Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Donnerstag, 17. Juni 2010
Georg Forster: Reise um die Welt 102
(Die Fahrt von Neu-Seeland nach Tierra del Fuego – Aufenthalt in Christmeß- oder Weihnachts-Haven)
„Sie schienen unsre Überlegenheit und unsre Vorzüge gar nicht zu fühlen, denn sie bezeigten auch nicht ein einzigesmal, nur mit der geringsten Geberde, die Bewunderung, welche das Schiff und alle darinn vorhandene große und merkwürdige Gegenstände bey allen übrigen Wilden zu erregen pflegte! Dem Thiere näher und mithin unglückseliger kann aber wohl kein Mensch seyn, als derjenige, dem es, bey der unangenehmsten körperlichen Empfindung von Kälte und Blöße, gleichwohl so sehr an Verstand und Überlegung fehlt, daß er kein Mittel zu ersinnen weiß, sich dagegen zu schützen? der unfähig ist, Begriffe mit einander zu verbinden, und seine eigne dürftige Lage mit dem glücklichern Zustande andrer zu vergleichen? Was die ärgste Sophisterey auch je zum Vortheil des ursprünglich wilden Lebens, im Gegensatz der bürgerlichen Verfassung, vorbringen mag; so braucht man sich doch nur einzig und allein die hülflose bedauernswürdige Situation dieser PESSERÄHS vorzustellen, um innig überzeugt zu werden, daß WIR bey unsrer gesitteten Verfassung unendlich glücklicher sind! So lange man nicht beweisen kann, daß ein Mensch, der von der Strenge der Witterung beständig unangenehme Empfindung hat, dennoch GLÜCKLICH sey, so lange werde ich keinem noch so beredten Philosophen beypflichten, der das Gegentheil behauptet, weil er entweder die menschliche natur nicht unter allen ihren Gestalten beobachtet, oder wenigstens das, was er gesehen, nicht auch GEFÜHLT hat. Möchte das Bewußtseyn des großen Vorzugs, den uns der Himmel vor so manchen unserer Mitmenschen verliehen, nur immer zu Verbesserung der Sitten, und zur strengern Ausübung unserer moralischen Pflichten angewandt werden! aber leider ist das der Fall nicht, unsre civilisirten Nationen sind vielmehr mit Lastern befleckt, deren sich selbst der Elende, der unmittelbar an das unvernünftige Thier gränzt, nicht schuldig macht. Welche Schande, daß der höhere Grad von Kenntnissen und von Beurtheilungskraft, bey uns nicht bessere Folgen hervorgebracht hat!
Diese unglücklichen Bewohner eines felsigten unfruchtbaren Landes fraßen rohes, halbverfaultes Seehundsfleisch, welches äußerst widrig roch. Das Thranartige ekelhafte Fett genossen sie am liebsten, und boten auch dem Seevolk davon an. Vielleicht ist es Instinct, der ihnen dies ranzige Fett verzehren heißt, denn alle in kalten Erdstrichen wohnenden Völker sollen es für Leckerbissen halten, und dadurch in Stand gesetzt werden, die Kälte besser zu ertragen. Die natürliche Folge einer solchen Nahrung war ein unerträglicher fauliger Gestank, der aus ihrem ganzen Körper ausdunstete, und sich allem, was sie nur an und um sich führten, mitgetheilt hatte. Dieser Gestank war uns dermaßen zuwider, daß wirs unmöglich lange bey ihnen aushalten konnten. Mit geschloßnen Augen konnte man sie bereits in der Ferne wittern. Wer die Seeleute, und ihre sonst eben nicht ekle Begierden kennt, wird kaum glauben, was doch wirklich geschah, nemlich, daß es ihnen, dieser unerträglichen Ausdünstung wegen, gar nicht einmal einfiel, mit dem saubern Frauenzimmer genauere Bekanntschaft zu machen. Die Matrosen gaben ihnen Pökelfleisch und verschimmelten Zwieback; sie machten sich aber nichts daraus, und konnten kaum dahin gebracht werden, es zu kosten. Lehrte sie etwa der Instinct, daß diese Speisen vielleicht NOCH ungesunder wären, als halb verwestes Seehundsfleisch? – Wir bemerkten unter ihnen nicht den mindesten Unterschied des Standes, weder Oberherrschaft noch Abhängigkeit. Ihre ganze Lebensart kam dem thierischen Zustande näher, als bey irgend einem andern Volk. Es dünkt mich daher überaus wahrscheinlich, daß sie keine selbständige Nation ausmachen, sondern nur als einzelne, von den benachbarten Völkerschaften ausgestoßne Familien anzusehen sind, die durch ihren Aufenthalt im ödesten unfruchtbarsten Theil von TIERRA DEL FUEGO fast jeden Begriff verlohren haben, der nicht mit den dringensten Bedürnissen in unmittelbarer Verbindung steht.“
(Forster S. 923-925)

Gegen Rousseau.

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