Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Eine gescheiterte Liebe III
Er blickte von seinem blauen Buch auf und lies die gelesenen Worte auf sich wirken:
„In dieser Stunde hörte Siddhartha auf, mit dem Schicksal zu kämpfen, hörte auf zu leiden. Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des Wissens, dem kein Wille mehr entgegensteht, das die Vollendung kennt, das einverstanden ist mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des Lebens, voll Mitleid, voll Mitlust, dem Strömen hingegeben, der Einheit zugehörig.“
So müsste es sein, frei von Not und Zweifel, dachte er bei sich. Da bemerkte er, dass die schöne Frau auf der Sitzbank gegenüber das gleiche Buch in der Hand hielt und las. Ob sie genauso beeindruckt war? Er rieb sich die Nase mit dem Zeigefinger und lächelte, als sie für einen Moment aufsah und ihren Blick über die Passagiere wandern lies.
Sie war unruhig. Sie hatte das Referat für die Schule vergessen und da eine Nachfrist nicht vorgesehen war, las sie jede zweite Seite kurz an, um wenigstens ungefähr mitzubekommen, um was es in dem Roman eigentlich ging. Buddhismus und so ein Kram. Sie zog ihren Collegeblock aus der Tasche und begann hektisch Notizen zu machen. Es blieben ihr noch 15 Minuten Bahnfahrt und drei oder vier Minuten, bis der Deutschlehrer in die Klasse kommen würde. Vorher musste sie noch allen das Versprechen abnehmen, keine Fragen zu stellen. Oder nur Fragen, die jeder ohne Kenntnis des Romans, beantworten kann. Ob sie noch andere Romane des Autors gelesen hätte. So einen Scheiß eben.
‚Sieht gar nicht schlecht aus, der Typ, gegenüber.‘ Dann bemerkte sie, dass er den gleichen Roman vor sich liegen hatte. ‚Soll ich ihm eine kurze Zusammenfassung aus dem Kreuz leiern?‘ Sie runzelte die Stirn. ‚Er liest den Roman freiwillig? Warum sitzt er völlig regungslos da?‘ Sie machte sich weiter Notizen.
‚Das lassen wir mal lieber!‘ dachten sie.

Kommentieren




jean stubenzweig, Mittwoch, 21. März 2012, 11:38
Sie konnten
zueinander nicht finden. Der Generationenunterschied? Die veränderte Gesellschaft, die trotz aller Öffnung für Grenzenlosigkeiten in Mitleid, Mitlust und Strömen zur Einheit mehr als früher keinen Schopenhauer und selbst keinen Hesse mehr kennt, die den Deutschen Fernöstliches erkennbar machen wollten? Ist letzterer überhaupt noch Unterrichtsstoff? Vom erstgenannten ganz abgesehen.

g., Donnerstag, 22. März 2012, 06:00
Ich konnte mit Hesse ja nie viel anfangen. Anfang/Mitte der 70er war das ja groß im Schwange, als man nach Indien pilgerte, um dem Yogi Durcheinanda zu huldigen. Als mich dann noch ein Ami in Afghanistan fragte, ob denn Hesse in Germany ein Untergrundautor sei, habe ich mich komplett verweigert. Veränderte Gesellschaft? Ich glaube nicht. Die Gegenstände, an die sich identitäre Selbstzuschreibungen anflanschen, ändern sich, die mangelnde Empathie oder das Desinteresse am Anderen haben sich vielleicht etwas verschärft, sind aber, denke ich, gleich geblieben. Für Beziehungen, tatsächliche oder mögliche, zwischen Menschen ist das ziemlich schrecklich.
„Me-ti sagte: Die Urteile, die auf Grund der Erfahrungen gewonnen werden, verknüpfen sich im Allgemeinen nicht so, wie die Vorgänge, die zu den Erfahrungen führten. Die Vereinigung der Urteile ergibt nicht das genaue Bild der unter ihnen liegenden Vorgänge. Wenn zu viele Urteile miteinander verknüpft sind, ist das Zurückgreifen auf die Vorgänge oft sehr schwer. Es ist die ganze Welt, die ein Bild erzeugt, aber das Bild erfasst nicht die ganze Welt. Es ist besser, die Urteile an die Erfahrungen zu knüpfen, als an andere Urteile, wenn die Urteile den Zweck haben sollen, die Dinge zu beherrschen. Me-ti war gegen das Konstruieren zu vollständiger Weltbilder.“ (Brecht: Wendungen)