Reisejournal Sizilien Frühjahr 2012 (12)
g. | Freitag, 27. Juli 2012, 07:09 | Themenbereich: 'auf Reisen'
Samstag 9. Juni
Noch etwas müde von der kurzen Nacht. Meine morgendliche Klemperer-Lektüre beschert mir:
Voßler, bei dem Victor Klemperer studiert hat, ist zu Besuch in Dresden.
Das italienische Ehepaar, das neben uns wohnt, ist immer noch stinksauer über die Ruhestörung der letzten Nacht. Sie teufeln herum und durch die geöffnete Balkontüre schwappt der eine oder andere Satz zu uns herüber. Über das Spanische kann ich einen Teil davon verstehen. (Übrigens: es scheinen sehr nette Leute zu sein. Wenn man nur ausreichend Italienisch könnte.)
Rundgang durch den Ort, Frühstück. So nach und nach versammelt sich Stadt und Umland am Strand.
Eine Kugel Eis im Brötchen, wie es viele Einheimische als Zwischenmahlzeit bevorzugen? Ach nein, besser nicht. Man muss nicht alles ausprobieren.
Die Klemperers machen Urlaub im Tessin.
Noch etwas müde von der kurzen Nacht. Meine morgendliche Klemperer-Lektüre beschert mir:
Voßler, bei dem Victor Klemperer studiert hat, ist zu Besuch in Dresden.
„Am Sonntag Abend erzählte er viel (u. haßerfüllt) von MUSSOLINI, den er für einen Mörder u. skrupellosesten Egoisten hält, ohne tiefere Geistigkeit u. ohne die Macht, Gutes u. Bleibendes zu schaffen. Ichto (?) porco sifilitico habe ihn De Lollis immer genannt. Während der Matteotti-Affäre habe M. sich verloren gegeben u. sich krank zu Bett gelegt. Der Witwe M.’s, die ihn um Hilfe u. Gerechtigkeit anflehte, habe er gesagt, SIE sei jetzt mächtiger als er. Erst als sich niemand gegen ihn erhob, habe er die schleifenden Zügel wieder in die Hand genommen. Er sei ohne persönlichen Mut. (Wirklich?) Er sei ohnmächtig geworden bei einem Attentat, wo die Kugel bloß seine Nase streifte. Als man die Leiche Matteottis suchte u. Muss. machtlos war, erschien im Asino ein Bild. Muss. und ein Negerhäuptling aus den Colonieen. Der Häuptling vertraulich: Eccellenza, MIR können Sie’s doch sagen. Nicht war ihr habt ihn gefressen?! ... Als M. seinen Frieden mit der Kirche machte, sollte auch seine Civilehe kirchlich gesegnet werden. Muss. wollte daraus ein Staatsfest machen. Der Erzbischof von Mailand (?) lehnte das ab: Man könne dem Volk doch nicht zeigen, daß sein Gebieter so lange NEL CONCUBINATO gelebt habe. Der Erzbischof forderte auch Beichte. Muss. war damit einverstanden, er habe einen Priester irgendwo in den Abruzzen zum Freunde. Der Erzbisch. zu einem Freunde: Wieviele Tage hintereinander müsse dieser Mensch beichten! Er könne sich freilich auch in drei Worte fassen: Ho fatto tutto! – V. erzählte auch, wie eine Bande in der Nacht in Croces Palazzo eindrang u. die Fensterscheiben zerbrach. Frau Croce trat den Leuten entgegen u. beschimpfte sie heftig als ehrlos. Worauf sie gedeppt abzogen.“Eine aberwitzige Wahrnehmung des italienischen Faschismus, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Erzählung von 1928 ist und der Nationalsozialismus erst in den Anfängen sichtbar wird. Wahrscheinlich ist das aber die Wahrnehmung des ‚liberalen’ Bildungsbürgertums dieser Zeit, von demokratischem Bewusstsein keine Spur. Das gilt es im Hinterkopf zu haben, wenn mal wieder von Kommunisten und Nazis, die die Weimarer Republik zerstört hätten, die Rede ist.
(Victor Klemperer: Tagebücher 15. Juni 1928, S. 274)
Das italienische Ehepaar, das neben uns wohnt, ist immer noch stinksauer über die Ruhestörung der letzten Nacht. Sie teufeln herum und durch die geöffnete Balkontüre schwappt der eine oder andere Satz zu uns herüber. Über das Spanische kann ich einen Teil davon verstehen. (Übrigens: es scheinen sehr nette Leute zu sein. Wenn man nur ausreichend Italienisch könnte.)
Rundgang durch den Ort, Frühstück. So nach und nach versammelt sich Stadt und Umland am Strand.
Eine Kugel Eis im Brötchen, wie es viele Einheimische als Zwischenmahlzeit bevorzugen? Ach nein, besser nicht. Man muss nicht alles ausprobieren.
Die Klemperers machen Urlaub im Tessin.
„Ganz italienisch ist die Bevölkerung hier. Wieso eigentlich gehören sie nicht zu Italien? Die Schweiz schlägt einem alle Theorieen vom Wesen einer Nation zuschanden. Aber sie ist Ausnahme.“Oder aber die Theorie, das Nationen ein ‚Wesen’ haben ist Unfug. Damit wäre Klemperers zentrales Paradigma der Literaturbetrachtung allerdings obsolet.
(Victor Klemperer: Tagebücher 5. März 1929, S. 17)