Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Freitag, 31. August 2012
Reisejournal Sizilien Frühjahr 2012 (24)
Sonntag 17. Juni

Die Rückreise steht an. Der Müll wird abgeholt und ich trinke wie jeden Morgen meine drei Tassen Kaffee:
„Am 16/5 sahen wir wieder einmal ein zum Verkauf angebotenes Haus. Villa mit Garten »beinahe« für uns passend – wenn man sie umbaute ... Kurzum nicht passend. Interessant waren die Leute darin. Der Mann, mein Alter, Verlagsvertreter von Velhagen & Klasing. Vor zwei Jahren das Haus gekauft, jetzt muß er hinaus. Er, seine Frau, seine Tochter – bieder, ruhig u. ganz offenbar tief vergrämt. Am Schreibtisch: das Hakenkreuz. Es ist für diese Vergrämten, Verarmten nichts anderes als eine Kreuz-Hoffnung.“
(Victor Klemperer: Tagebücher S. 291 29. Mai 1932)
Das Hakenkreuz als christliches (?) Hoffnungskreuz? Die einzige Stelle übrigens, die den Zusammenhang zwischen ökonomischer Krise und NSDAP thematisiert.
„Gestern bei der Rektoratsbesprechung wurde gesagt, daß 80% unserer Studenten Hitleranhänger seien.“
(Victor Klemperer: Tagebücher S. 306 15. Dezember 1932)
Einer der vielen Mythen, die sich um den Nationalsozialismus ranken, ist, dass er bei den gebildeteren Schichten keinen großen Anklang gefunden hätte.

Die Verzögerungen nach Palermo durch den Zug aus Roma Termini haben wir einkalkuliert und sind ziemlich früh in Palermo Centrale. Der Bahnhof wird mir wohl niemals ans Herz wachsen.

Beim Rauchen auf dem Vorplatz geht eine ungewöhnlich unförmige Frau vorbei, die auf ihrem T-Shirt die Aufschrift: „Fashion is my Religion“ spazieren trägt. Das Shirt dürfte aus chinesischer Billigproduktion sein.

Während ich im Zug nach Punta Raisi (dort ist der Flughafen von Palermo) sitze, sinniere ich vor mich hin, warum ich es noch nicht mal geschafft habe, Tag für Tag die Erlebnisse und Beobachtungen aufzuschreiben. Der Plan war ja zumindest stichpunktartig die Tage zu skizzieren und dann später auszuarbeiten, so dass ein beschreibend anschauliches Bild der Reise entsteht. Es ist einfach zu viel passiert und ich war zu müde oder zu faul, um das Tagebuch einigermaßen konsequent zu führen. Die Leute im 18. Jahrhundert hatten einfach mehr Zeit. Nach elendlangen Eselsritten oder tagelangen Schiffsreisen auf denen nichts weiter passierte als Sonnenaufgänge, Sonnenuntergänge, unterbrochen von Mahlzeiten kann man viel aufschreiben. Zentraler dürfte natürlich sein, dass die Reiseerlebnisse eine ganz andere Bedeutung hatten. Wenn man einmal in seinem Leben über seinen heimischen Wirkungskreis hinauskam, war die Bereitschaft alles zu notieren und die Gedanken und Gefühle zum Erlebten festzuhalten viel größer. Zudem gab es ein Publikum, das nach Neuigkeiten aus aller Welt gierte. Außerdem waren die Reisenden dieser Zeit disziplinierte Leute und nicht so faule Hunde wie ich. Hab ich etwas vergessen?

Der Flieger kommt, wir steigen ein und verlassen Sizilien.

Im Flughafen München nehmen wir uns einen Tagesspiegel. Nicht viel Neues in Berlin passiert. Überhaupt: es passiert so wenig, wenn ich nicht da bin. Und während ich noch so vor mich hin sinniere, dass immer genau so viel passiert wie in eine Zeitung hineinpasst und dass wenn man keine Zeitung liest auch nichts passiert, fragt mich die Liebste:
„Sag mal, wann genau wurde denn nochmal der 17. Juni als Feiertag abgeschafft?“
„Als der 3. Oktober als Nationalfeiertag eingeführt wurde.“
„Schon klar, aber 1990 wurde da der 17. Juni gefeiert und dann ein paar Monate später der 3. Oktober eingeführt? Das war doch ein Sonntag? Haben sie uns in dem Jahr einen freien Tag geklaut?“
„Das weiß ich nicht mehr. Woran ich mich erinnere ist, dass ich einige Jahre vorher mit einem Kumpel beim obstlern saß und wir darüber diskutiert haben ob der 17. Juni nicht ein scheußlich bigotter Feiertag sei und dass er eigentlich ein Gedenktag in der DDR sein sollte. Wenn die DDR ein anderer Staat gewesen wäre selbstverständlich. In unserem besoffenen Kopf wollten wir das mal einem DDR-Grenzer vorschlagen. Nüchtern betrachtet war das keine so gute Idee.“
„Wenn man dich etwas fragt, bekommt man immer eine Antwort, nur selten die, die man möchte.“

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