Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Reisejournal Sizilien Frühjahr 2012 (4)
Montag, 4. Juni 2. Teil
„ ... zum 5 Uhr Tee im Hôtel Eden am Zool. Garten ...

Eigentlich Sodom u. Gomorrha. Ernsthaft! Ein großer Saal, kaum ein Platz frei. (...) Es war freilich Sonnabend Nachm., aber an anderen Nachmittagen soll es auch heftig zugehen. Eine riesige Jazzkapelle, eigentlich zwei aneinandergebaute, die sich bisweilen ablösten, bisweilen zu Riesenlärm zusammenfanden. Drei gigantische Saxophone, Trompeten, mit Schlagzeug, Banjo, Ziehharmonika. Wildeste unartikulierteste Geräusche, nicht immer Töne, selten Harmonieen, sehr selten Melodieen, immer Rhythmen, dumpf gepaukt, getrommelt, gestampft, geklappert, blechgeschlagen. Singen u. Schreien einzelner Musiker oder aller im Chor. Heulendes Aufspringen der ganzen Band, ruckweises Sichfallenlassen mit wildem Aufschlag auf die Instrumente, Klatschen, englische Brocken irgend welcher Texte. Und immerfort Charleston, die Beine auseinanderwerfend im Sexualrhythmus, eine wilde, tobende Schamlosigkeit. Die Mädchen, wohl Confection u. immer wieder Confection, gemalt, gepudert, Arme nackt, Beine frei, Kleidung anliegend, nichts unter der Oberhülle. Die Jungen: zu 98% Jungelchen, zwischen 18 u. 22. Das war das Empörendste: diese Bengel gehören in ein Arbeitshaus.
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Ich habe geglaubt, so etwas gebe es nur im Film, ich habe geglaubt, ich könne mich nicht mehr sittlich entrüsten. Zwei Irrtümer. Ich könnte begreifen, wenn hier einer dictatorisch eingriffe, halb Robespierre, halb Calvin. Aber ein solcher Dictator würde antisemitische u. teutsche Töne anschlagen u. das wäre verfehlt. Ich kann verstehen, wie hier einer Communist u. Bolschewist wird. Zumal ich überall von Not. u. Arbeitslosigkeit höre.
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Aber welche Umwälzung würde eine sittlichere Ordnung bringen, eine sittlichere Schicht nach oben führen? Es sind ja nicht nur die Aristokraten oder Bourgeois oder Juden, die so toben. Diese geistlos Taumelnden gehören allen Kreisen an.“

(Victor Klemperer: Tagebücher S. 131/2 Berlin, 26.9.1926. )
Und jetzt Duschen und noch einen kleinen Abendspaziergang zum Bahnhof, Abfahrtszeiten eruieren.

Der Sundowner auf der Piazza, ein Bier vom Fass für mich und ein Campari Soda für die Liebste. Ziemlich seventies meinte sie. Um uns tranken Viele Aperol Spritz. War das nicht das Modegetränk von vor fünf Jahren? Na egal, die alten Strategen des Ortes setzen sich auf ein Schwätzchen auf die Bänke des Platzes, Abendessen gibt es ja erst um acht. Die Frauen sind wahrscheinlich zu Hause und kochen oder sitzen mit der Nachbarin vor dem Haus.

Wir schlendern dann noch ein bischen durch die Straßen und gehen dann ins Covo del Pirata, blöder Name aber ein schöner Tisch in einem Wintergarten über der Mole mit Blick auf die Bucht. Eine Flasche Alcamo, Wasser und als Antipasti dann eine Caponata und marinierten Fisch. Die Caponata kannten wir in der Art noch nicht: Auberginen, Paprika, Zucchini und ausgelöste Oliven in grobe Stücke zerteilt und in der Pfanne angebraten und dann wohl im Ofen zu Ende gegart. Wir machen bei uns zu Hause die Caponata mit Sardellen, Rosinen und gerösteten Pinienkernen. Die sizilianische Art ist mindestens genau so gut. Danach Tagliatelle mit wildem Fenchel und Spaghetti alle Sarde. Alles sehr sehr gut. Nicht nur die Frühstücksversorgung ist gesichert.

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