns fast nicht mehr. Diese Damen haben zwei Beschäftigungen auf der Welt: nämlich, sich Liebhaber zu verschaffen, sollten sie sie auch ihren besten Freundinnen wegnehmen und sodann sie wieder los zu werden. Aus Furcht, sie möchten einmal unversorgt sein, während sie eine Intrige anzetteln, schauen sie gleich nach zwei oder drei Liebhabern aus. Sie haben, ich weiß nicht wieviel, kleine Künste, um den einzufangen, auf den sie ihr Augenmerk gerichtet haben, und halten hunderterlei Vorwände in Bereitschaft, um den los zu werden, den sie besitzen. So war es von jeher, so wird es immer sein. Ich will keine Namen nennen, aber ich habe alle Damen gekannt, die nur an Erguebzeds Hofe für jung und schön galten und alle diese Verhältnisse wurden innerhalb sechs Monaten angeknüpft, gelöst, wieder aufgenommen und vergessen.

Da ich dieser Welt überdrüssig war, begab ich mich zu den Antipoden. Ich sah Bürgerinnen, die, falsch und auf ihre Schönheit stolz, alle nur das Wort Ehre im Munde führten, beinahe immer von wilden brutalen Ehemännern oder von sogenannten plattfüßigen Vettern umlagert waren, die den lieben langen Tag vor ihren teuren Mühmchen die Leidenschaftlichen spielten und mir sehr mißfielen. Man konnte diese Weiber keinen Augenblick allein haben. Diese Bestien kamen immer dazwischen, störten jede Zusammenkunft und mischten sich bei jeder möglichen Gelegenheit ins Gespräch. Doch überwand ich diese Schwierigkeiten und brachte fünf oder sechs dieser Zierpuppen so weit, als ich wollte, ehe ich sie sitzen ließ. Was mir an ihrem Umgang Spaß machte, war, daß sie mit aller Gewalt empfindsam sein wollten, so daß ich mich auch empfindsam stellen mußte und Zeug von ihnen zu hören bekam, worüber ich mich fast totlachte. Auch forderten sie viel Aufmerksamkeiten und Sorgfalt. Alle Augenblicke sollt' ich gegen sie gefehlt haben. Sie predigten eine so einwandfreie Liebe, daß man bald davon genug hatte. Aber das Schlimmste war, daß sie immer meinen Namen im Munde führten, und daß ich zuweilen genötigt war, mich mit ihnen zu zeigen und alles Lächerliche einer Philisterliebe auf mich zu nehmen. Das ward mir endlich zu toll, und ich rettete mich eines Tages aus den Kramläden und der Rue Saint Denis, um in meinem Leben nicht wieder hinzukommen.

Damals wurden die kleinen heimlichen Häuschen Mode. Ich mietete mir eines in der morgenländischen Vorstadt und hielt mir nach und nach einige Mädchen darin, die man sieht und bald nicht mehr sieht, mit denen man plaudert, denen man nichts mehr zu sagen hat und die man zum Teufel schickt, wenn man ihrer satt ist. Dahin lud ich meine Freunde und Spielerinnen von der Oper, dort gab ich kleine Abendgesellschaften, die Prinz Erguebzed selbst zuweilen mit seiner Gegenwart beehrte. Ach! gnädige Frau, ich hatte köstlichen Wein, herrliche Schnäpse und den besten Koch in Congo.

Aber nichts hat mich mehr belustigt als ein Streich, den ich in einer entlegenen Provinz ausführte, wo mein Regiment in Quartier lag. Ich verließ Banza, um es zu mustern. Das war das einzige Geschäft, das mich aus der Stadt entfernte, und meine Abwesenheit würde nicht lange gedauert haben, wenn ich nicht einem närrischen Einfall nachgelaufen wäre. Es gab ein Kloster zu Baruthi, welches wunderschöne Mädchen enthielt. Ich war jung und hatte noch keinen Bart, ich ließ mir beikommen, mich dort als Witwe einzuschleichen, die eine Zuflucht gegen die Nachstellungen der Welt suchte. Man machte mir ein Frauenkleid, ich zog es an, und so trat ich vor das Gitter der Nonnen. Sie nahmen mich liebreich auf, trösteten mich über den Verlust meines Gatten, bestimmten mein Kostgeld, und ich blieb bei ihnen.

Das Gemach, das man mir einräumte, stieß an den Schlafsaal der Novizen. Es waren ihrer viele, mehrenteils junge und außerordentlich frische. Ich kam ihnen mit Höflichkeiten zuvor und ward bald ihre Freundin. In weniger als acht Tagen lehrte man mich die Verfassung der kleinen Republik von allen Seiten kennen; schilderte mir die Charaktere, erzählte mir Anekdoten, vertraute sich mir in jeder Rücksicht, und ich bemerkte, daß wir Weltkinder uns auf üble Nachreden und Verleumdungen nicht so gut verstanden wie sie. Ich hielt streng auf die Klosterregel; ich nahm eine scheinheilige Miene und einen sanften Ton an, und man sagte sich ins Ohr, es werde ein großes Glück für das Kloster sein, wenn ich mich dort einkleiden ließe.

Kaum glaubte ich meinen guten Ruf im Hause befestigt, als ich mich an ein junges Mädchen machte, das eben den ersten Schleier genommen hatte. Es war eine herrliche Brünette, sie nannte mich Mütterchen, ich nannte sie meinen kleinen Engel. Sie gab mir unschuldige Küsse, ich gab ihr zärtliche Küsse zurück. Die Jugend ist wißbegierig. Zirzifile sprach alle Augenblicke mit mir vom Heiraten und von den Freuden, die ein Mann gäbe. Sie fragte mich, wie es darum stände? Ich vermehrte ihre Neugier auf geschickte Weise und von Fragen zu Fragen führte ich sie endlich zur Beherzigung der Lehren, die ich ihr gab. Das war nicht die einzige Novize, die ich unterrichtete. Auch einige junge Nonnen kamen in meine Zelle, um sich zu erbauen. Ich wußte die Augenblicke, die Stunden, die Zusammenkünfte so gut zu verlegen, daß keine der anderen im Wege war. Kurz, was soll ich Ihro Gnaden sagen? Die fromme Witwe erwarb sich eine zahlreiche Nachkommenschaft. Als aber das Ärgernis ausbrach, worüber man lange heimlich geseufzt hatte, als der versammelte Rat der Ältesten den Klosterarzt berief, dacht' ich auf meinen Rückzug. In einer Nacht, während das ganze Haus im Schlaf lag, kletterte ich über die Gartenmauer und verschwand. Ich begab mich nach den Bädern von Piombino, wohin der Arzt das halbe Jungfernstift gesandt hatte, und vollendete dort in Uniform das Werk, was ich in Witwentracht begonnen hatte. Das ist eine Tatsache, gnädige Frau, deren sich das ganze Reich erinnert, wovon aber Sie allein den Urheber kennen.«

»Den Rest meiner Jugend,« fuhr Selim fort, »verbracht' ich mit ähnlichen Vergnügungen. Immer fand ich Weiber aller Art, selten Heimlichkeit, viel Schwüre und keine Aufrichtigkeit.« – »So haben Sie also nie geliebt?« fragte die Favorite. »Ach, was dacht' ich damals an Liebe?« sagte Selim. »Ich suchte nichts als Genuß, und die, welche einem dazu verhelfen ...« »Hat man aber Genuß ohne Liebe?« unterbrach ihn die Favorite. »Was heißt Genuß, wenn das Herz stumm ist?« »Ei, gnädige Frau,« versetzte Selim, »ist es denn das Herz, das im achtzehnten oder zwanzigsten Jahre spricht?«

»Und was nun ist das Resultat aller dieser Erfahrungen? Was halten Sie von den Weibern?«

»Daß die meisten keinen Charakter haben,« antwortete Selim. »Drei Dinge wirken mächtig auf sie: Eigennutz, Vergnügen und Eitelkeit. Vielleicht gibt es keine, die nicht von einer dieser Leidenschaften beherrscht wird; die aber alle drei in sich vereinigen, sind Ungeheuer.«

»Das Vergnügen mag noch hingehen,« sprach Mangogul, der in diesem Augenblick hereintrat. »Es ist zwar kein Verlaß auf die Weiber, aber man muß sie doch entschuldigen. Ist das Blut bis zu einem gewissen Grade erhitzt, so trägt es wie ein flüchtiges Pferd seinen Reiter über Stock und Block, und fast alle Weiber sitzen rittlings auf einem solchen Roß.« »Darum,« sagte Selim, »nennt vielleicht die Herzogin Menega den Ritter Kaidar ihren Oberstallmeister.«

»Aber ist es möglich,« fragte die Sultanin den Hofmann, »daß Sie nie die geringste Herzensaffäre hatten? Sind Sie nur darum aufrichtig, um ein Geschlecht zu entehren, das Sie glücklich machte, wenn Sie zu seinem Vergnügen beitrugen? Wie? unter einer so großen Menge Frauenzimmer nicht eine, die geliebt sein wollte, die geliebt zu werden verdiente? Das ist unbegreiflich.«

»Ach, gnädige Frau,« antwortete Selim,, »ich fühle, weil es mir so leicht wird, Ihnen zu gehorchen, daß die Jahre die Macht einer liebenswürdigen Frau über mein Herz nicht geschwächt haben. Ja, gnädige Frau, auch ich habe geliebt. Sie wollen alles wissen, ich will alles sagen, Sie mögen entscheiden, ob ich nicht mit Ehren in der Rolle eines Liebhabers gut bestanden habe.«

»Kommen in diesem Teile Ihrer Geschichte Reisen vor?« fragte der Sultan. »Nein, Fürst,« antwortete Selim. »Desto besser,« versetzte Mangogul, »denn ich fühle mich gar nicht aufgelegt, zu schlafen.«

»Mir aber wird Selim einen Augenblick auszuruhen gestatten,« erwiderte die Favorite.

»Er kann auch schlafen gehen,« sagte der Sultan. »Und während Sie schlafen, will ich Cypria ausfragen.« »Aber, Fürst,« versetzte Mirzoza, »Ihre Hoheit bedenken nicht, daß dieses Kleinod Sie in unendliche Reisen verwickeln wird.«

Hier meldet der gelehrte Afrikaner, der Sultan, dem Mirzozens Bemerkung einleuchtete, habe sich mit einem starken Gegenmittel wider den Schlaf versehen. Er setzt hinzu, daß Mangoguls Arzt, der zugleich sein Freund war, ihm das Rezept dazu mitgeteilt habe und daß er es als Vorrede vor sein Werk gesetzt hätte. Doch leider sind uns von dieser Vorrede nur die drei letzten Zeilen erhalten geblieben, die ich hier mitteilen will:



Recipe von . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

von . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

von . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

von Marianne und der Bauer. Roman von . . . . . vier Seiten

von Irrungen des Herzens ein Blatt

von Die Beichten fünfundzwanzig und eine halbe Zeile.

Nach den Damen von Stand, versucht er sich an bürgerlichen Frauen, die „predigten eine so einwandfreie Liebe, daß man bald davon genug hatte.“

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Dienstag, 11. März 2014
Tugend
»Ohne die Tugend ist der Terror verhängnisvoll, ohne den Terror ist die Tugend machtlos.«
(Maximilien de Robespierre)

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Montag, 10. März 2014
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 43
Ein Maskenball und seine Folgen


Die ausgelassensten Kleinode von Banza unterließen nicht, dem Ruf der Freude zu folgen. Sie kamen in ihren eignen Kutschen, in Mietwagen und sogar zu Fuß. »Ich würde kein Ende finden,« sagt der gelehrte Afrikaner, dessen Schleppenträger ich zu sein die Ehre habe, »wenn ich alle Streiche umständlich erzählen wollte, die Mangogul ihnen spielte. In dieser einzigen Nacht gab er seinem Ring mehr zu tun, als seit der ganzen Zeit, da er ihn vom Genius erhielt. Bald drehte er ihn gegen die, bald gegen jene, bald gegen zwanzig auf einmal; dann entstand ein schönes Lärmen.« Ein Kleinod schrie mit kreischender Stimme: »Geiger, bitte, den Kotillon von Dünkirchen!« Ein anders mit heiserem Ton: lieber die Saubriots! Ein drittes: nein, die Tricolets. Und eine Menge rief auf einmal nach Baureé, Quatre Faces, Le Pictolet, La Marieé und anderen abgeleierten Kontertänzen. Dazwischen gab es eine Million Possen von jeder Art. Hier rief eins: »Fort mit dem Taugenichts, man muß ihn in die Schule schicken!« Dort: »Ich soll also heimkehren, ohne eine Probe abzulegen?« An anderer Stelle: »wer zahlt mir meine Kutsche?« und drüben: »fort ist er, aber so soll er mir nicht entwischen!« und wieder wo anders: »nur gut! morgen früh! aber zwanzig Louis, sonst ist nichts zu machen!« Und so verriet jedes Wort entweder Willen oder Tat.

In diesem Getümmel erkannte eine junge niedliche Bürgerin den Sultan, verfolgte ihn, redete ihn an, neckte ihn und trieb es so lange, bis er seinen Ring gegen sie drehte. Sogleich hörte man ihr Kleinod ausrufen: »Warum fliehen Sie? Halten Sie doch, schöne Maske, seien Sie nicht unempfindlich gegen die Glut eines Kleinods, das für Sie brennt!« Den Sultan verdroß diese verwegene Liebeserklärung, er beschloß, die Unverschämte dafür zu bestrafen. Sogleich verschwand er, suchte unter seiner Leibgarde jemanden aus, der ungefähr von seiner Größe war, gab ihm seine Larve und seinen Domino und überließ ihn den Verfolgungen der kleinen Bürgerfrau, die immer durch den Schein getäuscht, dem, den sie für Mangogul hielt, tausend Torheiten zu sagen fortfuhr.

Der falsche Sultan war kein Narr; der Mann wußte durch Zeichen zu reden. Ein Zeichen von ihm lockte die Schöne an einen abgelegenen Ort, wo sie sich eine Stunde lang für die Favorit-Sultanin hielt, und Gott weiß, was für Pläne in ihrem Hirnchen reiften. Aber der Zauber dauerte nicht lange. Als sie den angeblichen Sultan mit Liebkosungen überhäuft hatte, bat sie ihn, sich zu entlarven. Das tat er und zeigte ihr ein Gesicht mit zwei riesigen Zähnen, die dem Sultan wahrlich nicht gehörten. »O pfui!« rief die kleine Bürgerfrau, »pfui!« – »Wasch fehlt dir, jungsch Wibel?« sagte der Schweizer. »Hon i dir nit guet gnu augewartet, dasch du bösch uf my schyescht?« Aber seine Göttin hielt sich mit keiner Antwort auf, entschlüpfte ihm schnell unter den Händen und verlor sich im Gedränge.

Den Kleinoden, die nicht nach so hohen Ehren trachteten, gelang es, Genuß zu finden, und alle kehrten sehr vergnügt über diesen Ausflug nach Banza zurück.

Die Redoute ging zu Ende, als Mangogul zwei seiner höchsten Offiziere heftig miteinander reden hörte. »Es ist meine Geliebte,« sagte einer, »mein seit einem Jahr, und Sie sind der erste, dem es einfällt, mir ins Gehege zu gehen. Warum wollen Sie mich stören, wo ich bin? Nasses, lieber Freund, wenden Sie sich doch an eine andere. Sie werden hundert Damen finden, die sich nur zu glücklich preisen werden, Ihnen anzugehören.« »Ich liebe Amine,« antwortete Nasses, »sie allein gefällt mir. Sie hat mir Hoffnung gemacht, und Sie werden erlauben, daß ich dieser Hoffnung Raum gebe.« »Hoffnungen?« fragte Alibey. – »Ja, Hoffnungen.« – »Bei Gott, das ist nicht wahr.« – »Es ist wahr, mein Herr, und Sie werden mir auf der Stelle Genugtuung dafür geben, daß Sie mich Lügen strafen.« Sogleich gingen sie die Haupttreppe hinunter. Schon waren ihre Säbel gezuckt, und der Streit wäre auf eine tragische Weise ausgetragen worden, wenn nicht der Sultan unter sie trat und ihnen verbot, sich zu schlagen, bevor sie ihrer Helena den Zwist vorgelegt hätten.

Sie gehorchten und verfügten sich zu Aminen, wohin Mangogul ihnen folgte. »Ich bin ermüdet von der Redoute,« sagte sie. »Mir fallen die Augen zu. Sie sind sehr grausam, meine Herren, daß Sie jetzt zu mir kommen, da ich gerade zu Bette gehen will. Aber Sie sehen beide so seltsam aus. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?« »Eine Kleinigkeit,« antwortete Alibey. »Der Herr dort«, und er zeigte auf seinen Freund, »rühmt sich, und sogar sehr laut, daß Sie ihm Hoffnungen gaben. Ist das wahr, gnädige Frau?« Amine öffnete den Mund, aber der Sultan drehte in diesem Augenblick seinen Ring gegen sie. Sie schwieg, und ihr Kleinod antwortete an ihrer Statt: »Herr Nasses dürfte sich irren. Nein, auf ihn hat es meine Gebieterin nicht gemünzt. Doch hat sie nicht einen stattlichen Bedienten, der mehr wert ist als er? Wie einfältig sind doch die Männer, zu glauben, daß Würde, Rang und Ehrenstellen, daß Titel, Namen und sinnlose Worte auf Kleinode Eindruck machen! Jeder hat seine Philosophie. Und die unsrige besteht hauptsächlich darin, das persönliche Verdienst, das wahre von dem eingebildeten zu unterscheiden. Herr von Claville mag mir's nicht übelnehmen, davon versteht er weniger als wir. Das will ich Ihnen beweisen.«

»Sie kennen beide,« fuhr das Kleinod fort, »die Marquise Bibicosa. Sie wissen um ihre Liebe zu Cleander und ihr Unglück, und wie sie sich jetzt hoher Andacht weiht. Amine ist eine treue Freundin; sie hat ihre Verbindung mit Bibicosen nicht aufgehoben und fährt fort, ihr Haus zu besuchen, wo man Brahminen von aller Art antrifft. Einer von ihnen drang einmal in meine Gebieterin, ein gutes Wort für ihn bei Bibicosa einzulegen.« »Was soll ich von ihr verlangen?« antwortete Amine. »Die Frau ist zugrunde gerichtet, sie kann für sich selber nichts. Sie würde Ihnen wahrlich Dank wissen, daß Sie ihr noch Einfluß bei Hofe zutrauen. Weder Fürst Cleander noch Mangogul werden ihretwegen etwas tun, und Sie könnten sich in den Vorsälen der Großen ein Bein erfrieren.« »Aber gnädige Frau,« antwortete der Brahmine, »es kommt hier nur auf eine Kleinigkeit an, die unmittelbar von der Marquise abhängt. Sie hat ein kleines Minarett in ihrem Palaste angelegt, unstreitig, um Sala darin lesen zu lassen. Dazu braucht sie einen Iman, diesen Posten möcht' ich gern bekleiden.« »Was sollte sie einen Iman brauchen?« versetzte Amine. »Sie braucht nur einen Marabu, den sie von Zeit zu Zeit rufen läßt, wenn es schlecht Wetter ist, oder wenn sie vor Schlafengehen Luft hat, Sala zu hören. Aber Bibicosa kann sich keinen Iman halten, der in ihrem Hause wohnt, ißt und trinkt, gekleidet wird und Gehalt bekommt. Ich kenne ihre Verhältnisse. Die arme Frau hat nicht sechstausend Zechinen Einkommen, und Sie verlangen, sie solle zweitausend an einen Iman verwenden? Das ist ein schöner Vorschlag!« – »Bei Brahma! das tut mir leid,« erwiderte der heilige Mann. »Denn sehen Ihre Gnaden nur, wär' ich erst ihr Iman gewesen, so hätt' ich mich bald noch unentbehrlicher machen wollen, und hat man es erst so weit gebracht, dann regnet's Geld und Gnadengehälter. Wie Sie mich hier sehen, bin ich aus Monomotapa und kenne meine Pflicht recht gut.« »Ach!« sagte Amine mit zitternder Stimme, »Ihre Angelegenheit ist dennoch nicht unmöglich. Schade, daß das Verdienst, von dem Sie reden, sich nicht ohne Prüfung voraussetzen läßt!« »O, wer sich meiner Landsleute annimmt,« sprach der von Monomotapa, »läuft keine Gefahr. Aber entscheiden Sie selbst!« Und in diesem Augenblick gab er Aminen den vollständigen Beweis seiner so bewundernswürdigen Geschicklichkeit, daß Sie in diesem Augenblick die Hälfte des Werts verloren, den sie Ihnen sonst beilegte. »Ach, es leben die Leute von Monomotapa!«

Alibey und Nasses schnitten lange Gesichter und sahen sich an, ohne ein Wort zu sagen. Endlich erholten sie sich von ihrem Erstaunen, umarmten sich, warfen einen verächtlichen Blick auf Aminen und sanken dem Sultan zu Füßen, um ihm zu danken, daß er sie von dieser Frau geheilt und ihnen Leben und wechselseitige Freundschaft erhalten habe. Sie kamen gerade an, als Mangogul zur Favorite zurückgekehrt war und ihr Aminens Geschichte wiedererzählte. Sie lachte darüber und gab deswegen nichts mehr auf die Damen des Hofes und auf die Brahminen.

Poppen nach Verdienst oder Stellung am Hofe

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Freitag, 7. März 2014
Fundstücke 4. - 10. KW 2014
Hintergründe und Sichtweisen:
  • Schwedens liberale Flüchtlingspolitik am Scheideweg
  • Der "Amerikanische Traum" ist nur ein Traum, aber es gibt große regionale Unterschiede
  • Ein kurzer Blick auf die Kräfte hinter der aktuellen Eskalation in der Ukraine
  • Demografische Desinformation
  • BioTech: neue Pläne für das Leben
  • BioTech: Das synthetische Genom (bei Leuten wie Craig Venter packt mich das Grauen)
  • BioTech: Stoffwechsel nach Maß
  • Die gespaltene katholische Kirche
  • Die AfD und die neue europäische Rechte
  • Michael Brenner (Hg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart
  • Über die aktuelle Situation in Venezuela
  • Jutta Stalfort untersucht in „Die Erfindung der Gefühle“ den historischen Wandel von Emotionalität zwischen 1750 und 1850
  • Die Mär vom Milliardenmarkt Kinderpornographie
  • Adel und NSDAP
  • Soziale Mobilität in GB und D
  • Ideologische Reinigungen gab es schon früher
  • Deutlich mehr gewalttätige Machos in Nordeuropa (schwer zu beurteilende EU-Studie)


  • kluges und interessantes:
  • zur Aufregungskultur im Netz
  • Kurt Flasch: Warum ich kein Christ bin („Das ist es, was Flasch dem Protestantismus seit der Romantik, der katholischen Kirche seit 1960 zu tun vorwirft. Man versucht, Teile zu retten und sieht nicht, dass das Ganze damit verloren ist.“)
  • Jan Philipp Reemtsma über Dostojewskijs Dämonen und die RAF
  • Das Tier verhält sich, der Mensch handelt.
  • Manfred Kappeler, ein Sozialpädagoge über Jugendhilfe (wenn ich mehr von Sozialpädagogik verstünde, könnte ich vielleicht auch etwas daran kritisieren. Wenn jemand mehr Ahnung hat, bitte gern.)
  • Der nützliche Herr Gauck
  • Das Recht lebt von klaren Grenzen zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten. Wer nichts Strafbares tut, den darf die Justiz nicht verfolgen. Im Fall Edathy wurde diese Regel missachtet –Einspruch eines Bundesrichters
  • Blöd reden über Lesben und Schwule
  • Der Propagandakrieg um die Ukraine


  • Zu Literatur und Sprache
  • Arno Schmidt: ein realistischer Komiker des Phantastischen
  • Über die Verwendung von “gay” unter angelsächsischen Jugendlichen
  • Interview mit Gerhard Polt über seinen neuen Film "Und Äktschn!" in dem die Figuren das Privatleben Hitlers verfilmen wollen. („Ich muss nicht in die Antarktis fahren, um den Pinguin zu sehen.“)
  • T.C. Boyle: "Wassermusik"
  • Hasenhass: Über die zoophoben Tendenzen eines Verlages
  • Nicht zu nah, sie ist noch ein wenig postmigrantisch! (Selbst die zwei Kommentare sind lesenswert)
  • Ein spannendes Wörterbuchprojekt
  • Die Beziehung von Autor und Übersetzer
  • Wie Digitalisierung und soziale Netzwerke den Umgang mit Literatur verändern


  • Neue Wörter und Wendungen:
  • „Hier ist das Aufmarschgebiet für Schönheit, Mode und Persönlichkeit“
  • Jutesack-Feministin
  • dieser toupierte Dompfaff (=Sie wissen schon wer)
  • „Broder, dieser Florian Silbereisen der politischen Folklore“
  • "penilen Plethysmographen“
  • "lebenslimitierend erkrankt"
  • Decksziege (was das mal bedeutete wollen Sie nicht wissen)
  • Empörungsmaterial
  • "Sackfäule" (=Tinea inguinalis)
  • „Renrou sousuo“ (chin.: Menschenfleisch-Suchmaschine) = Cybermob
  • ein paar „halbverhungerte Gurkenkinder“ sind? Richtig, Veganer.
  • Spaßwichtel
  • “Pregnant Hill“ scheint sich durchzusetzen
  • Der "Sprich mich an und ich weide dich aus"-Blick
  • "sozialethisch desorientierend"
  • situationselastisch
  • repräsentationspolitisch“ Ich repräsentiere mich politisch, … , sie repräsentieren sich politisch. (Der Herr möge ihren Seelen …)
  • Omamaweisheiten
  • „das Scherbengericht des Ressentiments“


  • Amüsantes:
  • Christoph Puppe (der Dieter Kunzelmann der Netzdödel) über die Krise der Männlichkeit
  • Fresse Halten! Keine Fragen! Deo benützen!
  • Chantal, heul leise!


  • Berlin, Berlin:
  • Adolf Heilborn: Die Reise nach Berlin


  • so dies und das:
  • Eine kleine Geschichte der Protestformen sozialer Bewegungen.
  • Nicht dass u. a. feministische Sprachpolitik nicht ein gerüttelt Maß an Spot verdient hätte, aber so ist es weder lustig noch berechtigt
  • Rasanter Anstieg von Selbstmordversuchen (Frankreich)
  • „Guardian“-Reporter Jason Burke hat das westbengalische Dorf Subalpur besucht, in dem eine Frau von etwa 15 Männern vergewaltigt wurde, und nach Erklärungen gesucht
  • Wie werden Menschen homosexuell?
  • Homophob? Muss nicht sein
  • Frank Lübberding: Gehört Homosexualität auf den Lehrplan? Die baden-württembergische Regierung plant das. Wer die Maischberger-Diskussion darüber anschaute, konnte etwas lernen.
  • Joshua Greene über zwei unterschiedliche moralische Modi (nur der Ansatz ist interessant)
  • Überqualifizierte Arbeitnehmer
  • Der fragmentarische Nachhall des spanisch-französischen Rifkrieges in familiären Erzählungen (Elfi Mikeschs Film „Fieber“)
  • Kolonialherren, treue Askaris und die jüdisch unterwanderte SPD im NS-Film
  • Geschichtsgesetze
  • Hier kann man die Unfähigkeit und den Unwillen sich mit einem Konservativen auseinander zu setzen bewundern
  • Zwei Besprechungen des Tatortes „Brüder“ wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten eins
  • zwei
  • Der Bildband „Ikone Karl Marx“
  • Fehler im System mancher Wissenschaften
  • Alex Demirovic über kritische Theoriebildung an den Unis, die Aktualität des Marxismus als Ensemble und das Verhältnis zum Feminismus (Nun ja, sachichma, ab da würde es interessant werden können. Das es dann nicht interessant wird, könnte das Problem sein.)
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    Donnerstag, 6. März 2014
    Schnipsel
    Manchmal lese ich irgendwo etwas und was mir dazu einfällt, schreibe ich dann auf:

    1. Steuerhinterziehung ist ein moralisches Problem für Moralistinnen und Moralisten, vor allem wenn man dann noch Zuschüsse aus Steuermitteln für seine Projekte beansprucht. Und natürlich ist Alice Schwarzer dadurch diskreditiert, was auch sonst?
    2. (Einschub, sicherheitshalber: Achtung, Ironie!) Ich verzichte ja immer auf solche Einschübe.
    3. Das mit den Verlesern nimmt überhand: Draußen nur Kaninchen.
    4. „Alice Schwarzer sollte…“ „... leiser sein.“ Yep.
    5. „Buenos Dias, Matthias!“ Dell
    6. Sätze fürs Leben: „Gott googelt nicht!“ (Na, wer weiß?)
    7. Aktueller Lieblingssatz: „er photographierte nichts als Heuschober und tote Schafe“
    8. Alle Welt hat darüber diskutiert, dass einige völlig unbekannte Menschen in einen Wald geschickt wurden, um sich daselbst zum Horst zu machen.
    9. Früher war ja meine Lieblingswette bei „Wetten, dass …“ der Papst 20 Rollfelder internationaler Flughäfen am Geschmack unterscheiden könne, heute schlösse ich mich Küppersbusch an, der wettet, dass Sahra Wagenknecht 20 Fragen von Lanz&Jörges aushalten könne, ohne in die Dekoration zu kotzen. Toughe Frau. (das war jetzt keine Anspielung)
    10. "Tierbefreier outen ein Schnitzel."
    11. "sächsische Demokratie" soll inzwischen ein geflügeltes Wort sein. Weit hammses gebracht.
    12. Es gibt zwei Argumente gegen den neuen Sexualkundelehrplan in BaWü, die einleuchten: 1. Wie soll ein Sexualkundelehrplan in einer Region umgesetzt werden, die seit urdenklichen Zeiten über die Region zwischen Kinn und Knien nicht redet und 2. auf schwäbisch?
    13. Verleser: Potmodel
    14. Einige Tiere sind menschlicher als andere
    15. Meinungsverbrecher“ benamste jemand Sarrazin und damit war die Sache dann für ihn erledigt. NPD-Funktionäre nehmen solche Bezeichnungen auch ganz gern als Ehrentitel.
    16. Für den Fall, dass Sie mal jemand beleidigen wollen: „Mit Ihnen bekommt Fremdschämen eine wirklich neue Dimension“
    17. „Die Moderne wird halt auch älter.“ Und die Postmoderne kann sich kaum noch auf den Beinen halten.
    18. Wie viel dieser Petitionsplattformen gibt es eigentlich? Tausende? Oder sogar hunderte?
    19. Amerikanische Wissenschaftler haben jüngst herausgefunden, dass Fleisch- und Käse-Essen so gefährlich wie Rauchen ist. Jetzt wisst ihrs.

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    Mittwoch, 5. März 2014
    Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 42
    Selim. Selim. Selim


    Mangogul dachte nur daran, wie er sein Vergnügen abwechseln und die Versuche seines Ringes vervielfachen könnte. Er hatte die merkwürdigsten Kleinode seines Hofes ausgefragt und war nunmehr neugierig, einige Kleinode aus der Stadt zu vernehmen. Was er aber durch sie erfahren dürfte, davon hatte er schon im voraus keine besondere Meinung, und hätte wohl gewünscht, sie nach seiner Bequemlichkeit vorladen zu können, ohne sich die Mühe zu geben, sie aufzusuchen.

    Wie sollte er sie aber zusammentrommeln? Darüber war er in Verlegenheit. »Das ist wohl der Mühe wert, nachzusinnen,« sagte Mirzoza. »Geben Sie mir eine Freiredoute, gnädigster Herr, und ich verspreche Ihnen noch diesen Abend mehr Redner von dem Schlage, als Sie werden anhören mögen.«

    »Freude meines Herzens, Sie haben recht,« antwortete Mangogul. »Ihr Vorschlag ist um so besser, weil er uns sicherlich nur solche verschafft, die mir in den Kram passen.« Alsbald erhalten der Kiflar-Ugasi und der Schatzmeister Befehl, das Fest anzuordnen und nur viertausend Billette auszugeben. Wahrscheinlich verstand man dort besser als anderswo, wie vielen Raum viertausend Menschen einnehmen. Bis die Stunde der Redoute herankam, sprachen Mangogul, die Favorite und Selim über Neuigkeiten. »Wissen Ihro Gnaden,« fragte Selim die Favorite, »daß der arme Codindo gestorben ist?« »Das erste Wort, was ich höre! Woran ist er gestorben?« sagte die Favorite. »Leider, gnädige Frau,« antwortete Selim, »ist er ein Opfer der anziehenden Kraft geworden. Auf dieses System war er von Jugend an versessen, und auf seine alten Tage wurde er darüber verrückt.« »Wie das?« fragte die Favorite.

    »Halley und Circino, zwei berühmte Sternkundige von Monoemugi, hatten berechnet, ein gewisser Komet, der gegen das Ende der Regierung Kanoglus großes Aufsehen machte, müsse vorgestern wieder erscheinen. Codindo befürchtete, dieser Komet möchte seinen Schritt beschleunigen und ihm die Ehre rauben, seiner zuerst gewahr zu werden. Daher entschloß er sich, die Nacht auf der Sternwarte zuzubringen, und sah noch gestern morgen um neun Uhr unverwandt durch das Fernrohr.«

    Sein Sohn befürchtete, eine so lange Sitzung könne dem Vater nachteilig werden, näherte sich ihm um acht Uhr und zupfte ihn am Ärmel: »Vater! Vater!« Keine Antwort. »Vater! Vater!« wiederholte der junge Codindo. »Er muß gleich kommen,« antwortete Codindo, »er wird gleich kommen. Er soll mir wahrhaftig nicht entgehn.« – »Das ist unmöglich, Vater, es nebelt viel zu stark.« – »Ich will ihn sehn und ich muß ihn sehn.«

    Diese Antworten überzeugten den jungen Menschen, daß es bei seinem Vater rapple. Er rief um Hülfe, man kam. Er ließ Tarfadi aufsuchen, man fand ihn bei mir, es ist mein Arzt. »Geschwind, geschwind, Herr Doktor, verlieren Sie keine Zeit; der alte Herr Codindo.« – »Nun, Johann? was fehlt deinem Herrn?« – »Er ist närrisch geworden.« – »Dein Herr verrückt?« – »Ach! leider, es ist gewiß. Er ruft immer, er will Tiere sehen, es müßten welche kommen! Der Herr Apotheker ist schon da, und man erwartet Sie ebenfalls. Kommen Sie schnell!« – »Tollheit!« sagte Farfadi, und suchte seinen Doktorhut. »Tollheit, ein schrecklicher Anfall von Tollheit!« Dann zum Bedienten: »Johann,« fragte er, »sieht dein Herr nicht auch Schmetterlinge? Zupft er nicht kleine Flocken aus seiner Bettdecke?« »Ach nein, Herr Doktor,« antwortete Johann. »Mein armer Herr sitzt oben auf der Sternwarte. Seine Frau, seine Töchter und sein Sohn halten ihn bei allen vieren. Kommen Sie schnell; Ihren Doktorhut können Sie morgen suchen.« Codindos Krankheit schien mir zum Lachen. Farfadi stieg in meinen Wagen, und wir fuhren zusammen zur Sternwarte. Unten an der Treppe hörten wir schon Codindo wie besessen rufen: »Ich will den Kometen sehn! Ich muß ihn sehn. Laßt mich ungeschoren!«

    Wahrscheinlich hatte seine Familie, da sie ihn nicht bereden konnte, herabzusteigen, sein Bett oben auf den Turm gebracht, denn wir fanden ihn im Bette. Man hatte den nächsten Apotheker herbeigeholt und den Brahminen des Kirchensprengels, der ihm, als wir kamen, in die Ohren rief: »Bruder, lieber Bruder, bedenken Sie, es geht ums Seelenheil! Sie können um diese Stunde mit gutem Gewissen keinen Kometen erwarten. Sie kommen sonst in die Hölle.« »Das ist meine Sache,« sagte Codindo. »Was werden Sie zu Brahma sagen, vor dem Sie nun bald erscheinen müssen?« fing der Brahmine wieder an. »Herr Pfarrer,« versetzte Codindo und sah mit keinem Auge vom Fernrohr weg, »ich werde ihm sagen, daß es Ihr Amt ist, mich für mein Geld zu ermahnen und das des Herrn Apothekers, mir sein warmes Wasser anzupreisen; daß mein Herr Arzt seine Schuldigkeit tut, wenn er mir den Puls fühlt und nichts davon versteht, und daß ich meine Pflicht tue, wenn ich den Kometen erwarte.« Trotz aller Anstrengung brachte man kein anders Wort aus ihm. Er fuhr heldenmütig fort zu beobachten und starb in der Regenrinne, die linke Hand auf das linke Auge, die rechte am Fernrohr haltend, das rechte Auge auf das Okularglas gerichtet. Um ihn standen sein Sohn, der ihm zurief, er habe sich verrechnet; sein Apotheker, der ihm vorschlug, etwas einzunehmen, sein Arzt, der den Kopf schüttelte und behauptete, es sei nichts mehr zu machen; und sein Beichtvater, der ihn aufforderte, sich zu bekehren und seine Seele Brahma zu befehlen.

    »Das heiße auf dem Bette der Ehren sterben,« sagte Mangogul. »Mag der arme Codindo in Frieden ruhn,« sprach Mirzoza, »und reden wir von etwas Lustigerem.« Darauf wandte sie sich gegen Selim: »Sie haben Ihre besten Jahre hier zugebracht, Sie liebten die Frauenzimmer, Sie lebten an einem Hofe, wo das Vergnügen zu Hause ist. Mit Ihrem Witz, Ihrem Verdienst und dem guten Ansehn, das Ihnen zuteil ward, ist es nicht zu verwundern, daß die Kleinode Ihr Lob gesungen haben: ich vermute sogar, daß sie nicht alles angegeben haben, was sie von ihnen wußten. Nun verlang' ich zwar von Ihnen darüber keinen Nachtrag: Sie könnten Ihre guten Ursachen haben, dies Ansinnen von sich abzulehnen. Aber nach allen Abenteuern, die diese Geschöpfe auf Ihre Rechnung schreiben, müssen Sie ein Kenner des weiblichen Geschlechts sein: das können Sie doch ohne Zweifel zugeben?«

    »Diese Schmeichelei, gnädige Frau,« antwortete Selim, »würde meiner Eigenliebe sehr gefallen haben, da ich zwanzig Jahr alt war. Aber jetzt besitz' ich Erfahrung und halte keine Bemerkung für so sicher, als die: je mehr man dies Handwerk treibt, je dunkler wird's einem. Ich ein Weiberkenner? Bloß studiert hab ich sie.« »Gut also, was halten Sie von ihnen?« fragte die Favorite. »Ich denke, gnädige Frau, daß alle Weiber meine Achtung verdienen, ihre Kleinode mögen sagen was sie wollen.«

    »Wahrhaftig, mein Lieber,« sagte Mangogul, »Sie verdienten selbst ein Kleinod zu sein.« »Sie hätten keinen Maulkorb nötig. Selim,« setzte die Favorite hinzu, »geben Sie den satyrischen Ton auf und sagen Sie uns die Wahrheit.« »Gnädige Frau,« antwortete der Hofmann, »in der Schilderung, die ich entwerfen soll, möchten unangenehme Züge vorkommen: erlassen Sie mir die Notwendigkeit, ein Geschlecht zu beleidigen, das mich immer gut behandelt hat und dem ich schon deswegen Ehrfurcht schuldig bin.« – »Ehrfurcht hin, Ehrfurcht her,« unterbrach ihn Mirzoza, »nichts ist so scharf als die sanftmütigen Männer, wenn sie's darauf anlegen!« Sie bildete sich nämlich ein, Selim sei aus Achtung für sie zurückhaltend, und fuhr fort: »Lassen Sie sich durch meine Gegenwart nicht abschrecken; wir wollen uns hier ja unterhalten. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich will alles auf mich deuten, was Sie verbindliches von meinem Geschlecht sagen werden, und das übrige andern Frauenzimmern überlassen. Sie haben also die Frauen gut studiert? Schön, erzählen Sie die Geschichte Ihrer Studien; sie muß glänzend sein, nach dem bekannten Erfolg zu urteilen, und man darf wohl annehmen, daß Sie nicht durch das, was uns davon unbekannt blieb, Lügen gestraft werden.« Der alte Höfling gab ihrem Drängen nach und begann folgendermaßen:

    »Die Kleinode haben viel von mir gesprochen, das gesteh' ich. Aber sie haben nicht alles gesagt. Die meine Geschichte vollständig machen könnten, leben nicht mehr, oder leben nicht in unserm Himmelsstrich, und die sie angefangen haben, erwähnten ihrer nur obenhin. Bis jetzt hab' ich das unverbrüchliche Geheimnis beobachtet, das ich ihnen versprach, obwohl ich eher zum plaudern gemacht war als sie: da sie aber das Schweigen gebrochen haben, so scheint es, sie entbinden auch mich der Verschwiegenheit.

    Geboren mit feurigem Temperament, wußte ich kaum, was ein schönes Weib sei, als ich es liebte. Meine Erzieherinnen verabscheut' ich freilich, dagegen ließ ich mir meiner Mutter Kammermädchen wohl gefallen. Sie waren mehrenteils jung und hübsch. Sie unterhielten, kleideten und entkleideten sich in meiner Gegenwart ohne Scheu, forderten mich sogar auf, mir Freiheiten bei ihnen herauszunehmen und bei meiner natürlichen Anlage zur Galanterie ließ ich mir das nicht zweimal sagen. Diese Kenntnisse begleiteten mich in meinem fünften oder sechsten Jahr unter die Hand männlicher Erzieher, und Gott weiß, wie sehr sie sich vermehrten, als man mir die alten Dichter gab und meine Lehrer einige Stellen daraus verdolmetschten, deren Sinn sie vielleicht selber nicht faßten. Meines Vaters Edelknaben lehrten mich einige Schulstückchen und borgten mir die Aloysia zum Lesen, was meinen Trieb nach Vervollkommnung noch vermehrte. Ich war damals vierzehn Jahr alt.

    Ich blickte um mich und suchte unter den Frauenzimmern, die in unser Haus kamen, an wen ich mich wenden sollte; aber alle schienen mir gleich geschickt, mich einer Unschuld zu entledigen, die mir lästig ward. Ein Anfang von Bekanntschaft und mehr noch der Mut, den ich in mir fühlte, eine Person von meinen Jahren anzugreifen, was ich gegen Erwachsene nicht wagte, bestimmten mich, eine meiner Muhmen zu wählen. Emilie war jung, ich auch; ich fand sie reizend und gefiel ihr; sie war nicht schwierig, ich unternehmend; ich hatte Lust zu lernen, sie war nicht minder begierig zu wissen. Wir legten uns oft sehr naive und starke Fragen vor: eines Tages hinterging sie die Wachsamkeit ihrer Erzieherinnen, wir unterrichteten uns. Ach, was für eine große Lehrmeisterin ist die Natur! Sie ließ uns bald den Genuß entdecken und wir überließen uns ihren Trieben, ohne deren Folgen einigermaßen zu ahnden. Das war nicht das Mittel ihnen vorzubeugen. Emilie bekam Übelkeiten, die sie um so weniger verbarg, als sie ihre Ursache nicht argwohnte. Die Mutter fragte sie aus, entriß ihr das Geständnis unsers Umgangs und mein Vater erfuhr davon. Der gab mir einen Verweis deswegen, wobei er aussah, als ob es ihm nicht leid täte, und alsbald ward ausgemacht, daß ich reisen sollte. Mich begleitete ein Hofmeister, mit dem Auftrage, meine Aufführung sorgfältig zu beobachten, ohne sie einzuschränken: und fünf Monate hernach erfuhr ich durch die Zeitung, Emilie sei an den Blattern gestorben, und durch einen Brief meines Vaters, die Zärtlichkeit, die sie für mich empfunden, koste ihr das Leben. Der erste Sprößling meiner Liebe dient jetzt mit Ehren im Heere Ihrer Hoheit: mein Einfluß hat ihn immer unterstützt und noch kennt er mich nur als seinen Gönner.

    Die Nachricht von seiner Geburt und seiner Mutter Tod erhielt ich in Tunis. Sie erschütterte mich heftig, und ich glaube, ich wäre darüber nicht zu trösten gewesen, hätt' ich nicht gerade eine Liebschaft mit der Frau eines Korsaren gehabt, die mir keine Zeit ließ zu verzweifeln. Die Tuniserin war unerschrocken ich verrückt. Alle Tage warf sie mir die Strickleiter zu, worauf ich aus unsrer Wohnung auf ihren Altan stieg und von da in ein Kabinett, wo sie mich vervollkommnete, denn bei Emilien blieb ich im ersten Entwurf. Ihr Mann kehrte gerade von einer weiten Reise zurück, als mein Hofmeister, der seine Instruktion befolgte, in mich drang, nach Europa zu gehen. Ich setzte mich auf ein Schiff, das nach Lissabon abging, aber vorher beurlaubte ich mich mehr als einmal zärtlich bei Elviren, die mir den Diamanten gab, den Sie hier sehen.

    Unser Schiff hatte viel Waren an Bord, aber nach meinem Geschmack war die Frau des Kapitäns die kostbarste. Sie zählte kaum zwanzig Jahre, ihr Mann war eifersüchtig wie ein Tiger, und nicht ganz ohne Ursache. Bald verstanden wir uns untereinander. Donna Velina begriff auf einmal, daß sie mir gefiele, ich, daß ich ihr nicht gleichgültig, ihr Gemahl, daß er uns im Wege sei. Der Seemann entschloß sich, sie niemals aus den Augen zu lassen, bis wir im Hafen von Lissabon ankommen würden. Ich las in den Augen seiner teuren Gattin, wie leid es ihr sei, so von ihrem Manne belagert zu werden. Die meinigen sagten ihr eben das, und der Ehemann erriet uns ohne Mühe. Zwei Tage dursteten wir unaussprechlich nach Genuß und wären sicherlich vor Durst verschmachtet, hätte sich der Himmel nicht ins Spiel gemischt. Aber der steht immer den Bedrängten bei. Kaum waren wir durch die Meerenge von Gibraltar gesegelt, als ein wütender Sturm sich erhob. Wäre es hier nicht um Geschichte zu thun, so würde ich nicht unterlassen, gnädige Frau, die Winde um Ihre Ohren pfeifen und den Donner über Ihr Haupt rollen zu lassen, den Himmel mit Blitzen zu entzünden, die Wogen bis an die Wolken zu schleudern und Ihnen den fürchterlichsten Sturm zu schildern, der Sie jemals in einem Roman betroffen hat. Jetzt begnüg' ich mich, Ihnen zu sagen, daß der Kapitän durch das Geschrei der Matrosen gezwungen ward, seine Kajüte zu verlassen und sich einer Gefahr auszusetzen, um der andern zu entgehen. Mein Hofmeister begleitete ihn, und ich stürzte mich ohne Bedenken in die Arme der schönen Portugiesin, vergaß gänzlich Meer, Sturm, Ungewitter und das zerbrechliche Schiff und überließ mich rückhaltlos dem treulosen Element. Unsre Fahrt war schnell, und Ihro Gnaden ermessen leicht, daß man in wenig Stunden weit kommt, wenn der Wind in die Segel stößt. Wir stiegen in Cadix ans Land, wo ich meiner Sennora versprach, sie zu Lissabon wieder aufzusuchen, wenn es mir mein Mentor erlauben würde, dessen Absicht gerade nach Madrid ging.

    Die Spanierinnen sind viel eingezogner und verliebter als unsre Damen. Dort pflegt man der Liebe durch Botschafterinnen, die den Auftrag haben, die Fremden auszuspähen, ihnen Anträge zu machen, sie hin- und zurückbegleiten; und die Damen nehmen die Mühe auf sich, sie zu beglücken. Der Zufall fügte es, daß ich dieser Umstände nicht bedurfte. Eine große Revolution hatte einen französischen Prinzen auf den Thron dieses Landes versetzt; seine Ankunft und seine Krönung veranlaßten Feierlichkeiten am Hofe, bei denen ich erschien. Man sprach zu mir auf einer Redoute, man schlug mir eine Zusammenkunft für den folgenden Tag vor; ich nahm sie an und begab mich in ein abgelegenes Haus, wo ich einen verlarvten Menschen fand, bis an die Nase in seinen Mantel gehüllt, der mir ein Briefchen zusteckte, wodurch Donna Oropesa unsre Unterhaltung auf die nämliche Stunde des morgenden Tages verschob. Ich fand mich wieder ein und ward in ein prächtig möblirtes, von Wachskerzen erleuchtetes Zimmer geführt. Meine Göttin ließ nicht auf sich warten. Sie folgte mir auf dem Fuß und warf sich in meine Arme, ohne ein Wort zu sprechen oder ihre Larve abzulegen. War sie häßlich? war sie schön? Das wußte ich nicht. Nur auf dem Sofa, wohin sie mich führte, ward ich gewahr, daß sie jung und gut gebaut sei und das Vergnügen liebte. Als sie meiner Lobeserhebungen genug hatte, entlarvte sie sich und zeigte mir das Original des Gemäldes, das Sie auf dieser Dose sehn.«

    Selim zog, indem er dies sagte, eine trefflich gearbeitete goldne Dose, mit Edelsteinen besetzt, hervor. »Das ist ein schönes Geschenk,« sagte Mangogul. »Das Gemälde darauf ist mir das schätzbarste,« sagte die Favorite. »Was für Augen! Welch ein Mund! Welch ein Busen! Ist dabei nichts geschmeichelt?« »So wenig, gnädige Frau,« antwortete Selim, »daß mich Oropesa vielleicht in Madrid festgehalten hätte, wenn ihr Gemahl, der unsern Umgang erfuhr, ihn nicht durch seine Drohungen unterbrach. Oropesa war mir lieb, das Leben war mir lieber. Auch schien mein Hofmeister nicht geneigt, mich den Dolchstichen des Mannes auszusetzen, damit ich seine Frau einige Monate länger genösse. So schrieb ich also der schönen Spanierin ein rührendes Lebewohl, das ich einem Roman ihres Landes entlehnte, und reiste nach Frankreich.«

    Der Monarch, der damals Frankreich beherrschte, war Großvater des Königs von Spanien, und sein Hof galt mit Recht für den prächtigsten, gesittetsten und liebeseligsten von Europa. Ich erschien wie ein Naturphänomen. »Ein junger Herr aus Congo?« sagte eine schöne Marquise. »Das muß doch sehr spaßhaft sein. Da gibt's ganz andre Männer als bei uns. Congo liegt, denk' ich, nicht weit von Marokko.« Man veranstaltete meinetwegen Gesellschaften. Sprach ich auch nur ein ganz wenig vernünftiges Wort, so fand man mich aufgeklärt und wunderbar frei. Man pries mich um so lauter, weil man mir anfangs die Ehre erzeigt hatte, zu argwöhnen, ich habe keinen Menschenverstand. »Er ist allerliebst!« rief eine andre Hofdame mit Lebhaftigkeit. »Es ist ein wahrer Mord, daß ein so hübsch gebildeter junger Mann in ein Land zurückkehren soll, wo die Frauenzimmer von Männern bewacht werden, die keine Männer sind!« »Ist das wohl wahr, mein Herr? Man sagt, sie haben garnichts. Das muß einem Manne übel stehn.« »Wir müssen sehn,« sagte eine andre, »wie wir den Jungen hier unter bringen. Er ist ja von gutem Hause. Wenn alles fehlschlägt, wird er Maltheser-Ritter. Ich wills auf mich nehmen, ihn zu versorgen; und die Herzogin Viktoria, meine Freundin von jeher, kann im Notfall bei dem König selbst für ihn sprechen.«

    Bald hatt' ich unverdächtige Beweise ihres Wohlwollens. Ich setzte die Marquise in den Stand, das Verdienst der Einwohner von Congo und Marokko zu beurteilen: »aber ich erfuhr, der Posten, den die Herzogin und ihre Freundin mir versprochen hatten, sei schwer auszufüllen, und gab ihn auf. Hier lernt' ich einer hohen Leidenschaft vier und zwanzig Stunden nachhängen. Sechs Monate lang trieb ich mich wie in einem Wirbel umher, wo eine Liebschaft anfing, ehe die andre ein Ende nahm, wo man nichts suchte als Genuß. Verzögerte sich der, oder war er erlangt, so flog man neuen Freuden zu.«

    »Was sagen Sie, Selim?« antwortete die Favoriti. »Anstand ist also in diesem Lande unbekannt?« »Vergeben Sie mir, gnädige Frau,« antwortete der alte Höfling. »Man führt kein Wort so häufig im Munde. Aber Sklavinnen der Sache sind die Französinnen so wenig als ihre Nachbarinnen.« »Was für Nachbarinnen?« fragte Mirzoza. »Die Engländerinnen,« versetzte Selim, »kalt und spröde dem Anschein nach, aber heftig, wollüstig und rachsüchtig; minder witzig, aber vernünftiger als die Französinnen. Diese lieben das Geschwätz der Empfindungen, jene ziehen den Ausdruck des Genusses vor. Doch liebt man zu London wie zu Paris, verläßt sich und verbindet sich aufs neue, um sich aufs neue zu verlassen. Ich vertauschte die Tochter eines Lord Bishop – das ist eine Art verheirateter Brahminen – gegen die Frau eines Ritters Baronet. Unterdes er sich im Parlament erhitzte, um die Sache seines Volkes gegen die Eingriffe des Hofes zu verteidigen, hatten seine Gattin und ich zu Hause ganz andre Debatten. Aber das Parlament endigte seine Sitzungen, und Mylady war gezwungen, ihrem Baronet auf seinen Landsitz zu folgen. Da verfiel ich auf die Gemahlin eines Obersten, dessen Regiment in einem Seehafen in Garnison lag. Endlich gehört' ich der Frau des Lordmajors. Ach, welch eine Frau! Nie hätt' ich Congo wieder gesehen, wenn mich nicht die Klugheit meines Hofmeisters, der mich hinschwinden sah, dieser Galeere entriß. Er erdichtete Briefe meiner Familie, die meine Rückkunft sehnlich verlangte, und wir schifften uns nach Holland ein, von wannen wir durch Deutschland gehn und uns nach Italien begeben wollten, wo es uns nicht an Gelegenheit fehlen konnte, nach Afrika zurückzukehren.«

    Wir sahen Holland bloß auf der Extrapost und hielten uns in Deutschland nicht viel länger auf. Alle Frauenzimmer von Stande glichen dort wichtigen Festungen, die man förmlich belagern muß. Sie ergeben sich endlich, aber man muß sich ihnen mit großer Vorsicht nähern; und es gibt so viele Wenn und Aber als Bedingungen der Übergabe, daß mir diese Eroberungen bald Langeweile machten.

    Nie werd' ich die Worte einer Deutschen von hohem Range vergessen, als sie im Begriff war, mir einzuräumen, was sie vielen andern nicht abgeschlagen hatte: »Ach!« rief sie mit Thränen, »was würde der große Alziki, mein Vater, sagen, wenn er wüßte, daß ich mich einem unbedeutenden Congoer überlasse!« »Er soll nichts sagen, gnädige Frau,« versetzt' ich. »So viel Größe setzt mich in Erstaunen, und ich ziehe mich ehrfurchtsvoll zurück.« Daran tat ich sehr weislich; ich möchte ein Andenken davongetragen haben, wenn ich Ihre Hoheit mit meiner Niedrigkeit bloßgestellt hätte. Brama, der unser gesundes Land in seine Obhut nimmt, war im Geiste mit mir in dieser mißlichen Stunde.

    Die Italienerinnen, mit denen wir hernach zu tun hatten, sind nicht so hochnäsig. Sie unterrichteten mich in den verschiedenen Arten des Vergnügens. Es liegt oft in diesen verfeinerten Genüssen viel Launenhaftigkeit und Seltsamkeit; aber, meine Damen, Sie werden mir verzeihen, das muß zuweilen sein, um Ihnen zu gefallen. Ich habe aus Florenz, Venedig und Rom verschiedene Freudenrezepte mitgebracht, die mein barbarisches Vaterland vor meiner Rückkunft nicht kannte. Der Ruhm dieser Neuerung gebührt den Italienerinnen.

    Ungefähr vier Jahre hatte ich in Europa zugebracht und kehrte ausgebildet, wie Sie sehen, und mit den seltenen italienischen Entdeckungen bereichert, die ich ohne Säumen bekannt machte, durch Ägypten in unser Reich zurück.

    Hier, sagte der gelehrte Afrikaner, bemerkte Selim, daß die abgedroschenen Bemerkungen, die er der Favorite über seine europäischen Reisen und über den Charakter der Weiber der von ihm bereisten Länder auskramte, den Sultan in tiefen Schlummer gewiegt hatten; und weil er fürchtete, ihn aufzuwecken, näherte er sich der Sultanin und fuhr mit leiserer Stimme fort:

    »Gnädige Frau, müßt' ich nicht besorgen, Sie durch einen Bericht ermüdet zu haben, der vielleicht nur allzulang gewesen ist, so würd' ich Ihnen noch mein erstes Abenteuer in Paris erzählen, von dem ich nicht begreife, wie es mir vorhin entfalle konnte.«

    »Tun Sie das, lieber Selim«, antwortete die Favorite. »Ich will meine Aufmerksamkeit verdoppeln und Sie, so viel an mir ist, für die des schlafenden Großherrn entschädigen.«

    »Wir brachten,« fuhr Selim fort, »von Madrid Empfehlungsschreiben an einige französische Herren mit und kamen auf die Art gleich bei unsrer Ankunft in gute Gesellschaft. Es war gerade in der guten Jahreszeit, und mein Hofmeister und ich gingen des Abends gewöhnlich im Palais Royal spazieren. Da wurden wir einst dort von einigen Stutzern angeredet, die uns die hübschesten Damen nachwiesen, ihre wahre oder falsche Geschichte erzählten und sich selbst nicht dabei zuletzt erwähnten, wie Sie leicht denken können. Schon waren sehr viel Frauenzimmer im Garten, aber gegen acht Uhr bekamen sie eine ansehnliche Verstärkung. Nach der Menge ihrer Edelsteine, der Pracht ihrer Kleidung und ihrem zahlreichen Gefolge hielt ich sie wenigstens für Herzoginnen. Ich sagte meine Gedanken einem jungen Herrn aus der Gesellschaft, der mir antwortete, er merke wohl, daß ich ein Kenner sei; wenn ich aber wollte, könnte ich das Vergnügen haben, noch am nämlichen Abend mit einigen der liebenswürdigsten zusammen zu speisen. Ich nahm sein Anerbieten an; sogleich raunte er zweien oder dreien seiner Freunde etwas ins Ohr, die sich unter die Spaziergänger zerstreuten und in weniger als einer Viertelstunde zurückkamen, Rechenschaft von ihrer Unterhaltung abzulegen.«

    »Meine Herren,« sagten sie, »man erwartet Sie zum Nachtessen bei der Herzogin Asteria.« Die nicht eingeladen waren, priesen laut unser Glück; man ging noch einigemal auf und ab; man trennte sich, und wir warfen uns in unsern Wagen, um dieses Glück zu genießen.

    Wir hielten an einer kleinen Tür am Fuß einer engen Treppe, die wir bis in den zweiten Stock hinaufstiegen, wo ich die Zimmer geräumiger und besser möbliert fand, als sie mir jetzt vorkommen würden. Man stellte mich der Frau vom Hause vor, der ich eine sehr tiefe Verbeugung und ein so ehrfurchtsvolles Kompliment machte, daß sie beinahe die Fassung darüber verlor. Es ward aufgetragen, und man setzte mich neben eine junge reizende Person, die die Herzogin spielte, so gut sie konnte. Wahrhaftig, ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, mich in sie zu verlieben; und doch passierte mir das. »Sie haben also einmal in Ihrem Leben geliebt?« fragte die Favorite. »Ja, gnädige Frau,« antwortete Selim, »wie man eben mit achtzehn Jahren liebt, mit jener außerordentlichen Ungeduld, eine angesponnene Liebschaft zu Ende zu bringen. Ich schlief die Nacht nicht, und sobald der folgende Morgen graute, entwarf ich den zärtlichsten Liebesbrief an meine schöne Unbekannte. Ich schickt' ihn fort, man antwortete und bewilligte mir ein Stelldichein. Weder der Ton der Antwort noch die Nachgiebigkeit der Dame enttäuschten mich, und ich eilte an den bestimmten Ort mit der festen Überzeugung, ich werde die Frau oder Tochter eines Premierministers besitzen. Meine Göttin erwartete mich auf einem breiten Sofa. Ich warf mich zu ihren Füßen. Ich ergriff ihre Hand, küßte sie mit lebhafter Zärtlichkeit und wünschte mir Glück zu der Gewogenheit, die sie mir bezeugte.« »Ist es auch wirklich wahr,« sagte ich, »daß Sie Selim erlauben, Sie zu lieben und es Ihnen zu sagen? Darf er, ohne Sie zu beleidigen, sich mit so süßer Hoffnung schmeicheln?«

    So sprach ich und drückte einen Kuß auf ihren Busen. Da sie liegen blieb, rüstete ich mich eifrig, diesem Anfang unsrer Unterhaltung Nachdruck zu geben, aber sie hielt mich auf und sprach: »Halt, halt, guter Freund, du bist ein schöner Junge, du hast viel Witz, du sprichst wie ein Engel, aber ich brauche vier Louis.« »Was sagen Sie?« fragte ich. »Ich sage dir,« antwortete sie, »wenn du mir nicht vier Louis gibst, so ist nichts zu machen ...« »Wie, Mamsell!« rief ich mit Erstaunen aus, »Sie sind nicht mehr wert? Das lohnte sich wahrlich der Mühe, von Congo herzukommen!« Sogleich bring' ich mich wieder in Ordnung, stürze die Treppe hinunter und eile fort.

    »Sie sehen, gnädige Frau, in meiner ersten Zeit hielt ich Figurantinnen für Prinzessinnen.« »Das nimmt mich sehr Wunder,« versetzte Mirzoza, »der Unterschied ist doch außerordentlich groß.« »Ich zweifle nicht daran,« erwiderte Selim, »daß Ihnen tausend Ungeschicklichkeiten entschlüpften. Aber was wollen Sie? Ein Fremder, ein junger Mensch sieht darauf nicht so genau. Man hatte mir in Congo so viel schlechte Geschichten über die Freiheit der Europäerinnen erzählt ...« So weit kam Selim, als Mangogul erwachte: »Ich glaube, Gott verdammt mich!« sagte er, gähnte und rieb sich die Augen, »er befindet sich noch immer zu Paris. Darf man Sie fragen, Herr Schönredner, wann Sie hoffen, wieder in Banza anzulangen, und ob ich noch lange schlafen soll? Denn Sie müssen wissen, mein lieber Freund, daß es unmöglich ist, in meiner Gegenwart eine Reise zu beginnen, ohne mir eine Anwandlung von Gähnen zu verursachen. Das ist eine üble Gewohnheit, die ich angenommen habe, seitdem ich Tavernier und andere lese.«

    »Gnädigster Herr,« antwortete Selim, »ich bin schon seit einer Stunde wieder in Banza.«

    »Dazu wünsch' ich Ihnen Glück,« versetzte der Sultan. Darauf wandte er sich zur Favorite: »Madam, die Stunde des Balles ist da; verfügen wir uns dahin, wenn die Ermüdung der Reise es Ihnen zuläßt.«

    »Gnädigster Herr,« antwortete Mirzoza, »ich bin bereit.« Mangogul und Selim hatten schon ihre Dominos, die Favorite nahm den ihrigen. Der Sultan gab ihr die Hand, und sie begaben sich in den Ballsaal, wo sie sich trennten, um sich in der Menge zu zerstreuen. Selim folgte ihnen, »und ich auch,« sagt der gelehrte Afrikaner, »obwohl ich mehr Lust hatte zu schlafen, als tanzen zu sehen.«
    Poppen durch die Fürstenhöfe Europas (nebst der Begegnung mit einer Professionellen in Paris)

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    Dienstag, 4. März 2014
    In der Bahn
    Ein Vater zu seinem 4-jährigen Sohn: „Warum hast du denn mit Lea Schluss gemacht? Letzte Woche wolltest du sie doch noch heiraten?“
    „Lea ist doof, sie will immer bestimmen, was wir spielen.“
    „Und? Hast du sie mal gefragt, ob du auch mal bestimmen darfst?“
    „Ja schon, das wollte sie aber nicht.“

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    Montag, 3. März 2014
    Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 41
    Fanny

    Die Unterhaltung war früher zu Ende als der Tag. Darum entschloß sich Mangogul, vor Abend noch einen Versuch mit seinem Ringe zu machen, wäre es auch nur, um sich mit fröhlicheren Gedanken zu Bette zu legen, als die ihn bisher beschäftigt hatten. Er begab sich alsobald zu Fanny, aber er fand sie nicht. Nach dem Nachtmahl kam er wieder hin, sie war aber immer noch abwesend. Also verschob er seine Prüfung auf den andern Morgen.

    »Heute war Mangogul,« sagt der gelehrte Afrikaner, dessen Tagebuch wir übersetzen, »um halb zehn Uhr bei Fanny.« Man hatte sie eben zu Bette gebracht. Er trat an ihr Bett, betrachtete sie eine Zeitlang und konnte nicht begreifen, wie sie mit so wenig Reizen so viele Abenteuer hatte erleben können.

    Fanny ist so blond, daß sie infolgedessen nichtssagend aussieht; groß, schlottrig, hat einen unanständigen Gang, ausdruckslose Züge, wenig Anmut, ein Gesicht von einer Keckheit, die nur bei Hofe erträglich ist; gerade so viel Verstand, als die Gewohnheit, zu lieben und sich lieben zu lassen, gewähren kann. Eine Frau müßte außerordentlich dumm von Natur sein, wenn sie nach zwanzig Liebeshändeln nicht wenigstens des alltäglichen Geschwätzes Meisterin wäre; denn so weit hatte es Fanny schon gebracht.

    Ganz zuletzt war sie einem Manne zuteil geworden, der ihrem Charakter ganz angemessen war. Ihre Untreue machte ihm wenig Kummer, obwohl er nicht so gut wie die ganze Welt davon unterrichtet war, wie sie es trieb. Eine Grille führte sie ihm zu, aus Gewohnheit behielt er sie bei sich, und sie führte ihm den Haushalt. Sie hatten die Nacht durch getanzt, waren um neun Uhr zu Bette gegangen und ohne weiteres eingeschlafen.

    Alonsos Gleichgültigkeit würde Fanny minder gepaßt haben, wäre nicht eben deswegen so gut mit ihm auszukommen gewesen. Unsere beiden Leutchen schliefen also Rücken an Rücken recht fest, als der Sultan seinen Ring gegen Fannys Kleinod drehte. Sogleich fing es an zu reden, seine Gebieterin zu schnarchen und Alonso zu erwachen.

    Nach vielem Gähnen: »Das ist nicht Alonso. Was ist die Glocke? Was soll ich? Mich deucht, ich bin erst eben ein wenig eingeschlummert. Man lasse mich in Ruh!«Das arme Ding wäre gern wieder eingeschlafen, aber das war nicht des Sultans Absicht. »Welch eine Belästigung?« fing das Kleinod wieder an. »Noch einmal, was soll ich? Wehe dem, der erlauchte Ahnen hat! Ein Kleinod von Stande befindet sich in einer dummen Lage. Könnte mich etwas über die Beschwerden meines Standes trösten, so wäre es die Gutherzigkeit des Herrn, dem ich angehöre. O, in dem Stück ist er der beste Mann von der Welt. Er hat uns nie den mindesten Seitensprung gemacht, wir aber haben dagegen auch unsre Freiheit trefflich ausgenutzt. Beim Brahma! was hätt' ich anfangen sollen, wenn ich einem der abgeschmackten Kerle zuteil geworden wäre, die nichts tun als auflauern? Das würde ein schönes Leben gegeben haben!«

    Hier fügte das Kleinod einige Worte hinzu, die Mangogul nicht verstand, und entwarf darauf mit unbegreiflicher Geschwindigkeit eine Menge heroischer, komischer, burlesker, tragikomischer Auftritte, die es ganz außer Atem brachten, darauf fügte es hinzu: »Sie sehn, ich habe kein schlechtes Gedächtnis. Aber es geht mir wie allen, ich behalte doch nur das Wenigste von dem, was man mir anvertraut. Also seien Sie mit dem Erzählten zufrieden, auf mehr entsinne ich mich nicht.«

    »Das ist auch genug,« sprach Mangogul zu sich selbst. Doch drehte er immer fort. »Ach, was sind Sie neugierig!« hob das Kleinod wieder an. »Als ob man sonst nichts zu tun hätte, als zu plaudern! Aber meinetwegen weiter, wenn es einmal sein muß: ich hoffe doch, wenn ich alles gesagt habe, wird es gestattet sein, etwas anderes zu tun.«

    »Fanny, meine Gebieterin,« fuhr das Kleinod fort, »bekam den unerklärlichen Einfall, der Welt zu entsagen, verließ den Hof und schloß sich in ihr Haus zu Banza ein. Es war gerade in den ersten Herbstwochen, und niemand befand sich in der Stadt. Was machte sie denn in der Stadt? fragen Sie. Das weiß ich wahrhaftig nicht. Aber Fanny hat immer nur eins gemacht, und wenn sie sich damit abgegeben hätte, so müßte ich darum wissen. Wahrscheinlich hatte sie gar nichts vor. Ja, jetzt fällt mir's ein, wir brachten anderthalb Tage damit zu, nichts zu tun und vor Langerweile zu platzen.

    Vor Kummer über diese Lebensweise wär' ich schier gestorben, als Amisadar sich einfallen ließ, uns herauszureißen ...« »Ach! sind Sie da, mein guter Amisadar? Das ist mir sehr lieb. Sie kommen mir sehr gelegen.« – »Wer sollte Sie in Banza vermuten?« fragte Amisadar. – »Kein Mensch, das weiß ich wohl. Weder du noch andere lassen sich so etwas träumen. Du ahnst wohl auch nicht, was mich hierher geführt hat?« – »Nein, in der Tat, das weiß ich nicht.« – »Wirklich nicht?« – »Ganz und gar nicht.« – »Nun, so höre und staune, lieber Junge, ich wollte mich bekehren.« – »Dich bekehren?« – »Allerdings. – Sehn Sie mich doch einmal an!« »Ach, Sie sind ja so reizend als jemals. Das Gesicht sieht mir nicht nach Bekehrung aus.« – »Sie scherzen.« – »Nein, auf Ehre, es ist mein völliger Ernst.« – »Ich bin entschlossen, der Welt zu entsagen; sie langweilt mich.« – »Die Grille wird Ihnen bald vergehn. Ich werde eher sterben, als Sie fromm werden.« – »Das will ich doch, sag' ich dir. Es ist keinem Manne mehr zu trauen.« – »Ist Masul Ihnen etwa untreu?« – »Nein, den sah ich seit hundert Jahren nicht.« – »Oder Zufolo?« – »Erst recht nicht, den sehe ich überhaupt nicht mehr.« – »Ah, ich weiß schon, der junge Imola?« – »Wer mag solche Zierpuppen lange behalten?« – »Was also ist los?« – »Ich weiß nicht; ich hasse die ganze Welt!« – »O, gnädige Frau, Sie haben sehr unrecht. Diese Welt, der Sie so übelwollen, kann Ihnen Ihren Verlust hundertfach ersetzen.« – »Glaubst du aufrichtig, Amisadar, daß es noch gute Seelen gibt, die der Verderbnis unsers Zeitalters entgangen sind und zu lieben verstehn?« – »Zu lieben? Geben Sie sich noch mit solchem Elend ab? Wollen Sie etwa gar geliebt werden?« – »Warum nicht?« – »Bedenken Sie nur, gnädige Frau, ein Mann, der Sie liebt, fordert ebenfalls Liebe und fordert sie ausschließlich. Sie sind zu gescheit, sich der Eifersucht und den Launen eines zärtlichen, treuen Liebhabers zu unterwerfen. Nichts ist so lästig als solche Leute. Man soll nur sie sehn, nur sie lieben, nur von ihnen träumen, nur für sie witzig, fröhlich, reizend sein. Das ist Ihnen gewiß nicht recht. Es würde Ihnen schön stehen, in so eine richtige Leidenschaft zu versinken und sich vor der ganzen Welt so lächerlich zu betragen wie eine armselige Bürgersfrau!« – »Mich deucht, Amisadar, Du hast recht. In der Tat, glaub' ich, würd' es uns nicht anstehn, lange Süßholz zu raspeln, Abwechslung ist nötig, und abwechseln will ich auch. Auch seh' ich nicht, daß die zärtlichen Frauen, die man als Muster aufstellt, glücklicher wären als andere!« – »Wer sagt Ihnen das, gnädige Frau?« – »Niemand, aber ich ahne es.« – »Trauen Sie dieser Ahnung nicht! Eine zärtliche Frau macht sich selbst und ihren Liebhaber glücklich, aber diese Rolle liegt nicht allen Frauenzimmern ...« »Auf Ehre, lieber Freund, sie liegt keinem, und alle befinden sich schlecht dabei. Welchen Vorteil kann es auch haben, sich zu binden?« – »Tausend. Eine anhängliche Frau behält ihren guten Namen, wird von ihrem Liebhaber über alles hochgeachtet, und Sie möchten nicht glauben, wieviel die Liebe der Achtung verdankt.« – »Ich verstehe nichts von derlei Reden. Du wirfst alles durcheinander: guten Namen, Liebe, Achtung und ich weiß nicht was noch alles. Man sollte glauben, Unbeständigkeit sei eine Schande. Was heißt das? Ich nehme einen Liebhaber und bin schlecht daran; ich nehme einen andern, der paßt mir auch nicht recht; ich vertausche ihn gegen einen dritten, der mir ebensowenig genehm ist; und wenn ich nun das Unglück gehabt habe, zwanzigmal schlecht zu wählen, so darf ich mich nicht beklagen, so verlangst du ...« – »Ich verlange, gnädige Frau, daß eine Dame, die sich bei ihrer ersten Wahl getäuscht hat, keine zweite anstelle, aus Furcht sich von neuem zu täuschen und aus einem Irrtum in den andern zu verfallen.« – »Welche Sittenlehre! Mich deucht, guter Freund, Du predigtest eben eine ganz andere. Darf man fragen, wie ein Frauenzimmer nach Ihrem Geschmack beschaffen sein müßte?« »Das will ich Ihnen gern sagen, meine Gnädige, aber es ist spät, und das würde nur zu weit führen ...« – »Desto besser, ich habe niemand, und du kannst mir Gesellschaft leisten. Setze dich auf diesen Armstuhl und fahre fort. So werde ich dir bequemer zuhören können.«

    Amisadar gehorchte und setzte sich neben Fanny. »Sie haben da, gnädige Frau,« sagte er, beugte sich gegen sie und enthüllte ihren Busen, »einen Umhang, der Sie ganz vermummt.« – »Du hast recht.« – »Und warum so viel schöne Dinge verbergen?« sprach er und küßte, »was er sah.« – »Hören Sie doch auf! Sie sind wirklich nicht gescheit! Sie werden unverschämt, Herr Sittenrichter! Fahr' lieber in Deiner Vorlesung fort.«

    »So wünscht' ich denn,« fuhr Amisadar wieder fort, »bei meiner Geliebten ein schönes Gesicht, Verstand, Empfindung und vornehmlich Anstand. Ich möchte, daß sie meine stumme Sorge um sie gutheiße; daß sie mir nicht sozusagen einen stummen Korb gäbe; daß sie mir aufrichtig sagte, ob ich ihr gefalle; daß sie mir selbst die Mittel angäbe, ihr noch mehr zu gefallen; daß sie mir die Fortschritte nicht verhehlte, die ich in ihrem Herzen machte; daß sie nur auf mich hörte, nur für mich Augen hätte, nur an mich dächte, nur von mir träumte, nur mich liebte, sich nur mit mir beschäftigte, nichts täte, als was mich davon überzeugen könnte; und daß, wenn sie endlich meinem Verlangen nachgäbe, ich deutlich sähe, daß ich alles ihrer und meiner Liebe verdankte. Das wäre ein Triumph, meine Gnädige! Wie glücklich ist der Mann, der eine solche Frau besitzt!« – »Aber, mein lieber Amisadar, du weißt nicht, was du redest. Das ist das Porträt einer Frau, die es nicht gibt.« – »Um Verzeihung, meine Gnädige, es gibt solche. Sie sind selten, das räum' ich ein. Ich war indessen so glücklich, eine zu finden. Ach! hätte der Tod sie mir nicht geraubt, denn es ist immer nur der Tod, der einem solch eine Frau raubt, vielleicht läge sie jetzt in meinen Armen.« – »Aber wie benahmst du dich denn ihr gegenüber?« – »Ich liebte sie über die Maßen. Ich versäumte keine Gelegenheit, ihr Beweise meiner Zärtlichkeit zu geben. Ich genoß der süßen Genugtuung, zu sehn, daß sie gut aufgenommen wurden. Ich war ihr ängstlich treu, sie ebenso mir. Wir stritten nur darüber, wer den andern am meisten liebte. Durch solche kleine Plänkeleien lernten wir uns besser kennen. Nie waren wir zärtlicher, als wenn wir unsre Herzen erforscht hatten. Nach einer solchen Erklärung wurden unsre Liebkosungen immer lebhafter. Wie liebevoll und wahr wurden dann unsre Blicke! Ich las in ihren Augen, sie las in den meinigen, daß wir vor gleicher wechselseitiger, Liebe brannten.« – »Und wo lief das alles hinaus?« – »Auf Freuden, die allen minder liebenden, minder wahrhaftigen Sterblichen unbekannt sind.« – »Sie genossen?« – »Ja, ich genoß eines mir unendlich teuren Glücks. Zwar die Achtung selbst berauscht mich, aber sie vermehrt den Rausch um ein großes. Wir legten uns unsre Herzen offen dar, und Sie können nicht glauben, wie sehr die Leidenschaft dabei gewann. Je tiefer mein Blick drang, je mehr Tugenden ich entdeckte, desto größer war mein Entzücken. Eine Hälfte meines Lebens verlebt' ich zu ihren Füßen, die andre sehnt' ich mich nach ihr. Sie war glücklich durch mich, ich war unaussprechlich glücklich durch sie. Ich sah sie immer mit Vergnügen und verließ sie immer ungern. So lebten wir. Jetzt entscheiden Sie, gnädige Frau, ob eine zärtliche Frau so sehr zu beklagen sei.« – »Nein, das ist sie nicht, wenn Sie mir die Wahrheit sagen; aber es wird mir schwer, Ihnen zu glauben. So liebt niemand. Und selbst die Leidenschaft, deren Sie sich bewußt sind, muß nach meinen Begriffen die Freuden, die sie gibt, durch große Unruhe erkaufen.« – »Die empfand ich auch, gnädige Frau, aber sie war mir teuer. Ich fühlte Aufwallungen der Eifersucht. Die geringste Veränderung, die ich auf dem Gesicht meiner Geliebten bemerkte, erschütterte die geheimsten Tiefen meiner Seele.« – »Welch eine Ausschweifung! Alles in allem, schließ' ich, daß man besser tut, zu lieben, wie die heutige Welt liebt; nach Gefallen zu wählen, sich treu zu bleiben, solange man sich unterhält und sich zu trennen, sobald man Langeweile fühlt oder an einem andern Gegenstand Geschmack findet. Unbeständigkeit beut uns eine Abwechslung von Freuden, die ihr liebekranke Herzen nicht kennt.« – »Ja, ich gebe zu, für kleine Lebedamen, für käufliche Frauen mag diese Manier gut genug sein; aber ein Mann von feinem zarten Gefühl gibt sich damit nicht ab. Höchstens kann ihm das die Zeit vertreiben, wenn sein Herz frei ist und er Vergleichungen anstellen will. Mit einem Wort, eine Buhlerin könnte mir nie gefallen.« – »Du hast recht, lieber Amisadar, ich höre dich gern so reden. Doch in wen bist du denn gegenwärtig verliebt?« – »In niemand, gnädige Frau, außer in Sie; aber ich wage nicht, es Ihnen zu sagen.« – »Ach, mein Lieber, wag' es immerhin, du kannst es sagen,« versetzte Fanny und sah ihn fest an.

    Amisadar verstand diese Antwort sehr gut, setzte sich zu ihr auf das Sofa und fing an mit einem Bande zu tändeln, das um Fannys Busen flatterte. Man ließ ihn gewähren. Seine Hand fand kein Hindernis auf ihrem Wege und glitt weiter. Man fuhr fort, Blicke auf ihn zu schießen, die er nicht mißverstand. »Ich merkte wohl,« sagte das Kleinod, »er habe recht.« Er küßte den Busen, den er so gepriesen hatte. Man gebot ihm, einzuhalten, aber mit einem Tone, der einen Gehorsam übelgenommen hätte; daher gehorchte er auch nicht. Er küßte die Hände, küßte den Busen wieder, küßte den Mund und fand keinen Widerstand. Unmerklich schoben sich seine Lenden unter Fannys Beine. Seine Hand berührte sie, sie waren sehr wohlgebildet, Amisadar übersah das nicht. Man hörte seine Lobeserhebungen mit zerstreuten Blicken an. Durch diese Unaufmerksamkeit begünstigt, machte Amisadars Hand Fortschritte und kam gar bald bis an das Knie. Die Unaufmerksamkeit dauerte fort, und Amisadar fing an, sich zurechtzusetzen, als Fanny wieder zu sich selbst kam. Sie beschuldigte den jungen Philosophen, er überschreite die gebührende Achtung, aber nun war er zerstreut: er hörte nichts oder beantwortete die Vorwürfe, die man ihm machte, nicht anders als durch Vollendung seines Glücks.

    »Wie reizend schien er mir! Unter der Menge seiner Vorgänger und Nachfolger war mir keiner jemals so zu Dank. Noch da ich von ihm spreche, bebe ich vor Erregung. Aber erlauben Sie mir, Atem zu schöpfen; mich deucht, ich rede ziemlich lange dafür, daß ich zum erstenmal rede.«

    Alonso verlor kein Wort von Fannys Kleinod und war eben so begierig als Mangogul, das Ende des Auftritts zu erfahren. Beide hatten keine Zeit, ungeduldig zu werden, denn das historienerzählende Kleinod fing gleich wieder an:

    »Soviel ich durch Nachdenken verstehen konnte, ging Amisadar einige Tage hernach aufs Land. Man fragte ihn, was er in der Stadt gemacht habe, und er erzählte seinen Auftritt mit meiner Gebieterin. Denn einer ihrer gemeinschaftlichen Bekannten kam an unserem Haus vorbei, fragte zufällig oder absichtlich, ob die gnädige Frau da sei, ließ sich anmelden und trat herein.« – »O, gnädige Frau! Wer sollte Sie in der Stadt vermuten? Wie lang sind Sie schon hier?« – »Seit hundert Jahren, mein Lieber! Es sind schon vierzehn Tage, daß ich aller Gesellschaft entsage.« – »Darf man Ihro Gnaden fragen, warum?« – »Sie ward mir zur Last. Die Weiber leben in der Welt so ausschweifend, daß man es nicht mehr mit ihnen aushalten kann. Man müßte es ihnen entweder gleichtun, oder sich für geziert ausschreien lassen, und, aufrichtig gesagt, beides scheint mir sehr ...« – »Aber, gnädige Frau, Sie kommen mir ganz erbaulich vor. Haben etwa die Predigten des Brahminen Brelibibi Sie bekehrt?« – »Nein, es ist nur eine philosophische Anwandlung, ein Andachtsfieber. Das hat mich auf einmal gepackt, und an dem guten Amisadar lag es wahrlich nicht, wenn ich jetzt keine Heilige bin.« – »Haben Ihro Gnaden den kürzlich gesehn?« – »Ja, ein paarmal.« – »Niemand sonst?« – »Keine Seele. Es ist das einzige denkende, redende, handelnde Wesen, das mich in meiner ewigen Einsamkeit besucht hat.« – »Das ist sonderbar.« – »Sonderbar? Warum?« – »Gerade in diesen Tagen hat er auch einen Auftritt mit einer Dame aus Banza gehabt, die einsam war wie Ihro Gnaden, fromm wie Ihro Gnaden, von der Welt abgewandt wie Ihro Gnaden. Das muß ich Ihnen doch erzählen, es wird Sie vielleicht interessieren.« – »Ich zweifle nicht daran,« antwortete Fanny. »Darauf erzählte ihr Amisadars Freund ihr eignes Abenteuer Wort für Wort, wie Sie es von mir gehört haben,« sagte das Kleinod,»und als er so weit war als ich,« fragte er:»Was sagen Ihro Gnaden dazu? Ist Amisadar nicht vom Glück begünstigt?« »Er ist vielleicht ein Aufschneider,« antwortete Fanny. »Glauben Sie, daß ein Frauenzimmer so frech sein könnte, aller Schamgute Nacht zu sagen?« »Bedenken Ihro Gnaden nur,« versetzte Marsufa, »einen Namen hat Amisadar nicht genannt: was könnt' er also dabei gewinnen, uns etwas vorzureden?« – »Jetzt fällt mir's ein,« sagte Fanny, »Amisadar hat Geist, es ist ein schöner Mann. Er wird der armen Einsiedlerin wollüstige Empfindungen eingeflößt haben, unter denen sie erlag. Ja, so ist es auch! Wer solche Verführer anhört, der ist verloren, und Amisadar scheint mir einzig in seiner Art.« – »Wieso, gnädige Frau?« unterbrach sie Marsufa. »Sollte Amisadar allein die Kunst der Überredung besitzen? Wollen Sie niemand sonst die Gerechtigkeit widerfahren lassen, ihm ein Plätzchen in Ihrer Achtung zu schenken?« – »Von wem reden Sie, wenn ich fragen darf?« – »Von mir selbst, gnädige Frau, ich finde Sie entzückend und ...« – »Ich glaube, Sie spotten meiner. Sehn Sie mich doch recht an, Marsufa. Ich bin weder weiß noch rot geschminkt. Die Schlafhaube steht mir nicht. Man möchte vor mir weglaufen.« – »Ihro Gnaden sind in einem großen Irrtum. Diese halbe Kleidung steht Ihnen wunderbar; sie gibt Ihnen so etwas Rührendes, Zärtliches! ...«

    Zu solchen galanten Reden fügte Marsufa noch andere. Unvermerkt mischte auch ich mich in die Unterhaltung, und als Marsufa mit mir fertig war, fing er mit meiner Gebieterin wieder an. »Wirklich? Hat Amisadar Sie bekehren wollen? Der Mensch versteht sich trefflich aufs Bekehren. Könnten Sie mir nicht ein Kapitel aus seiner Sittenlehre wiederholen? Ich möchte wetten, sie ist von der meinigen wenig verschieden.« – »Wir haben gewisse Punkte der Liebe gründlich untersucht. Wir haben den Unterschied zwischen der Zärtlichen und der Verbuhlten genau erörtert. Er ist für die Zärtliche.« – »Sie auch ohne Zweifel?« – »Keineswegs, mein Lieber. Ich gab mir alle mögliche Mühe, ihm zu beweisen, wir wären eine wie die andre und handelten alle nach den nämlichen Grundsätzen. Er ist dieser Meinung nicht. Er findet einen unendlichen Unterschied, der aber, denk' ich, nur in seiner Einbildung besteht. Er hat sich irgendein idealisches Geschöpf erschaffen, ein weibliches Hirngespinst, ein Luftgebild, dem er einen Unterrock anzieht.« – »Gnädige Frau,« antwortete Marsufa, »ich kenne Amisadar. Es ist ein Mann von Verstand, er hat viel Verbindungen mit Frauenzimmern gehabt. Sagt er Ihnen, es gebe solche Weiber, so ...« – »Es mag solche geben oder nicht,« unterbrach ihn Fanny, »ihre Manier wird nie die meinige!« – »Ganz gewiß nicht, gnädige Frau,« versetzte Marsufa. »Ihro Gnaden haben eine Lebensart erwählt, die sich für Ihre Geburt und für Ihre Verdienste besser schickt. Solche Zierpuppen muß man den Philosophen überlassen; am Hofe würden die versauern.«

    Hier schwieg Fannys Kleinod. Es war eine Haupt-Eigenschaft dieser Redner, zu rechter Zeit einzuhalten. So sprachen sie, als ob sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan hätten. Daraus folgerten einige Schriftsteller, sie wären bloße Maschinen. Daran sieht man ihre Methode. Hier wiederholt der gelehrte Afrikaner lang und breit den metaphysischen Erweis der Kartesianer gegen die Seele der Tiere und wendet ihn mit allem nur möglichen Scharfsinn auf das Geschwätz der Kleinode an. Mit einem Wort, er ist der Meinung, die Kleinode hätten gesprochen, wie die Vögel singen: das ist, ohne Lehrmeister, dennoch so vollkommen, daß nicht daran zu zweifeln sei, ein höheres Wesen habe durch ihren Mund geredet.

    »Und was fängt er mit seinem Fürsten an?« werdet Ihr mich fragen. Er schickt ihn der Favorite zur Mittagstafel; wenigstens finden wir ihn dort im nächsten Abschnitt.

    Treue und Bigotterie

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    Montag, 20. Januar 2014
    Alberne Sportarten 1




    Mitn Brett paddeln.

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    Freitag, 17. Januar 2014
    Fundstücke 1. - 3. KW 2014 und Reste 2013
    Hintergründe und Sichtweisen:
  • Im Januar 1946 erschien erstmals das Monatsblatt AJR Information, das Journal der Association of Jewish Refugees. Das Journal kann online eingesehen werden.
  • Ein heiterer Aufklärer erläutert, warum er kein Christ mehr ist. (und eine Erwiderung von Hans Maier
  • Männer und Frauen sind sich einig: In der Familie sollen traditionelle Verhältnisse herrschen
  • Die "erste repräsentative Dunkelfeldstudie des LKA" Niedersachsen beschäftigt sich mit den Straftaten, die nicht zur Anzeige gebracht werden
  • Eine kurze Zusammenfassung der Geschichte Nordkoreas
  • Eine Arabistin ordnet den Koran historisch ein (niederschwellig, für Leute ohne Vorkenntnisse)
  • Zum Elend der „radikalen“ Linken: 37 Jahre Konkret-Lektüre ( via adresscomptoir
    Teil 1
    Teil 2
    Teil 3
    Teil 4 (am Interessantesten ist was nicht drin steht.)
  • Abschaffung der Prostitution: Frankreich will künftig die Kunden bestrafen
  • Israel: die arabische "demographische Zeitbombe" doch nur ein Mythos?
  • Andrea Ypsilanti: Machtpolitisch ist Rot-Rot-Grün in weite Ferne gelangt, inhaltlich aber müssen wir weiter daran arbeiten.
  • Über die Ukraine
  • Ein Heideggerianer drückt sich um den Zusammenhang von Heideggers Philosophie und rechtem Gedankengut
  • Die braunen Wurzeln des „Stern“
  • Die Frauenbewegung im SDS vor und nach dem 2. Juni 1967
  • Heike Sander: Rede des »Aktionsrates zur Befreiung der Frauen« auf der 23. Delegiertenkonferenz des »Sozialistischen Deutschen Studentenbundes« (SDS) im September 1968 in Frankfurt
  • Menschenmassen handeln rational, wenn auch die Polizei rational handelt
  • Elke Hartmann: Zur Geschichte der Matriarchatsidee
  • Die Deutungsschlacht um den 1. WK (siehe auch: Das Jahr 2014 wird schlimm (für die Geschichte) )
  • Wer von Prostitution redet, darf von Abschiebungen nicht schweigen
  • Frigga Haug über Rosa Luxemburg
  • Max Weber: „Er sieht ein Bürgertum, das ökonomisch an der Macht ist, und fragt sich jetzt, wie kann es eigentlich auch kulturell und vor allem auch politisch dominant werden in Deutschland“
  • Hatte SED-Chef Walter Ulbricht tatsächlich nicht "die Absicht, eine Mauer zu errichten"? Autor Michael Kubina interpretiert die Quellen neu


  • kluges und interessantes:
  • Seit mehr als 20 Jahren untersucht Edzard Ernst alternative Heilmethoden. Er erklärt, was die Schulmedizin von Homöopathie und Co. lernen kann und welche Verfahren wirklich helfen.
  • „Auf Beerdigungsfeiern werden die saftigsten Witze gerissen.“ (Mit Bachtin gegen die Sprach- und Denkeinschränkungen)
  • Über politische Inhalte und die Machtkalküle von Parteien
  • Anne Will: Der Papst und der verteufelte Kapitalismus
  • Meine Fernbeziehung zum Netzfeminismus
  • Neoliberalismus und Feminismus: Eine gefährliche Liaison (an einigen Stellen unsaubere Argumentation)
  • Klischee und Wirklichkeit: zur Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern
  • Slavoj Žižek: Nelson Mandela
  • Rezension zu Milo Rau. Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft.
  • Fußball als Leitkultur: Anmerkungen zu Thomas Hitzlsperger
  • Wie schafft man in den nächsten vier Jahren aus einer bisher bloß arithmetischen Mehrheit für Rot-Rot-Grün erst eine gesellschaftliche und dann auch eine politische Mehrheit?
  • Lebensmittelgeographie statt Bußpredigt (zum Fleischatlas von Grünen und BUND)


  • Zu Literatur und Sprache
  • Wieland: Aristipp
  • „Das Faszinierende ist, dass man sich durch die Jahrhunderte hindurch von einer Reise bezaubern ließ, die nie stattgefunden hat.“ Zu Umberto Eco: „Die Geschichte der legendären Länder und Städte“. (liegt bei mir auf dem Lesestapel. Beim Anlesen entdeckt, dass im Mittelalter keineswegs die Erde für eine Scheibe gehalten wurde. Das Lässt auf weitere spannende Erkenntnisse hoffen.)
  • Robert Crumb zum 70.
  • Eine sehr ambitionierte Seite zu Albert Vigoleis Thelen
  • John Maxwell Coetzee: Die Kindheit Jesu (Vielleicht sollte ich doch mal was von Coetzee lesen? Klingt interessant.)
  • Erich Kästner: Fabian. Der Gang vor die Hunde.
  • „Wenn wir davon reden, dass heute die Welt übersexualisiert sei, ist das meiner Meinung nach ein Irrtum. Gerade die Tatsache, dass wir immer und überall blanke Vorder- und Hinterteile beiderlei Geschlechts sehen können, hat meiner Meinung nach viel Druck von den Menschen genommen.“ (zu Ferdinand Beneke: Tagebücher)
  • Diderots Weg zum Revolutionär
  • Hebbel, der allergrößte Schreckensmann
  • Ein recht netter Verriss: „Figuren, die über 700 Seiten quasi ausschließlich von Liebe schwafeln“
  • Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes (doofe Rezension über einen tollen Autor)
  • „New York Review of Books“
  • Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts
  • Einige Essays zum 100. Geburtstag von Arno Schmidt
  • In Koli Jean Bofane: Sinusbögen überm Kongo


  • Neue Wörter und Wendungen:
  • Selfie
  • "German Sushi" = Mettbrötchen“
  • „Nuckeldeutsche“ (sollen ja mehrheitlich Frauen sein)
  • “Beamtenforelle“ = Knackwurst
  • „Omphaloskopie“ (Nabelschau)
  • Pressluftschuppen (= Berliner Eckkneipe)
  • “Hackfleischmagazine” (heißen so weil immer Hackfleischrezepte drin stehen)
  • Ein echter nailbiter!
  • Bekleidungsverbrechen
  • TugendwächterInnenrat des katholisch-pietistischen Gesangsvereins
  • Fortpflanzungskunst
  • Gesinnungsapplaus
  • „Im Bundestag weiter die Luft wegatmen“
  • holier-than-thou Farbkartenverteilerinnen
  • Potz Kugelblitz und Pfannekuchen!! Isses den möglich!
  • "inhaltsleerer Tugendhaftigkeit" (Milo Rau)
  • Diese Installation am Rande der Hauptstadt
  • die Hardcore-Fans der Unisex-Toilette
  • Peacerich Onehundredwater
  • Rotzlöffelfabrik
  • Rinder (=Latte-Macchiato-Muttis)
  • Menschen mit hohem Beleidigtseinbedürfnis
  • smack my ass and call me Sally! (=das hätte ich nie gedacht)
  • das "geerntete Organ"


  • Amüsantes:
  • Danke, Uli
  • Jochen Schmidt / Line Hoven: Schmythologie. Wer nicht Griechisch kann, kann gar nichts.
  • Über Fitz J. Raddatz: Hat der den Größeren, oder habe ich den Größeren?
  • 14 Sicherungsstifte, separat verpackt…
  • Ein Klassiker des Herrenwitzes


  • so dies und das:
  • ADHS: Kranke Menschen oder kranke Gesellschaft?
  • Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Über Menschen mit Halluzinationen.
  • Über das Verstehen
  • Frühmenschlicher Sex-Reigen (wohl die einzige Zeit in der es menschliche Rassen gegeben hat)
  • Schirrmacher besucht mit Martin Schulz, dem Präsidenten des europäischen Parlaments, Verdun. (interessant und doof zugleich)
  • Die globale Elite fürchtet den Aufstand der Massen
  • ‚Mädchenbeschneidung‘ wird wieder propagiert.
  • Sabra, Schatila, Lieblingsmassaker
  • Volker Zastrow: „Gender Mainstreaming“ (Ein geschickt argumentierender Konservativer, sehr selten sowas. Zum Schluss dann die üblichen Pauschalisierungen.)
  • Je offensichtlicher die Tatsachen sind, umso entschlossener ist Birgit, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen.
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    Donnerstag, 16. Januar 2014
    Schnipsel
    Manchmal lese ich irgendwo etwas und was mir dazu einfällt, schreibe ich dann auf:

    1. Dass es in D. doppelt so viele Vegetarierinnen als Vegetarier gibt wirft kein gutes Licht auf die Frauen. (Mit Frauen meine ich natürlich nicht die Frauen. Das wäre ja Unsinn.)
    2. Wie hieß noch mal dieser Typ da? Wo war der wech? Aus Galiläa? Na egal, der nörgelte auch immer an anderen rum, war auch so –antiism-mäßig drauf. Eins auf die Fresse zu kriegen, stand er echt nich drauf.
    3. „Ich zum Beispiel habe nie verstanden, was Leute an Sex auf dem Küchentisch oder auf dem Flugzeugklo finden, ich finde es immer im Bett eigentlich schöner. Es ist genussvoller, einfacher und weniger unbequem.“ Poppen im Bett ist ‚weniger‘ unbequem?
    4. Heidegger habe „die Frage nach dem Sinn von Sein“ gestellt. Mag sein, vielleicht glaubte er sogar eine Antwort gefunden zu haben. So what?
    5. Safranski: "Wie kein anderer hat Heidegger in einer nichtreligiösen Zeit den Horizont für religiöse Erfahrung offengehalten. Er hat ein Denken gefunden, das den Dingen nahe bleibt und vor dem Absturz in die Banalität bewahrt." Probleme habt ihr, Jessas. Und nochmals: so what?
    6. „Heidegger war der Vater der Dekonstruktion, welche die Realität durch den Diskurs ersetzt hat.“ Kennt sich da jemand aus? Ist das so?
    7. Sozialwissenschaften, Kriminalliteratur und die Entdeckung der Paranoia in der Psychiatrie sind alles Kinder vom Ende des 19. Jahrhunderts. (laut Boltanski). Welche ‚Entdeckungen‘ werden prägend für unsere Zeit gewesen sein?
    8. ‚Like mich am Arsch‘ ist etwas zu naheliegend, aber für uns Freunde des Flachwitzes durchaus zu verwenden. Why not, sozusagen.
    9. Aus der Anklageschrift: „Nach der Wahl von Kim zum Vizevorsitzenden der Militärkommission im Jahr 2010 sei Chang nur “unwillig von seinem Platz aufgestanden und habe nur halbherzig applaudiert”.
    10. Verleser : Zuerst das Gedicht mit den toten Russen und gleich noch einer hinterher: Breakfast of Champignons
    11. „…, was spricht durch sie?“ da fällt mir doch der Thomas Mann ein. Wie hieß die Erzählung? Der Erwählte? Ja, „wer spricht denn da?“ (aus dem Gedächtnis zitiert. Ich muss das mal heraussuchen.)
    12. Das Fahrrad sei die "gefährlichste Erfindung seit Menschengedenken" irgendwo gelesen. Manche meinen ja, das sei übertrieben. So gehen halt die Meinungen auseinander.
    13. Aus der Reihe Sätze fürs Leben: „es sollte Nacht werden und dann hätte ich gern ein Bleirohr und ein gutes Alibi.“
    14. „Jedes Jahr macht die Tierschutzorganisation Peta einen Spot, der darauf abzielt, verboten zu werden und nicht beim Super Bowl gezeigt werden darf. Warum? Damit bekommt Peta mehr Aufmerksamkeit, als wenn der Spot im Fernsehen laufen würde.“ Das könnte stimmen.

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    Donnerstag, 9. Januar 2014
    Wenn es den Leuten Freude macht?




    Der Vorteil des Radfahrens ohne Fortbewegung ist natürlich, dass man mit Einheimischen nicht in Kontakt kommt und die Insel nicht sehen muss. Sehr praktisch.

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    Mittwoch, 8. Januar 2014
    Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 40
    Der Traumdeuter

    »Edler Herr,« sprach die Favorite zu Bloculocus, »Sie müssen mir noch einen Gefallen erweisen. In der letzten Nacht sind mir eine Menge merkwürdige Dinge durch meinen Kopf gegangen. Es war ein Traum, aber, Gott weiß, welch ein Traum! Man versichert mir, Sie wären der erste Traumdeuter von Congo. Sagen Sie mir also geschwind, was dieser bedeutet!« und sogleich erzählte sie ihren Traum.

    »Madam,« antwortete Bloculocus, »ich verstehe mich leider nur schlecht auf die Oneirokritik.«

    »O, verschonen Sie mich gefälligst mit allen Kunstworten!« rief die Favorite. »Lassen Sie die Wissenschaft beiseite und reden Sie vernünftig.«

    »Wie Ihro Gnaden befehlen,« antwortete Bloculocus. »Ich habe einige sonderbare Vermutungen über die Träume; ihnen allein verdank' ich vielleicht die Ehre, Sie zu unterhalten und den Beinamen ›Sonderbarer Schwärmer‹. Diese Vermutungen will ich Ihro Gnaden so deutlich darzulegen suchen als möglich.

    Ihro Gnaden wissen,« fuhr er fort, »was die meisten Philosophen und die Leute, die ihnen nachsprechen, darüber auskramen. ›Die Gegenstände,‹ sagen sie, ›die uns bei Tage besonders aufgefallen sind, beschäftigen unsere Seele auch in der Nacht. Die Spuren, die sie beim Wachen den Fasern unseres Gehirns eindrücken, dauern fort. Die Lebensgeister sind gewohnt, sich an gewisse Orte zu begeben, und folgen der Bahn, die ihnen geläufig ist. Daher entstehen die unwillkürlichen, angenehmen oder unangenehmen Vorstellungen.‹ Diesem System zufolge sollte man glauben, ein begünstigter Liebhaber müsse auch durch seine Träume gut bedient werden. Doch trifft es sich zuweilen, daß eine Person, die im Wachen nicht unmenschlich gegen ihn ist, ihn im Schlafe behandelt wie einen Neger, oder daß er statt eines reizenden Frauenzimmers ein kleines ungestaltes Ungeheuerchen in seinen Armen hält.«

    »So ging es mir gerade in vergangener Nacht,« unterbrach ihn Mangogul. »Denn ich träume beinahe jede Nacht. Das ist eine Familienkrankheit; wir träumen alle von Vater auf Sohn, seit dem Sultan Togrul, der ums Jahr 743500000002 zuerst zu träumen anfing. Nun, vergangene Nacht sah ich Sie, Madam,« sprach er zur Favorite. »Es waren Ihre Hand, Ihre Arme, Ihr Busen, Ihr Hals, Ihre Schultern, dieses feste Fleisch, dieser schlanke Wuchs, diese unvergleichliche Rundung, kurz, Sie selbst waren es; nur daß statt des reizenden Gesichts, statt des anbetungswürdigen Kopfes, den ich suchte, ich mit der Nase an die Schnauze eines Möpschens stieß.

    Ich fing schrecklich an zu schreien. Kotulk, mein Kammerherr, lief herbei und fragte, was mir fehlte. ›Mirzoza‹, antwortete ich ihm im Halbschlaf, ›hat die scheußlichste Verwandlung erlitten. Sie ist ein Mops geworden.‹ Kotulk fand nicht für gut, mich vollends munter zu machen, ging wieder zurück, und ich schlief wieder ein. Aber das kann ich Ihnen versichern, ich erkannte Sie ganz genau. Sie, Ihren Körper und den Hundskopf. Wird mir nun Bloculocus das Phänomen erklären können?«

    »Daran zweifle ich nicht,« antwortete Bloculocus, »wenn mir Ihre Hoheit ein sehr einfaches Prinzip zugeben. Alle Wesen, behaupt' ich, stehen in unendlich mannigfacher Beziehung zueinander durch die Eigenschaften, die sie gemeinschaftlich besitzen: und die Vereinigung gewisser Eigenschaften ist das bestimmende und unterscheidende Kennzeichen des einzelnen.«

    »Das ist klar,« antwortete die Favorite. »Ipsifile hat Füße, Hände und einen Mund wie eine geistvolle Frau.« »Und Phararmome,« setzte Mangogul hinzu, »trägt seinen Degen wie ein tapfrer Mann.«

    »Ist man nicht hinlänglich unterrichtet, welche Eigenschaften sich vereinigen müssen, um diese oder jene Gattung zu bilden, oder schließt man zu voreilig, eine solche Verbindung finde bei diesem oder jenem einzelnen Wesen statt oder nicht statt, so läuft man Gefahr, Kupfer für Gold zu halten, geschliffenes Glas für Edelsteine, einen Kalkulator für einen Geometer, einen Wortkrämer für einen Schöngeist, Citron für einen anständigen Menschen ...« »Und Fatime für eine hübsche Frau,« setzte die Sultanin hinzu.

    »Wissen Ihro Gnaden,« fragte Bloculocus, »was man den Leuten vorwerfen könnte, die solche Urteile fällen?«

    »Daß sie im Wachen träumen,« antwortete Mirzoza. »Sehr wohl, gnädige Frau; und bei tausend Vorfällen gibt es keinen philosophischeren, logisch richtigeren Ausdruck, als die gewöhnliche Redensart: ich glaube, Sie träumen. Denn nichts ist so gewöhnlich, als daß Menschen sich einbilden, Vernunftschlüsse aufzubauen, die doch nichts tun, als mit offenen Augen zu träumen.«

    »Bei denen trifft es wohl buchstäblich ein,« unterbrach ihn die Favorite, »daß dies ganze Leben nur ein Traum ist.«

    »Ich kann nicht genug bewundern,« versetzte Bloculocus, »mit welcher Leichtigkeit Ihro Gnaden die abstraktesten Begriffe erfassen. Unsre Träume sind nichts als übereilte Schlüsse, die unglaublich rasch aufeinander folgen, Dinge vereinigen, welche nur in sehr fernen Beziehungen zueinander stehen und dadurch ein abenteuerliches Ganze zusammensetzen.«

    »O, wie gut ich Sie verstehe,« sagte Mirzoza. »Das gibt denn so eine Art Mosaikarbeit, deren zusammen gebrachte Stücke mehr oder weniger zahlreich, mehr oder weniger regelmäßig sind, je lebhafter der Geist, je rascher die Einbildungskraft, je treuer das Gedächtnis ist. Sollte die Verrücktheit nicht die nämliche Ursache haben? Und wenn ein Bewohner des Irrenhauses schreit, daß er Blitze sieht, daß er den Donner rollen hört, daß sich Abgründe unter seinem Fuß eröffnen; oder wenn eine alte Jungfer, vor ihrem Spiegel sitzend, sich selber Beifall zulächelt, ihre Augen lebhaft, ihre Gesichtsfarbe blühend, ihre Zähne blendend weiß und den Mund klein findet: betrachten dann nicht beide gestörten und durch entfernte Beziehungen getäuschte Hirne eingebildete Dinge für wahr und wirklich?«

    »Ja, gnädige Frau,« antwortete Bloculocus, »das ist der Fall. Wer einen Narren genau beobachtet, der findet, daß sein Zustand nur ein fortdauernder Traum ist.«

    »Ich selbst habe einige Erfahrungen gemacht,« sagte Selim und wandte sich gegen Bloculocus, »auf die Ihre Grundsätze sich wunderbar anwenden lassen, und das bestimmt mich, sie anzunehmen. Einmal träumte mir, ich hörte wiehern und sähe aus der großen Moschee zwei Reihen sonderbarer Tiere nebeneinander herausgehen: sie stolzierten sehr gewichtig auf den Hinterpfoten; ihre Schnauzen waren in Kappen gehüllt, aus deren Löchern oben ein Paar langer, beweglicher, haariger Ohren heraussahen, und lange Ärmel umhüllten ihre Vorderfüße. Damals quält' ich mich sehr, einige Bedeutung dieser Erscheinung beizumessen; jetzt erinnere ich mich, daß ich den Abend vorher auf Montmartre gewesen war.

    Ein andermal befand ich mich im Felde, wo der Großsultan Erguebzed in Person das Heer anführte. Ich schlief, ermüdet nach einem anstrengenden Marsche, in meinem Zelt, als es mir vorkam, ich habe beim Diwan die Entscheidung eines wichtigen Rechtsstreites zu betreiben. Eben wollt' ich mich dem Rate der Regentschaft vorstellen, aber denken Sie, wie ich erschrak. Ich fand den Saal voller Raufen, Krippen, Freßtröge und Hühnerbauer. Im Lehnstuhl des Groß-Seneschalls saß ein wiederkäuender Ochse; auf dem Platze des Seraskiers ein Hammel aus der Barbarei; auf der Bank des Teftesdar ein Geier mit krummem Schnabel und langen Klauen; an der Stelle des Kiaja und Kadilesker zwei große Eulen im Pelzmantel und statt der Wesire Gänse mit Pfauenschweifen. Ich überreichte mein Gesuch und hörte in dem Augenblick ein verzweifeltes Gekrächze, wodurch ich erwachte.«

    »Der Traum ist wohl recht schwer zu entziffern?« sagte Mangogul. »Sie hatten gerade damals dem Diwan etwas vorzutragen und gingen, ehe Sie sich dahin begaben, durch das Tierhaus. Aber ich, Herr Bloculocus, wie steht's mit meinem Hundekopf?«

    »Es ist hundert gegen eins zu wetten,« sagte Bloculocus, »daß Sie an der gnädigen Frau oder an einer Dame, die Ihre Augen auf sich zog, einen Kragen mit Zobelschwänzen bemerkt hatten, und daß Ihnen die Möpse zum erstenmal aufgefallen waren. Beide Gegenstände sind einander zehnmal näher verwandt, als nötig ist, um die Seele zur Nachtzeit zu beschäftigen. Die Ähnlichkeit der Farbe verwandelte bei Ihnen einen Pelzkragen in einen Tierhals, und sogleich setzten Sie eine häßliche Hundeschnauze an die Stelle eines sehr schönen Damenkopfes.«

    »Ihr System scheint mir begründet,« antwortete Mangogul, »warum lassen Sie es nicht drucken? Es könnte zur Beförderung der Traumkunde beitragen, einer wichtigen Wissenschaft, die man vor zweitausend Jahren sehr pflegte und seitdem zu sehr vernachlässigt hat. Ein andrer Vorzug Ihrer Lehre ist der, daß sie über viele alte und neuere Werke Licht verbreiten würde, die nichts als ein Traumgewebe sind: z.B. über Platos Abhandlung von den Ideen, über die Fragmente des Hermes Trismegistos, über die literarischen Parodoxen des Paters N ..., über den Newton, über die Optik der Farben und über die Universalmathematik eines gewissen Brahminen. Könnten Sie uns zum Exempel nicht sagen, Herr Seher, was Guallonorone an jenem Tage gesehen hatte, als er seine Hypothese erträumte? was dem Pater C ... geträumt hatte, als er sich anschickte, seine Farbenlehre zu fabrizieren, und was Cleobul für einen Traum gehabt hatte, als er seine Tragödie verfaßte?«

    »Dahin hoffe ich es durch Nachsinnen zu bringen, gnädigster Herr,« antwortete Bloculocus. »Aber ich erspare diese heiklen Phänomene bis auf die Zeit, wo ich dem Publikum meine Übersetzung des Philoxenus vorlegen werde, deren Privileg ich mir von Eurer Hoheit erbitte.«

    »Sehr gern,« sagte Mangogul, »aber wer ist der Philoxenus?« – »Fürst,« antwortete Bloculocus, »es ist ein griechischer Schriftsteller, der sich ungemein wohl auf Träume verstand.« – »Sie verstehn also Griechisch?« – »Keineswegs, gnädigster Herr.« – »Sie übersetzen doch den Philoxenus, der griechisch geschrieben hat?« – »Ja, gnädigster Herr, aber was braucht man eine Sprache zu verstehn, um sie zu übersetzen? Man übersetzt ja nur für Leute, die sie nicht verstehn.«

    »Das ist vortrefflich,« sagte der Sultan. »Also, Herr Bloculocus, fahren Sie fleißig fort, aus dem Griechischen zu übersetzen, das Sie nicht verstehn. Ich verspreche Ihnen, ich will es niemand wiedersagen und Sie deswegen nicht minder hochschätzen.«

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