Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Montag, 8. März 2010
Energie & Geschmeidigkeit
gehört zweifellos zu den Dingen, von denen man im Leben nie genug haben kann.
Sie können sich vorstellen, dass mein Interesse sofort geweckt war, als ich diese Botschaft auf einer kleinen, rosafarbenen, in Kunststoff eingeschweißten Visitenkarte auf dem Tisch in meiner Bäckerei fand.

Auf der Rückseite der Karte fand sich der Hinweis auf einen Fu-Tong-Meister, der allerlei therapeutische und praktische Übungen zur Steigerung der Energie und der Geschmeidigkeit, feilbot.

Eigentlich – behauptete sofort meine Frau – hätte ich ja genug Energie, zumindest wenn es um das Volllabbern zu aufgeschnappten Themen, die meine Phantasie und Spottlust herausfordern, ginge und darüberhinaus wäre ich auch geschmeidig genug, aus jedem Scheiß etwas heraus zu phantasieren, um sie eine halbe Stunde damit nieder zu diskutieren.

Auch wenn solche Statement nur der Furcht entspringen, würde ein unabhängiger, verständiger Dritter ihr möglicherweise zustimmen.

„Aber, …“ versuchte ich einzuwenden, „sieh doch nur: Energie und Geschmeidigkeit und dann noch ganz in rosa?“

Ungerührt sprach sie weiter mit der Bäckerin:
„Zwei Laugenbrötchen, eine Brezel, ein Baguette, …“

Na gut, nölte ich vor mich hin, dann blogge ich das eben.

… vor langer Zeit,
es muss Anfang der 80er Jahre gewesen sein, fragte mich meine Damalige, ob ich denn mitkommen wolle, den Christoph in einer Kneipe zu treffen. Der Christoph wäre ein alter Freund von ihr und käme gerade aus Poona zurück und eigentlich wäre er ein ganz Netter * , der mit ihr zur Schule in Charlottenburg gegangen wäre und es hätte sie vor zwei Jahren sehr gewundert, dass er sich nach Indien aufgemacht habe. Und nun sei er zurück, aus Indien! Warum nicht, dachte ich mir, und wir fuhren los.

Was denn der Christoph für einer wäre, wollte ich wissen und ob er auch im Gymnasium schon einen Hang zu Religion oder indischer Mystik gehabt hätte? Nein, meinte sie, sein Vater hätte eine Apotheke und sei zwar streng, aber nicht verrückt. Eigentlich sei auch der Vater ein ganz Netter. Und der Christoph hätte zwar bei allem mitgemacht, sei aber ein eher Stiller gewesen. Musikalisch sei er. Hm!? Nach der Schule habe er nicht gewusst, ob er studieren oder eine Lehre machen solle und habe nur so herum gegammelt, bis ihn der Vater rausgeschmissen hätte. Hm!?

Das Café lag meiner Erinnerung nach in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms und wurde von Sannyasins betrieben. An den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Das Lokal war penibel sauber, der Service ausgezeichnet und Kaffee und Kuchen hervorragend. Das Einzige, was zumindest mich etwas störte war, dass alle Kellner und Servierfräuleins in Orange gekleidet waren. Kleiderordnungen sind nicht meine Sache, aber wem es gefällt?

Christoph und meine Damalige umarmten sich. Sie schienen sich über das Wiedersehen nach so langer Zeit sehr zu freuen. Und dann wurde erzählt und erzählt, über die Schulfreunde, wer was heute so macht und was sich in Berlin alles verändert habe.

„Sag mal Christoph, wenn es dich nicht zu sehr nervt, dann erzahl‘ doch mal, was es mit diesem Bhagwan auf sich hat. Alle Welt fährt nach Indien, ist das denn wirklich so toll?“

Christoph wiegte den Kopf. Das sei nicht so leicht zu erklären.

„Du wirst die Frage wahrscheinlich hundertmal beantworten müssen. Wenn es dich nervt, lassen wir es einfach?“

Nein, nein, das sei nicht das Problem.

Wir sprachen und sprachen und ich konnte immer weniger verstehen, was die Faszination ausmacht. Man könne es nicht wirklich erklären, wurde mir bedeutet. Es sei auch nicht nur eine Therapie, schließlich kämen ja keine Kranken nach Poona. Meine These, dass es um „freie Liebe“ oder wie wir damals sagten ums „herummachen“ ginge, wurde milde lächelnd zurückgewiesen. Es ginge vielmehr darum Blockaden aufzulösen und gut zu riechen.

Man müsse Bhagwan auch nicht direkt sehen oder sprechen, es ginge auch alles mit Energieübertragung und im Übrigen würde das Alles sehr großen Spaß machen.

Ach ja und um das authentisch sein, ginge es auch noch. Aha!

„Schuhe und Verstand bitte draußen lassen“
stünde am Eingang zur Versammlungshalle. Da würde den Kern eigentlich sehr gut treffen. Man müsse den Irrweg der Aufklärung hinter sich lassen und man dürfe Erfahrungen nicht rationalisieren. Damit würde man sie nur beiseite schieben. Man müsse sie in sein Innerstes lassen.

Ob es den um mystische oder religiöse Erfahrungen ginge, ob der Ashram also einem Kloster ähnlich sei?

So könne man das sehen, aber das sei nur der unwichtigste Teil, entscheidend sei zu sich selbst zu kommen, zu verstehen, nein besser zu spüren, dass der, der man die ganze Zeit zu sein glaubte, nicht existiere. Man müsse frei werden. Religiöse Erfahrungen seien dabei hilfreich. Es ginge dabei aber nicht um Rückzug von der Welt wie im Christentum. Bhagwan lehre nicht den Verzicht, deshalb sei auch Geld verdienen oder Kapitalismus wie man damals sagte, nicht verpönt, allerdings käme es darauf nicht an, deshalb würde er auch im Rolls Royce vorfahren, um jedermann vor Augen zu führen, wie unwichtig materielle Güter seien. Wer durch den Erfolg zu sich selbst finde, hätte schon einen Schritt zu den Urkräften des Seins getan. Es ginge um die Potentialität des Selbst.

Ich habe das nicht verstanden. Es war ja auch nicht ganz leicht und am Abend gingen wir noch ins Far Out.

... einige Zeit später
Moden kommen und gehen in der Wissenschaft wie im richtigen Leben. In der ersten Zeit meines ersten Studiums hieß die aktuelle Mode: Poststrukturalismus.

Da kann man nichts machen, muss man auch nicht. Das Problem waren ja auch nicht die französischen Denker (zumindest nicht die meisten), sondern ihre Proselyten jenseits des Rheins. Wer erinnert sich nicht des wunderbaren Aufsatzes über "Lacancan und Derridada" von Klaus Laermann im Merkur? Und wem geht heute Norbert Bolz nicht ebenso auf die Nerven wie vor 30 Jahren? (Es gab noch jemand, der wurde allgemein der Pseudo-Bolz genannt. Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, wer damit geschmäht wurde.)

Viele meiner Kommilitonen versucht den Sinn von Sätzen wie:
„Das Virtuelle ist das Mögliche, das jederzeit und überall auch anders Mögliche. Es besteht in einem Abschied vom Körperlichen, indem es die Bedingungen der Zeit und des Raumes negiert und damit seine eigene Genese verleugnet. Es markiert zugleich die Grenzen der menschlichen Eigenmacht, indem es eine universale imaginäre Immanenz ausbildet, ein transparentes Gefängnis des absoluten selbstbezüglichen Geistes, der nichts Anderes mehr hat als sich selbst.“ Quelle
zu verstehen und diskutierten wild darüber. Je nun, je nun, verstehen Sie das?

Aber weil es alle gelesen haben, dachte ich, ich müsste das Zeug auch lesen. Da ich erst im dritten Semester war und ein ordentlicher Student und nicht so ein Hallodri, der nächtelang im Golgatha Frauen bezirzt, habe ich mit de Saussure angefangen. Getreu dem Motto, wenn man etwas nicht versteht, fängt man bei den Grundlagen an.

Nun ja, ist ja nicht falsch, dass das Wort Baum mit diesem knorrigen Gebilde da im Wald nichts zu tun hat, nur wo ist das Geheimnis? Warum elektrisiert dieser doch eher schlichte Sachverhalt so viele?

Also habe ich einen der Kollegas gefragt, denen die merve-Bändchen aus der Hosentasche quollen.

Es gehe doch nicht um Sprache, sondern um Erkenntnis und dass ich ein Dummkopf wäre und ich sollte doch erstmal Lesen und nochmals Lesen und dann hätte ich vielleicht eine Chance zu verstehen, welche bahnbrechenden Einsichten sich daraus ergäben. Wenn Sprache nicht mit der Wirklichkeit zu tun habe, ihr äußerlich wäre und gleichzeitig die Welt nur über Sprache erkennbar wäre, dann …

Ja schon, erwiderte ich, der Baum da drüben hat mit dem Wort Baum nichts zu tun. Ob man Baum sagt oder Quetzalcoatl ist natürlich egal, aber ich könnte doch auf ihn drauf rennen und dann hätte ich, ungeachtet ob ich gegen einen Baum oder den Quetzalcoatl gerannt wäre, eine Beule am Kopf?
Quetzalcoatl ist wohl ehrabschneiderisch.
Die Diskussion wurde dann etwas lautstärker ( „Wer glaubt die Welt hinter der Sprache erkennen zu können, ist naiv!“) und irgendwann wurde ich beschimpft und der Kollega haute ab. Quetzalcoatl
Das war dann meine zweite Begegnung mit der Metaphysik und den großen und wichtigen Dingen, dem Selbst und der Erkenntnis und den Theorien und Verirrungen, die sich um die Therien ranken. Ich habe dann lieber Foucault und Bourdieu gelesen. Das kann ich verstehen.

... und heute?
Ich habe lange nicht mehr an Backwahn und das „rasende Gefasel der Gegenaufklärung“ denken müssen, bis, ja bis kürzlich mir einer so quer im Magen lag, dass ich dachte: Das kennst du doch? Diese Art zu sprechen und zu denken, die Welt in egozentrische Befindlichkeiten aufzulösen und Sachverhalte unter gefühligem Schaum und mit gelehrter Dummheit zuzuschütten?

Esoterische Erweckungserlebnisse:
„Die Umstimmungserfahrung von damals bleibt irreversibel. Wer sie gemacht hat, wird unempfänglich für Theorien, in denen die Depression immer Recht hat. Auch will man den Wettbewerb, wer der Unglücklichste ist, nicht mehr um jeden Preis gewinnen. Man lebt unter einem helleren Himmel.“ Quelle
gepaart mit frankolatrischem Auflösen von Geschichte, wobei die Fin- der Fadesse hat weichen müssen (Halten zu Gnaden, verehrter Alfred Polgar):

„Man könnte auf den Gedanken kommen, daß eigentlich alle Klassen der sozialen Welt einmal ihre Revolution gemacht haben müssen, bis schließlich jede Schicht oder jeder "Stand" ihre Revolution gehabt hätten, bis hin an den Fuß der Gesellschaft. Mit anderen Worten: wenn alle sich eingebracht haben in das große Gespräch, wenn alle gut gekämpft haben, wenn alle sich im erfolgreichen Kampf konstituiert haben, wenn alle die Schönheit, ein kompetentes Selbst zu sein und ein politisches Subjekt zu werden, erfahren haben, wenn somit alle Klassen die Passion des Selbst-Seins in der politischen Arena am eigenen Leibe erfahren haben, dann erst wäre der Zyklus der Revolutionen wirklich zu Ende.“ Quelle
Eine brisante Mischung von Energie und Geschmeidigkeit!

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* “ein Netter”: einige Jahre später galt diese Bezeichnung als schwere Beleidigung. „Nett“ wurde als kleine Schwester von „Scheiße“ definiert, aber das ist eine ganz andere Geschichte.

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