Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben IX
g. | Montag, 1. November 2010, 06:21 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
Dann ging er gedankenvoll im Zimmer auf und ab, und sagte zu sich selbst:So von seiner eigenen Rede gestärkt, kann er sich ans Werk machen, seine Neugier auf die wunderschöne Nachbarin gegenüber kann man auch nebenher befriedigen.
»Es kann mir nicht fehlschlagen, meine Empfehlungen sind zu gut und dringend; es wäre Beleidigung des Generals, wenn man mir die Stelle versagte: Und warum sollt ich eine unnütze und lächerliche Deutschheit und Biederkeit und wie die närrischen Titel weiter heißen mögen, affektieren? Man empfiehlt sich den Menschen immer auf das vorteilhafteste, wenn man recht demütig erscheint, und sich gar nicht zu empfehlen sucht; man darf nur die Leute selber sprechen lassen, und sie finden, daß man ganz außerordentlich vernünftig redet. – Bis jetzt haben die eingebildeten Weltreformatoren noch nichts genützt, aber wohl sich und andern geschadet. – Wenn es in unserer Welt dazugehört, daß man schmeichelt um ein Amt zu bekommen, ebenso, wie man sich examinieren läßt – je nun, so kann ich nicht begreifen, warum ich nicht etwas schmeicheln sollte, um in einen Zustand zu geraten, daß ich mir kann schmeicheln lassen. Das Ganze ist doch wahrhaftig nicht unangenehmer, als wenn ich auf der Hierherreise mit dem Wagen umgeworfen und einen Arm gebrochen hätte, und doch wäre es wahrlich auch nur geschehn, um hier Rat zu werden. Der Präsident hat viele Schwächen, sie sollen mir ebenso viele Haken werden, um mein Glück zu ergreifen.«
Als er diese Rede geendigt hatte, ging er zum Wirt hinunter, um sich jemand von seinen Leuten auszubitten, der ihn zum Präsidenten führen könne. – »Was ist das für ein Mädchen, die dort drüben wohne?« fragte er den Wirt zu gleicher Zeit ganz vorübergehend.Die Auskunft ist dann allerdings nicht nach seinem Geschmack.
Der Wirt schüttelte bedenklich den Kopf. – »Es ist eine von denjenigen«, sagte er halb lächelnd und halb böse – »nun, Sie verstehen mich wohl; sie lebt so auf ihre eigne Hand, wie man so zu sagen pflegt. Eine niederträchtige Kreatur! sie hat schon manchen jungen Mann ausgezogen. – Nehmen Sie sich nur vor der boshaften Person in acht«, setzte er spottend hinzu, »sie kann sich so fromm und unschuldig stellen: ein wahres Krokodil, ein Ungeheuer!«Ob der Wirt mit seinem Urteil recht hat? Siegmund nimmt es zunächst für bare Münze.
Siegmund hatte nicht Zeit, um den Schmähungen des Wirts noch länger zuzuhören, er ging und sahe nach den Fenstern des Mädchens hinauf, sie blickte ihm nach, und er schickte ihr nach dem, was er soeben gehört hatte, einen sehr verächtlichen Blick zu, und ging in die nächste Quergasse, ohne sich noch einmal umzusehn.Zuerst einem Schleimer beispringen und dann noch einem Wirt etwas glauben, aber wenn’s der Wahrheitsfindung bzw. der Geschichte dient?
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Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben VIII
g. | Freitag, 29. Oktober 2010, 07:40 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
Er wachte mit den angenehmsten Vorstellungen auf, die Sonne schien hell in sein Zimmer, und die freundlichen Tapeten und ihre Kupferstiche lachten ihm entgegen er ließ sich frisieren und zog sich an.Alles ist bestens, sogar
– Das hübsche Mädchen lag wieder im gegenüberliegenden Fenster, er grüßte, sie dankte, er sah noch einigemal hinüber, und stellte sich dann vor den Spiegel, um seinen Anzug und Anstand zu mustern.Jetzt aber heißt es sich wappnen für das Bewerbungsgespräch.
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Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben VII
g. | Mittwoch, 27. Oktober 2010, 08:00 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
Der Freund des Präsidenten ward ein Freund Siegmunds, und bekräftigte alles, was dieser sagte, mit sehr gewichtvollen Blicken, die er langsam in der Gesellschaft herumgehn, und dann an dem überwundenen Gelehrten hängen ließ. Siegmund war ohne es zu wollen der Sprecher in diesem langweiligen Parlamente geworden, und alle Augen waren nach seinem Munde gerichtet. Man fragte den Wirt heimlich, wer der verständige Fremde sei dieser aber wußte es selber nicht, und man hatte von Siegmund nur eine desto größere Hochachtung, da man seinen Namen und Charakter nicht kannte.Nun es scheint ja alles noch mal gut gegangen zu sein.
Die Gäste zerstreuten sich nach und nach, nur der kleine dicke Mann blieb mit Siegmund im Zimmer dieser spürte jetzt einen weit größeren Mut, da er mit seinem Verteidiger das Feld behalten hatte. Er wagte es jetzt dreister, sich in philosophischen Sentenzen zu ergießen, und Siegmund war gutmütig genug, alles zu bestätigen, da er einmal sein Sekundant geworden war. Beide versprachen es sich, Freunde zu bleiben und sich öfters zu besuchen. – Man trennte sich und Siegmund ging schlafen.Und so endet der erste von zwei merkwürdigen Tagen in Siegmunds Leben. Die Figuren, das Umfeld und die Ereignisvoraussetzungen für den weiteren Fortgang sind angelegt.
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Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben VI
g. | Montag, 25. Oktober 2010, 08:02 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
»Muß man denn, meine Herrn, immer nur Vorteil suchen«, fing er an, »wenn man der Meinung eines klugen angesehenen Mannes beitritt? Soll man ihm der Höflichkeit, der Freundschaft, ja seiner eigenen Oberzeugung zum Trotz nur stets widersprechen, bloß um der Welt zu zeigen, daß man unabhängig von ihm leben könne? Nur der Egoismus kann in allen Schritten Eigennutz entdecken. – Und warum soll ich auch nicht die unschädliche Schwachheit eines Vornehmen auf eine unschädliche Art benutzen dürfen? Wir sind selbst gegen unsere vertrautesten Freunde nie ganz aufrichtig, wir geben ihnen manches zu, wovon wir nicht überzeugt sind, wir behalten in den herzlichsten Stunden eine gewisse Lebensart bei, wir schonen ihrer Schwachheiten, um sie nicht gegen uns aufzubringen, und damit sie wieder andere Schwächen an uns übersehn. Hanc veniam damus petimusque vicissim.«Wohl gesprochen, aber Partei zu ergreifen kann auch nach hinten losgehen. Zumindest macht es Vieles komplizierter.
»Schön«, rief der Mann aus, der den Traktat geschrieben hatte – »Schade, daß Sie ein Sophist sind, und für Sophistereien einen Spruch des redlichen Horatii zitieren.«
»Machen wir es in unserm ganzen Leben anders?« fuhr Siegmund fort, »und machen sich wohl die edelsten Menschen Vorwürfe darüber? – Wer gibt dem Müller das Recht, einem Wasserfalle sein Mühlenrad unterzustellen, so daß die Wellen, statt frei und ungehindert fortzufließen, erst angespannt werden, um mit Mühe ein ungeheures Rad zu drehen?«
»Eine seltsame Ideenkombination!« rief der Traktatenschreiber.
»Nicht so seltsam kombiniert«, antwortete der Mann, der in Verlegenheit gewesen war, und dessen Gesichtswellen sich jetzt zur Ruhe legten; – »nicht so seltsam, als Sie die Ode Justum et tenacem etc. erklärt haben.«
»Sutor ne ultra crepidam!« antwortete kaltblütig der Gelehrte, und warf sein Motto wie einen Fehdehandschuh über den Tisch hinüber. Der Gegner hatte eine außerordentliche Fertigkeit im Rotwerden, denn schneller als in einem erhitzten Thermometer stieg nun das Blut wieder in die aufgedunsenen Wangen. Er schöpfte frischen Atem, als Siegmund wieder von neuem anfing:
»Wenn wir die Schwäche eines Menschen ertragen, so ist dies nichts als eine Pflicht der Menschenfreundlichkeit; bringt es aber der Zufall mit sich, daß wir durch diese Schonung irgendeinen Vorteil erlangen können, so sind wir große Toren, wenn wir uns nicht an dem Geländer festhalten, das uns einen steilen Pfad hinauf begleitet. Wer wird nicht bergunter langsam gehn, und einem bergabrollenden Steine aus dem Wege treten?«
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Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben V
g. | Freitag, 22. Oktober 2010, 07:47 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
Er ging in das Wirtszimmer, wo man schon stark mit Essen und politischen Gesprächen beschäftigt war. Es war gerade um die Zeit, als Dumouriez sein Heer verlassen hatte, und dieser Schritt den Verstand und die Imagination aller Leute beschäftigte, man schrie und eiferte, um ihn zu verteidigen oder zu verdammen, es wurde seine Gesundheit getrunken und an einer andern Stelle auf ihn geflucht, ein Spieler schalt ihn niederträchtig und sprach mit Enthusiasmus von den hohen Pflichten der Vaterlandsliebe; ein Gelehrter, der kürzlich einen Traktat über die römischen Silbenmaße herausgegeben hatte, bewies, daß Dumouriez den ganzen Feldzug ohne die nötigen taktischen Vorkenntnisse unternommen hätte; ein anderer sprach mit Verachtung von ganz Frankreich, und war schon halb betrunken, das arme Land hatte ihm in seinem eignen Weine Waffen wider sich in den Mund gegeben.-Der angesprochene Präsident, wir ahnen es schon, wird fürderhin noch eine Rolle spielen. Warum sollte er sonst in die belanglose Abendunterhaltung so prägnant eingeführt werden?
»Aber, meine Herren, der Präsident ist völlig meiner Meinung!« rief ein kleiner untersetzter Mann hinter dem Tische hervor.
»Sehr natürlich«, antwortete der Spieler, »weil Sie immer seiner Meinung sind.«
Die ganze Gesellschaft lachte, und der kleine Mann ward rot, er wollte zu verstehen geben, daß er dem Präsidenten gar manches über die Zeitläufte unter den Fuß gebe, allein er fand kein Gehör. Je näher er die Parallele zwischen sich und dem Präsidenten zog, je deutlicher ward es den Zuhörern, daß er nichts als ein Echo seines Gönners sei, und manche spielten ziemlich handgreiflich darauf an, daß er nur durch sein Widerhallen eine einträgliche Stelle suche. Der Mann ward immer hitziger und röter, und wandte sich vorzüglich mit seinen schutzsuchenden Blicken an Siegmund, dem die Verlegenheit des aufgelaufenen Gesichts wehe tat, und der deswegen eine kleine Pause benutzte, um die Rechtfertigung des Kleinen über sich zu nehmen.-
Die Einmischung unseres Siegmund wird sich aber wohl als Fehler oder als Vorteil oder beides herausstellen.
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Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben IV
g. | Mittwoch, 20. Oktober 2010, 06:29 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
Siegmund überließ sich seinen Träumereien und ging immer in verkehrten Richtungen, wie sie der Zufall ihm bot. Er überließ sich gern einer unbestimmten Ahndung, um sich mühsam aus kreuzenden Wegen herauszufinden, und am Ende mußte er gewöhnlich doch zum Fragen seine Zuflucht nehmen.Ah, eine Wende in der Erzählung deutet sich an. Zunächst aber noch eine Überleitung:
Die Szenen in den Straßen hatten sich jetzt sehr geändert, aus den Wirtshäusern tönte Musik und stampfender Tanz, die Fenster klirrten von fröhlichem Gelächter, Schattenspielleute zogen orgelnd und singend durch die Straßen, und kontrastierten seltsam mit den heiligen Liedern, die aus manchen unerleuchteten Dachstuben herunterwinselten; an manchen Orten wurde gezankt, Bettler lehnten betrunken an den Ecken, und nahmen jetzt das Mitleid übel, das sie noch vor kurzem erfleht hatten. Die Grazien wandelten einsamer und stiller und viele waren in männlicher Begleitung; nur aus den vornehmern Häusern rauchten die Schornsteine noch und bewölkten den Mond.Sie sehen, nach dem herunterwinseln der heiligen Lieder, wobei die Dachstuben noch nicht erleuchtet sind, wird die Szenerie deutlich härter. Jetzt wird es aber Zeit, der Erzählung die entscheidende Wende zu geben:
Eben wollte sich Siegmund nach seinem Gasthofe erkundigen, als er ein lautes Gezänk durch die stille Straße schallen hörte; es machte ihn aufmerksam, und er ging dem kreischenden Tone nach. – Auf der steinernen Treppe eines kleinen Hauses stand ein ältlicher wohlgekleideter Mann in einem Winkel und schien in das Haus zu wollen. Eine alte Weiberstimme versagte ihm den Eingang. – »Und Sie wissen ja ein für allemal, daß Mamsell nichts mit Ihnen zu sprechen hat«, – rief es zu wiederholten Malen kreischend aus dem Hause heraus; der alte Mann hatte aber immer wieder die Klingel in der Hand, und machte mit gedämpfter Stimme neue Vorschläge, von denen die Alte nichts wissen wollte. Die Kapitulation währte eine geraume Zeit, und Siegmund, der hier eine lustige Szene aus einem komischen Stücke zu sehn glaubte, konnte sich am Ende nicht mehr halten, sondern fing an überlaut zu lachen. Der alte Mann sah sich brummend um, und ging dem Lachenden hart vorüber nach Hause. Dieser erkundigte sich nun nach seinem Gasthofe, und die Reihe, ausgelacht zu werden, war jetzt an ihm, denn er stand dicht davor. – Das Haus, vor welchem die merkwürdige Kapitulation vorgefallen war, war dasselbe, aus welchem in der Dämmerung das allerliebste Mädchengesicht herausgesehn hatte. –Ups, gleich mehrere Volten in einem kurzen Absatz. Jetzt muss wieder etwas Tempo aus der Geschichte.
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Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben III
g. | Montag, 18. Oktober 2010, 08:19 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
Siegmund liebte nichts so sehr, als aufs Geratewohl die Straßen einer fremden Stadt zu durchkreuzen, bald hier, bald dort zu verweilen, und die mannigfaltigen wunderbaren Eindrücke in seine Seele aufzunehmen, die die fremden Gegenstände, die unbekannten Häuser in ihm erregten. Es war ein angenehmer Herbstabend, allenthalben stand der Rauch des Abendessens über den Häusern und vermischte sich mit dem Dunste des feuchten Herbstnebels, der tauend in die Gassen niedersank; der Mond fing eben an die Dämmerung gelb zu färben, und aus den Fabriken kehrte jauchzend der Schwarm der jungen und alten Arbeiter nach Hause. Mädchen durchstreiften Arm in Arm die entfernteren Gassen und plauderten laut durcheinander, um die vorübergehenden jungen Leute aufmerksam zu machen, und desto leichter ein interessanteres Gespräch mit diesen anzuknüpfen. Kleine Jungen balgten sich, und die Bettler sumsten ihre Bitten dreister den Eilenden nach.Arno Schmidt meinte übrigens in solchen Passagen der Alltagsbeobachtungen den Beginn der städtischen Literatur identifizieren zu können. Vorher seien Landschaften, kleinere Gesellschaften und vieles mehr beschrieben worden, aber keine städtischen Panoramen. Folgen wir Siegmund und seinen Beobachtungen und Reflexionen in der fremden Stadt noch ein Weilchen:
Siegmund labte sich an den abwechselnden Gestalten, er stand oft still und sah durch ein niedriges Fenster in die sparsam erleuchtete Stube, deren Schein so anlockend, und deren enge von der Lampe schwarzgeräucherte Wände so abschreckend waren. Die Familien der Handwerker saßen um runde Tische und verzehrten froh und lebhaft kauend ihr Abendbrot; in andern Stuben saß eine emsige Alte beim Haspel, und zählte aufmerksam seine Umwälzungen, um morgen ihr gesponnenes Garn abzuliefern. Oft stand Siegmund still, wenn er in der Ferne auf den Fluren der Häuser ein Licht wahrnahm, und die hin- und herschießenden Schatten, oder wenn sich eine Tür unter dem Schall einer lauten Klingel eröffnete, und der Hausherr mit vielen Bücklingen einen Besuch entließ, der mit einer ehrbaren Laterne nach Hause schritt. – Siegmund las bei solchen Wanderungen das ganze menschliche Leben gleichsam kursorisch, er dachte sich in jede Familie hinein, und erinnerte sich seiner frühesten Kinderjahre, wo ihm in trüben regnichten Nächten der Schein des Lichts aus den Häusern immer wie ein Feenland gewinkt hatte. – Er bestieg in seinem poetischen Taumel endlich noch den Wall der Stadt, und sah nun auf der einen Seite dunkelflimmernde Lichter, ein dumpfes Geräusch von Wagen und Stimmen durcheinander, die sich ablösenden Wachten und das Schlagen der Glocken, Häuser hinter Bäumen versteckt, und der Abendwind, der im rasselnden Laube nachsuchte, einen Kahn auf dem kleinen Flusse: – auf der andern Seite das freie Feld mit Nebelwolken, mit fernen Hügeln und Wäldern, Bauern, die nach Hause fahren, Mühlen, die ihren einförmigen Takt im kleinen Wasserfall unermüdet wiederholen, Stimmen, von denen er nicht wußte, wo sie hingehörten, wandernde Vögel; – als er so alle die einzelnen zerstreuten Gemälde in ein einziges in seiner Phantasie sammelte, so war er mit sich und seinem Schicksale außerordentlich zufrieden, er dachte sich sein künftiges Leben hier recht schön, und es befiel ihn unter seinen Hoffnungen nur die dunkle Beklemmung, die sich fast jeglichem Menschen in fremden Gegenden nähert.Ja, an der These könnte etwas dran sein, solche Beschreibungen städtischen Lebens und vor allem die Art der Beschreibungen und Reflexionen mutet für die Zeit, Ludwig Tiecks „Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben“ wurde 1796 erstmals veröffentlicht, ungewöhnlich und neuartig an.
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Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben II
g. | Freitag, 15. Oktober 2010, 06:30 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
Der zukünftige Rat sah bei so guten Vorbedeutungen die Stadt mit sehr günstigen Augen an. Er träumte sich hundert angenehme Abenteuer, und sah es sehr ungern, als sich die Schöne von ihrem Fenster zurück zog, und er nur noch hinter ihren Vorhängen das Licht bemerkte, das sehr oft seine Stelle veränderte, und bald näher zum Fenster, bald weiter zurückgesetzt ward.Die geheimnisvolle Schöne macht ihm die neue Stadt auf jeden Fall sehr angenehm.
Er ließ ebenfalls die Vorhänge herunter. Der Ofen wärmte das Zimmer nur wenig, und da er von dem Fahren noch eine gewisse Unruhe im Körper verspürte, so nahm er die Lichter, verschloß die Stube, und bestellte unten in der Küche, daß er zum Abendessen zurückkommen würde. Es wurde ziemlich spät gegessen, und er hatte daher zum Spazierengehn noch Zeit genug.Begleiten wir unsern Siegmund bei der Erkundung seines künftigen Domizils.
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Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben I
g. | Mittwoch, 13. Oktober 2010, 06:22 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
„Es war schon gegen Abend, als ein Wagen vor dem Gasthofe stillhielt, und ein junger Mensch munter und fröhlich herausstieg, um sich vom Wirt ein Zimmer anweisen zu lassen. Es entstand ein Laufen im ganzen Hause, Treppe auf und nieder, um Licht und Feuerung zu besorgen, alle Schritte hallten fünffach von den großen Gewölben wider, man führte den Fremden auf sein Zimmer und ließ ihm Wachslichter auf sehr eleganten Leuchtern da, und Herr Siegmund merkte aus allen Zeichen, daß er hier zwar in ein vornehmes, aber gewiß sehr teures Wirtshaus geraten sei.“Wir ahnen es: große Dinge werden geschehen.
»Mag's doch!« sagte er ganz laut, indem er mit zuversichtlichen Schritten in seinem Zimmer auf und ab ging, und flüchtig die englischen Kupferstiche betrachtete. »Ich bin morgen vielleicht schon Rat, und alle Sorgen für die Zukunft sind gehoben.«Zunächst aber geschieht nichts Spektakuläres.
Er sah aus dem Fenster; es war auf der Gasse noch ziemlich hell, und selbst hell genug, um ein allerliebstes Gesichtchen im gegenübersteckenden Hause zu bemerken, das aufmerksam nach ihm hinübersah. Seine Augen begegneten ihren freundlichen Blicken, er grüßte endlich, und sie dankte verbindlich.Ob die Dame gegenüber noch eine prominentere Rolle in der Erzählung spielen wird?
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Trotz alledem!
g. | Donnerstag, 2. September 2010, 07:15 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
Das war 'ne heiße Märzenzeit,
Trotz Regen, Schnee und alledem!
Nun aber, da es Blüten schneit,
Nun ist es kalt, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem –
Trotz Wien, Berlin und alledem –
Ein schnöder scharfer Winterwind
Durchfröstelt uns trotz alledem!
Das ist der Wind der Reaktion
Mit Meltau, Reif und alledem!
Das ist die Bourgeoisie am Thron –
Der annoch steht, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem –
Trotz Blutschuld, Trug und alledem –
Er steht noch, und er hudelt uns
Wie früher fast, trotz alledem!
Die Waffen, die der Sieg uns gab,
Der Sieg des Rechts trotz alledem,
Die nimmt man sacht uns wieder ab,
Samt Kraut und Lot und alledem,
Trotz alledem und alledem,
Trotz Parlament und alledem –
Wir werden unsre Büchsen los,
Soldatenwild trotz alledem!
Doch sind wir frisch und wohlgemut
Und zagen nicht trotz alledem!
In tiefer Brust des Zornes Glut,
Die hält uns warm trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Es gilt uns gleich trotz alledem!
Wir schütteln uns: Ein garst'ger Wind,
Doch weiter nichts trotz alledem!
Denn ob der Reichstag sich blamiert
Professorhaft, trotz alledem!
Und ob der Teufel regiert
Mit Huf und Horn und alledem –
Trotz alledem und alledem,
Trotz Dummheit, List und alledem,
Wir wissen doch: die Menschlichkeit
Behält den Sieg trotz alledem!
So füllt denn nur der Mörser Schlund
Mit Eisen, Blei und alledem:
Wir halten aus auf unserm Grund,
Wir wanken nicht trotz alledem!
Trotz alledem und alledem!
Und macht ihr's gar, trotz alledem,
Wie zu Neapel jener Schuft:
Das hilft erst recht, trotz alledem!
Nur, was zerfällt, vertretet ihr!
Seid Kasten nur, trotz alledem!
Wir sind das Volk, die Menschheit wir,
Sind ewig drum, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem:
So kommt denn an, trotz alledem!
Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht –
Unser die Welt trotz alledem!
Ferdinand Freiligrath, Düsseldorf, Anfang Juni 1848.
Na ja , besser so?
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