Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Mittwoch, 21. März 2012
Eine gescheiterte Liebe III
Er blickte von seinem blauen Buch auf und lies die gelesenen Worte auf sich wirken:
„In dieser Stunde hörte Siddhartha auf, mit dem Schicksal zu kämpfen, hörte auf zu leiden. Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des Wissens, dem kein Wille mehr entgegensteht, das die Vollendung kennt, das einverstanden ist mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des Lebens, voll Mitleid, voll Mitlust, dem Strömen hingegeben, der Einheit zugehörig.“
So müsste es sein, frei von Not und Zweifel, dachte er bei sich. Da bemerkte er, dass die schöne Frau auf der Sitzbank gegenüber das gleiche Buch in der Hand hielt und las. Ob sie genauso beeindruckt war? Er rieb sich die Nase mit dem Zeigefinger und lächelte, als sie für einen Moment aufsah und ihren Blick über die Passagiere wandern lies.
Sie war unruhig. Sie hatte das Referat für die Schule vergessen und da eine Nachfrist nicht vorgesehen war, las sie jede zweite Seite kurz an, um wenigstens ungefähr mitzubekommen, um was es in dem Roman eigentlich ging. Buddhismus und so ein Kram. Sie zog ihren Collegeblock aus der Tasche und begann hektisch Notizen zu machen. Es blieben ihr noch 15 Minuten Bahnfahrt und drei oder vier Minuten, bis der Deutschlehrer in die Klasse kommen würde. Vorher musste sie noch allen das Versprechen abnehmen, keine Fragen zu stellen. Oder nur Fragen, die jeder ohne Kenntnis des Romans, beantworten kann. Ob sie noch andere Romane des Autors gelesen hätte. So einen Scheiß eben.
‚Sieht gar nicht schlecht aus, der Typ, gegenüber.‘ Dann bemerkte sie, dass er den gleichen Roman vor sich liegen hatte. ‚Soll ich ihm eine kurze Zusammenfassung aus dem Kreuz leiern?‘ Sie runzelte die Stirn. ‚Er liest den Roman freiwillig? Warum sitzt er völlig regungslos da?‘ Sie machte sich weiter Notizen.
‚Das lassen wir mal lieber!‘ dachten sie.

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