Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Donnerstag, 10. September 2009
Georg Forster: Reise um die Welt 48
(Aufenthalt in Matavai-Bay)
“Wir wußten zwar schon, von unserm vorigen Ankerplatze her, wie feil die TAHITIschen Mädchens sind; doch hatten sie dort ihre Ausschweifungen nur bey Tage getrieben, des Nachts hingegen sich nie gewagt auf dem Schiff zu bleiben. Hier aber, zu MATAVAI, hatte man den englischen Seemann schon besser ausstudirt, und die Mädchen mußten ohne Zweifel wissen, daß man sich demselben sicher anvertrauen könne, ja, daß dies die herrlichste Gelegenheit von der Welt sey, ihm an Corallen, Nägeln, Beilen oder Hemden alles rein abzulocken. Es gieng also heute Abend zwischen den Verdecken vollkommen so ausschweifend lustig zu, als ob wir nicht zu TAHITI, sondern zu SPITHEAD vor Anker gelegen hätten. Ehe es ganz dunkel ward, versammleten sich die Mädchen auf dem Verdeck des Vordertheils. Eine von ihnen blies die Nasen-Flöte; die übrigen tanzten allerhand Tänze, worunter verschiedne waren, die mit unsern Begriffen von Zucht und Ehrbarkeit eben nicht sonderlich übereinstimten. Wenn man aber bedenkt, daß ein großer Theil dessen, was nach unsern Gebräuchen tadelnswerth zu nennen wäre, hier wegen der Einfalt der Erziehung und Tracht, würklich für unschuldig gelten kann; so sind die TAHITIschen Buhlerinnen im Grunde minder frech und ausschweifend als die gesittetern Huren in Europa. Sobald es dunkel ward, verloren sie sich zwischen den Verdecken und konnten ihnen ihre Liebhaber frisch Schweinefleisch vorsetzen, so aßen sie davon ohne Maas und Ziel, ob sie gleich zuvor, in Gegenwart ihrer Landsleute, nichts hatten anrühren wollen, weil, einer der hier eingeführten Gewohnheit zufolge, von welcher sich kein Grund angeben läßt, Manns- u. Frauenspersonen nicht mit einander speisen dürfen. Es war erstaunend, was für eine Menge von Fleisch diese Mädchen verschlingen konnten, und ihre Gierigkeit dünkte uns ein deutlicher Beweis, daß ihnen dergleichen, zu Hause, selten oder niemals vorkommen mogte. Die zärtliche Wehmuth von TUTAHAS Mutter, die edle Gutherzigkeit unsers Freundes O-WAHAU, und die vortheilhaften Begriffe von den TAHITIERN überhaupt, waren in so frischem Andenken bey uns, daß der Anblick und die Aufführung dieser Creaturen um desto auffallender seyn mußte, die alle Pflichten des gesellschaftlichen Lebens hintan setzten und sich lediglich viehischen Trieben überließen. Die menschliche Natur muß freylich sehr unvollkommen seyn, daß eine sonst so gute, einfältige und glückliche Nation zu solchem Verderbniß und zu solcher Sittenlosigkeit hat herabsinken können; und es ist allerdings herzlich zu bejammern, daß die reichlichsten und besten Geschenke eines gütigen Schöpfers am leichtesten gemißbraucht werden und daß Irren so menschlich ist!“
(Forster S. 307/8)

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