Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Montag, 30. Juli 2012
Reisejournal Sizilien Frühjahr 2012 (13)
Sonntag 10. Juni 1. Teil

6:30 Uhr Morgenkaffee auf dem Balkon.

Ein schwarzer Kater streift am noch menschenleeren Strand und an der Uferpromenade umher. Er kontrolliert sein Revier. Na? Alle Mädels noch da? Kein Eindringling?

Ein Mann, Mitte 50, grau meliertes, blondes Haar, kommt mit einer großen Plastiktüte an den Strand, blickt sich um und kontrolliert sorgfältig ob die Tüte ein Loch hat. Dann entkleidet er sich. Schuhe, Hose und Hemd werden sehr sorgfältig in der Tüte verstaut und diese dann zugeknotet. Er prüft nochmals ob die Tüte ein Loch hat und ob genügend Luft in ihr ist. Dann schwimmt er zu der Segeljacht in etwa 50 Meter Entfernung, die Tüte immer vor sich her schiebend.



Zurück zu Klemperer.
„Und ich sehe, zum erstenmal sehe ich wirklich, das spanische, französische, italienische Nordafrika in seiner Lage, ich sehe Aegypten u. das heilige Land, wie sie im Raum liegen, ich sehe Griechenland, Macedonien u. Kleinasien, und so vieles was mir nur Literatur, Märchen, Phantom war, wird mir jetzt körperhaft klar u. reale Gegebenheit. Weil ich nun eben die Karte ERLEBE. – Ich sage mir: das KLEINE Hellas, das KLEINE Italien. Die Schiffsschraube am Fahrzeug Europa. Das KLEINE Europa. Immer sind es kleine Völker, kleine Länder, kleine Gruppen gewesen, die geführt haben, u. innerhalb der kleinen Gruppen EINZELNE. Wie ist es möglich, materialistische, collektivistische Lehren aus der Geschichte zu ziehen?“
(Victor Klemperer: Tagebücher S. 85 12. August 1929, auf einem Frachter im Golf von Oran.)
Heute steht Santo Stefano di Canestra, Città delle Ceramiche, auf dem Programm.

Auf dem Bahnhof ist es uns nun schon mehrfach passiert, dass der Schaltermensch uns in sein Büro gewunken hat, um uns in fließendem Englisch die Fahrkarten zu verkaufen und uns darauf hinzuweisen, dass die Fahrkarten noch gestempelt werden müssen. Außerdem schrieb er uns unaufgefordert die Abfahrtszeiten von Santo Stefano für den Rückweg auf einen Zettel. Diese und einige weitere Erfahrungen, etwa mit Polizia Local und Carabinieri, verstärken den Eindruck, dass auf Sizilien große Anstrengungen gemacht werden, öffentliche Angelegenheiten bürgerfreundlich zu gestalten. Wenn ich an Neapel, Salerno, ... zurückdenke, scheint das ein Unterschied zu Kalabrien zu sein, wo solche Erlebnisse von Hilfsbreitschaft und Zuvorkommen nur auf dem Land alltäglich-selbstverständlich waren. Fragt sich, ob der Eindruck nur zufällig ist und ob er zutreffend und mit den Bemühungen, die Mafia bedeutungslos zu machen, zusammenhängt?
Okay, ich spekuliere.
Die kurze Fahrt nach Santo Stefano führt uns wieder einmal vor Augen, dass die Familie Pronto eine weitverzweigte Verwandtschaft in Italien hat und anscheinend ein bestimmtes Klingelzeichen auf dem telefonino bevorzugt.

Santo Stefano liegt auf einer Anhöhe etwa hundert Meter über dem Meer. Es ist Sonntagmorgen, die Leute sind noch etwas müde, sitzen in den Bars oder besuchen den Gottesdienst.



Wer für einen Espresso keine Kohle hat, steht auf dem Platz unter den Bäumen und quatscht eine Runde.
Die alten Strategen sitzen in der societá operaia und machen sich einen schönen Tag.
Vom Belvedere hat man einen schönen Blick auf die Autobahn.



Aber eigentlich ist die Via del Palme sehr schön, nur eben menschenleer.



Santo Stefano ist ja die Città delle Ceramiche und so verkaufen vier von fünf Keramikläden auf der Hauptstraße Touristenmüll, der vermutlich in China gefertigt wurde. Richtig liebevoll ist hingegen das Heimatmuseum der Stadt eingerichtet. Traditionelle Keramik wie diese Bodenfliesen



oder dieses Bild



werden neben modernen Formen



ausgestellt. Da kann einem schon einiges gefallen.





Natürlich nicht alles.

Das Herz der Angebeteten aufschließen und den Schlüssel für immer verlieren, ist zweifellos eine erfolgreiche Strategie.

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