Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Dienstag, 17. Juli 2012
Reisejournal Sizilien Frühjahr 2012 (7)
Mittwoch 6. Juni 1. Teil

Das Meer ist noch immer aufgewühlt. Morgenkaffee und Morgenlektüre.
„Dreimal in letzter Zeit im Kino [...] Am wenigsten gefiel uns, was die größten Kunstqualitäten haben soll: gestern im Capitol der »WEBER«-Film. Alles ist übertreibende Copie der russischen Revolutionsfilme, nirgends erwärmt die Handlung, u. die schematische Hetze läßt kalt. (D.h., das Publikum klatschte frenetisch der siegenden Rebellion zu. – Es klatscht ebenso im Fridericus Rex.) Gut nur einzelne Scenen.“

(Victor Klemperer: Tagebücher S. 179, 17. Juni 1927)
Die ruhige Geschäftigkeit vor unserem Fenster um halb acht Uhr ist schön und entspannend, Getränke und Lebensmittel für die Restaurants werden angeliefert, Leute gehen zur Arbeit oder führen ihre Hunde aus.
„Einen Abend waren wir mit Annemarie Köhler auf der VOGELWIESE. Der alte Lärm, die alte Lichtfülle, der alte Geruch nach ranzigem Fett. Wir waren in einer Negerbude. Es wurde getrommelt, getanzt, Feuer geschluckt, mit Spielkarten jongliert. Carusselle jeder Form, Rutschbahnen etc. sind die Haupt-Attractionen. (Wenn ich in dem Snobistenblatt »Literarische Welt« lese, daß Joyce der moderne Homer sei, daß sein surrealistischer ULYSSES mit dem »inneren Monolog« DAS Werk des Jahrhunderts sei, daß man von dem Jahrhundert Lenins u. Joyces sprechen werde (Ivan Goll!) – dann ist das auch Vogelwiesen-Budenton.)

(Victor Klemperer: Tagebücher 12. Juli 1927, S. 184)
Wenn ich auf die Tagebücher von Klemperer von 1918 bis jetzt 1927 zurückblicke, wird ein zunehmender und sich härter darstellender Antisemitismus sichtbar. Dass sich das alltäglich – für jedermann wahrnehmbar – so darstellt, hätte ich nicht erwartet. (Na ja, eigentlich doch.)

Noch zwei Stunden bis der Bus nach Castelbuono fährt, Zeit genug noch etwas am Strand entlang zu laufen.
Eine Gruppe 14-15jähriger Schülerinnen nutzt die Zeit vor dem Unterricht, um noch eine Runde zu baden und Vokabeln zu lernen. Hach, das möchte man sich im Rückblick auch gönnen. Das mit dem Vokabeln lernen, könnte man ja auslassen.
Etwas weiter entfernt wird der Strand repariert.



Die Villa da oben auf dem Kamm, da hätte man sich einmieten sollen. (ob das das Anwesen war, in dem Aleister Crowley 1920 – 1923 gelebt hatte?)



So langsam wird es Zeit und wir schlendern zum Busbahnhof. Während wir warten, dass der Fahrer erscheint, betrachte ich versonnen ein Plakat neben mir an der Wand.



Alle möglichen Liceos machen anscheinend eine Schulabschlussparty in einer Disko. Die Bilder der Mädchen (für einen Schönheitswettbewerb?) wirken etwas nuttig. Hm, vielleicht werde ich alt und kann die Schönheitsideale heutiger Abiturientinnen nicht mehr begreifen. In Berlin sieht man ja häufiger schon 14/15jährige mit – für meinen Geschmack – überbetonten Brüsten und Hinterteilen, zudem noch bis zu den Ohren geschminkt. Na egal, da ich nicht der Vater der jungen Frauen bzw. der Mädchen bin, brauche ich auch nicht darüber nachzudenken, ob ich das Gebaren seltsam oder unschicklich finde.

Der Busfahrer erscheint, überpünktlich, um die wartenden Touristen nicht zu erschrecken und gibt noch einige Auskünfte, die nicht unbedingt notwendig gewesen wären. Er hat lange, lockige, straßenköterblonde Haare und hat während der ganzen Fahrt eine dicke Zigarre unangezündet im Mund. Werden Zigarren, wenn sie über längere Zeit eingespeichelt werden, nicht scheußlich bitter? Wenn ja, stört es ihn nicht. Mir geht das Radio ziemlich auf den Wecker, andauernd musica pop, wie der Sprecher alle zwei Minuten verkündet und weil sich im Radio zwei für irgendetwas berühmte Menschen aus der Region über musica della crisis unterhalten und ich nichts verstehe. Na so interessant wird die Unterhaltung im italienischen Dudelfunk wohl nicht gewesen sein.
In einer wilden Schlucht unterqueren wir die Autobahn.



Dazu fällt mir dann Gerhard Polt ein, der – den Zusammenhang habe ich vergessen – mal in einem Interview meinte: „Gell, wenn der Beton mal so in der Landschaft wurzelt, dann kriagstn mit noch so viel demontriern nimmer so leicht weg.“
Vierzig Minuten Fahrt und das Radio peinigt ohne Pause.
Wenn die Sängerinnen oder die Sänger zu wimmern anfangen, nennt man das, glaube ich, Kopfstimme. Das scheint in sizilianischen Schlagern der Saison mächtig In zu sein.

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