Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Dienstag, 7. August 2012
Reisejournal Sizilien Frühjahr 2012 (15)
Montag 11. Juni 1. Teil

Der Höllenlärm um halb sieben liegt nicht an der Müllladerin, die heute Dienst hat. Heute werden Flaschen abgefahren.
Morgendliche Lesestunde: Victor Klemperer ist Aufseher des sächsischen Bildungsministerium über die Abiturprüfungen einiger Schulen:
„In ZSCHOPAU: der entsetzliche Kasernengeruch des alten Lehrerseminars nach Essen, Dumpfigkeit etc., der Speisesaal mit seinen rohen Tischen u. dem Fraß darauf, die Schlafsäle Bett bei Bett – weiß überzogen, das ist der ganze Unterschied einstiger Kaserne gegenüber. – Der kriechende lavierende Leiter, Oberstudiendirector Singer, hilflos. Das Mittagsbrod in seiner Familie, Frau, Tochter, Lehrerin, Sohn stud neophil, Tochter Schülerin. Tischgebet. Mein brutales Auftreten gegen die Lehrer, sie ungeheure Verkommenheit u. Schaumschlägerei des Lehrbetriebs. – [...] Der biedere Fabrikdirector im Zuge, der mir nachgereist war, der mir die im Hôtel liegen gebliebene Rasierseife überreichte – mit der Bitte, seine in der »Dreistufigen« zurückgewiesene Tochter doch noch zum mündlichen Examen zuzulassen. Ich überzeugte ihn davon, daß es besser sei, das Mädel vom Studium fernzuhalten. Eine wahre Lustspielscene. Unglück über Unglück: der Procurist habe 62000 M. unterschlagen u. nun falle die Tochter durchs Examen! Dies ging ihm ständig durcheinander. Und dann die Frauen! Müssen die Mode des Abiturs mitmachen, bloß weil es Mode sei, bloß weil die Mutter ehrgeizig sei! Er selber habe immer gesagt: heiraten oder in kaufmännische Stellung! Es war sehr komisch, von Zschopau bis Dresden, drei Stunden lang. Und wie der Mann mich ausbaldowert hatte. – In Zschopau das entsetzlichste KleinSTbürgertum, in der Fletscher-Schule die qualvolle Rohheit des Proletariats – in der Dreistufigen endlich Menschen mit Kinderstube u. kultureller Erbmasse.“
(Victor Klemperer: Tagebücher S. 169/170 10. März 1930 )

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