Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Dienstag, 1. Juni 2010
Georg Forster: Reise um die Welt 97
(Dritter und letzter Aufenthalt zu Königin-Charlotten’s Sund in Neu-Seeland)
„Hoffentlich wird es meinen Lesern nicht zuwider seyn, von diesem traurigen Vorfall etwas bestimmteres zu vernehmen; ich will also das, was ich, bey meiner Rückkunft nach England, von den Leuten der ADVENTURE in Erfahrung gebracht, mit demjenigen, was die NEU-SEELÄNDER davon erzählt haben, verbinden. Nachdem Capitain FOURNEAUX durch Sturm und Nebel von uns getrennt worden, sahe er sich genöthigt am 9ten November 1773, auf der nördlichen Insel von Neu-Seeland, namentlich in der BAY TOLAGA, vor Anker zu gehen. Von hier segelte er am 16ten wiederum ab, und langte am 30sten, einige wenige Tage nach unsrer Abreise, in KÖNIGIN-CHARLOTTEN-SUND an. O MAÏ, (der Indianer aus der Insel RAIETEA, der sich am Bord der ADVENTURE befand), erzählte mir in England, er sey der erste gewesen, der die Innschrift am Baume entdeckt hätte, an dessen Fuß die Flasche mit der Nachricht von unsrer Abreise verscharrt worden war. Er zeigte die Innschrift dem Capitain, der gleich nachgraben ließ, und die Flasche nebts dem darin verschlossenen Briefe fand. Selbigem zufolge machte dieser auch unverzüglich Anstalt die Reise fortzusetzen. Schon war sein Schiff seegelfertig, als er noch ein Boot nach GRAS-COVE abschickte, um eine Ladung Löffelkraut und Sellerie von dort herzuholen. Das Commando dieses kleinen Detachements ward einem gewissen Herrn ROWE anvertraut. Dieser unglückliche junge Mann hatte, bey einer sonst guten Denkungsart, die Vorurtheile der seemännischen Erziehung noch nicht völlig abgelegt. Er sahe z. E. alle Einwohner der Südsee mit einer Art von Verachtung an, und glaubte eben dasselbe Recht über sie zu haben, welches sich, in barbarischen Jahrhunderten, die Spanier über das Leben der amerikanischen Wilden anmaaßten. Seine Leute landeten in GRAS-COVE, und fingen an Kräuter abzuschneiden. Vermuthlich hatten sie, um mehrerer Bequemlichkeit willen, bey dieser Arbeit ihre Röcke ausgezogen; wenigstens erzählten uns die Indianer in KÖNIGIN-CHARLOTTEN-SUND, der Streit sey DAHER entstanden, daß einer von ihren Landsleuten den unsrigen eine Jacke gestohlen hätte. Dieses Diebstahls wegen habe man sogleich Feuer auf sie gegeben, und so lange damit fortgefahren, bis die Matrosen kein Pulver mehr gehabt: Als die Eingebohrnen dies inne geworden, wären sie auf die Europäer zugerannt, und hätten selbige bis auf den letzten Mann erschlagen. Da mir selbst erinnerlich ist, daß Herr ROWE immer zu behaupten pflegte, die NEU-SEELÄNDER würden das Feuer unserer Musketerie nicht aushalten, wenn es einmal zum Schlagen käme; so kann es ganz wohl seyn, daß er bey dieser Gelegenheit einen Versuch dieser Art habe anstellen wollen. Schon in TOLAGA-BAY hatte er große Lust bezeugt, auf die Einwohner zu feuern, weil sie ein klein Brandtewein-Fäßgen entwendet; auf das gutherzige und weisere Zurathen des Lieutenant BURNEY, ließ er sich jedoch damals eines bessern bereden. Als Capitain FOURNEAUX sahe, daß das abgefertigte Bott zween volle Tage ausblieb, schickte er vorgedachten Lieutenant BURNEY in einem anderen wohl bemannten und stark bewafneten Boote ab, um jenes aufzusuchen. Dieser erblickte am Eingang von EAST-BAY ein großes Canot voll Indianer, die aus allen Kräften fort ruderten, so bald sie das Boot der ADVENTURE gewahr wurden. Die Unsrigen ruderten tapfer hinterdrein; allein, aus Besorgniß eingeholt zu werden, sprangen die NEU-SEELÄNDER sämtlich ins Wasser, und schwammen nach dem Ufer zu. Herr BURNEY kam diese ungewöhnliche Furcht der Wilden sehr befremdend vor; doch, als er das ledige Canot erreicht hatte, sahe er leider nur zu deutlich, was vorgefallen war. Er fand nämlich in diesem Fahrzeuge verschiedene zerfezte Gliedmaaßen seiner Schifs-Cameraden, und einige ihrer Kleidungs-Stücke. Nach dieser traurigen Entdeckung ruderten sie noch eine Zeitlang umher, ohne von den Indianern etwas ansichtig zu werden, bis sie um ein Uhr in GRAS-COVE, als dem eigentlichen Landungsort der verunglückten Mannschaft, ankamen. Hier war eine große Anzahl von Indianern versammlet, die sich, wider ihre Gewohnheit, beim Anblick der Europäer sogleich in wehrhafte Verfassung setzten. Der seitwärts gelegene Berg wimmelte von Menschen, und an vielen Orten stieg Rauch auf, der vermuthen ließ, daß das Fleisch der erschlagnen Europäer schon zu einer festlichen Mahlzeit zubereitet werde! Dieser Gedanke erfüllte selbst die hartherzigen Matrosen mit Grausen, und machte ihnen das Blut in allen Adern starren; doch, im nächsten Augenblick entbrannte ihre Rachgier, und die Vernunft mußte unter diesem mächtigen Instinct erliegen. Sie feuerten und tödteten viele von den Wilden, trieben sie auch zuletzt, wiewohl nicht ohne Mühe, vom Strande, und schlugen ihre Canots in Trümmern. Nunmehro, da sie sich sicher dünkten, stiegen sie ans Land, und durchsuchten die Hütten. Sie fanden mehrere Bündel Löffelkraut, welche ihre unglücklichen Cameraden schon zusammengebunden haben mußten, und sahen viele Körbe voll zerstückter und zerstümmelter Glieder, unter welchen sie die Hand des armen ROWE deutlich erkannten. Die Hunde der Neu-Seeländer fraßen indeß am Strande von den herumliegenden Eingeweiden!“
(Forster S. 885-7)

(tapfer hinterdrein, in wehrhafte Verfassung, der seitwärts gelegene Berg, zerstückter, herumliegende Eingeweide)

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