Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Freitag, 6. Dezember 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 33
Alfane

Der Sultan wußte gar wohl, daß jeder junge Herr an seinem Hofe ein kleines Häuschen habe; aber man berichtete ihm, daß auch einige Senatoren sich solcher Absteigequartiere bedienten, und das setzte ihn in Erstaunen. »Was machen sie da?« fragte er bei sich. Denn er wird in diesem Bande die Gewohnheit, mit sich selbst zu sprechen beibehalten, die er im ersten Bande angenommen hat. »Es scheint mir, ein Mann, dem ich die Ruhe, das Glück, die Freiheit und das Leben meines Volks vertraue, sollte kein geheimes Häuschen haben. Aber vielleicht ist das Häuschen eines Senators ein ganz ander Ding, als das eines Stutzers. Eine obrigkeitliche Person, die meiner Untertanen wichtigste Angelegenheiten in ihrer Obhut hat, die über das Los der Witwen und Waisen entscheidet, sollte der Würde ihres Standes und der Wichtigkeit ihres Amts vergessen? Und sollte sie, während ein redlicher Sachverwalter umsonst das Geschrei der Unterdrückten an ihre Ohren bringen läßt, unterdessen über den Ankauf wollüstiger Gemälde nachdenken, um die geheime Zuflucht ihrer Ausschweifungen damit auszuschmücken? Das kann nicht sein! Doch muß ich mich überzeugen.«

So sprach er und stand in Alcanto. Dort lag das Häuschen des Senators Hippomanes. Er tritt hinein, durchläuft die Gemächer, prüft die Einrichtung. Alles scheint ihm wollustatmend. Agesilas, der weichlichste, sinnlichste seiner Hofleute, trieb die Üppigkeit nicht weiter. Schon wollt' er wieder gehen, unschlüssig, was er denken sollte; denn am Ende waren die Ruhebetten, die Spiegelzimmer, die Sofas mit Sprungfedern, die Ambradüfte wohlriechender Wasser und alles übrige doch nur stumme Zeugen dessen, was er gern erfahren möchte; als er eine dicke Person, auf ein Sofa gestreckt, in tiefem Schlummer liegen sah. Gegen die drehte er seinen Ring und erfuhr von ihrem Kleinod folgende Nachrichten:

»Alfane ist die Tochter eines Rechtsgelehrten. Wäre ihre Mutter früher gestorben, so befände ich mich nicht hier. Die unermeßlichen Reichtümer ihrer Familie sind der alten Närrin durch die Finger gegangen und sie hat ihren vier Kindern beinahe nichts nachgelassen: dreien Söhnen und einer Tochter, deren Kleinod ich bin. Ach! das bin ich wohl zur Strafe für meine Sünden. Wie viel Schmach ich schon ausgestanden habe! Wie viel ich noch werde erdulden müssen! Die Welt sagt, ein Kloster schicke sich am besten für meiner Herrin Vermögen und Gestalt; aber ich fühlte sehr gut, es schickt sich nicht für mich. Ich zog die Kriegskunst dem Klosterleben vor, und ich machte meinen ersten Feldzug unter dem Emir Asalaf mit. Unter dem großen Nangasaki vervollkommnete ich mich. Aber ich ward des undankbaren Handwerkes überdrüssig, und vertauschte den Degen gegen das Richtergewand. Jetzt werd' ich also einem Schuft von Senator gehören, der sich seiner Verdienste rühmt, seines Witzes, seines Aussehens, seines Postzuges und seiner Ahnen. Ich erwarte ihn seit länger als einer Stunde. Er kommt wahrscheinlich noch, denn sein Kammerdiener hat mir gesteckt, es sei eine Grille von ihm, immer lange auf sich warten zu lassen.«

So weit war Alfanens Kleinod, als Hippomanes hereintrat. Vom Geräusch seines Wagens und dem Gebell eines Windspiels, das sein Liebling war, erwachte Alfane. »Endlich finde ich Sie, meine Königin!« sagte der kleine Präsident. »Es kostet viel Mühe Ihrer habhaft zu werden. Sagen Sie doch, wie gefällt Ihnen mein Häuschen? Nicht wahr, es darf sich sehen lassen?«

»Alfane spielte die einfältige, die furchtsame, die verzweifelte, als hätten wir nie ein heimliches Häuschen gesehn,« sagte ihr Kleinod, »und als hätt' ich nie eine Rolle bei ihren Abenteuern gespielt.« Sie rief mit Tränen: »Herr Präsident, für Sie setz' ich alles aufs Spiel! Meine Leidenschaft muß mich schrecklich verblenden, daß ich die Gefahr nicht sehe, worin ich mich stürze. Was würde die Welt von mir sagen, wenn sie mich hier wüßte?«

»Sie haben recht,« antwortete Hippomanes. »Dies ist ein zweideutiger Schritt. Aber verlassen Sie sich auf meine Verschwiegenheit.«
»Ich verlasse mich auch auf Ihre Bescheidenheit,« versetzte Alfane.
»Allerdings,« sagte Hippomanes grinsend, »werd' ich mich sehr bescheiden aufführen. Wer wird denn in einem heimlichen Häuschen sein und sich nicht fromm betragen? Straf mich Gott! Sie haben einen vollen Busen ...«
»Seien Sie doch artig,« antwortete Alfane, »Sie halten schon nicht Wort.«
»Ich will Wort halten,« erwiderte der Präsident, »aber Sie müssen mir auch Antwort geben. Wie gefällt Ihnen meine Einrichtung?« Dann wandte er sich gegen sein Windspiel: »Komm her, Favorite! Pfötchen, mein Liebling! Favorite ist ein gutes Tier. Wollen das Fräulein meinen Garten besehn? Die Aussicht von der Terrasse ist allerliebst. Es können mir zwar einige Nachbarn hineinsehn, aber denen sind Sie vielleicht nicht bekannt ...«
»Ich bin nicht neugierig, Herr Präsident,« antwortete Alfane empfindlich. »Mich deucht, wir sind hier besser.«
»Wie Sie befehlen,« versetzte Hippomanes. »Sind Sie müde, so ist da ein Bett. Wenn Sie irgend Lust haben, so rate ich Ihnen, es zu versuchen. Die junge Asteria, die kleine Fenisse, verstehn sich auf dergleichen und versichern, es sei gut.« In diesem unverschämten Ton sprach Hippomanes zu Alfane, zog ihr das Gewand über die Schultern, schnürte ihr das Mieder auf, löste die Bänder von ihren Röcken und streifte von zwei dicken Füßen zwei kleine Pantoffel ab.

Alfane war beinahe nackend, als sie bemerkte, daß Hippomanes sie entkleide. »Was tun Sie da?« rief sie erschrocken. »Was fällt Ihnen ein, Präsident? Ich werde im Ernst böse.«
»O! meine Königin,« sagte Hippomanes, »wie könnten Sie gegen einen Mann böse werden, der Sie so liebt wie ich? So wunderlich können Sie nicht denken. Darf ich Sie bitten, sich in dieses Bett zu legen?«
»In dieses Bett?« versetzte Alfane. »Ach! Herr Präsident, Sie mißbrauchen meine Zärtlichkeit. Ich soll mich in ein Bett legen? Ich? in ein Bett?«
»Nun, nun, meine Königin,« antwortete Hippomanes, »Sie sollen sich auch nicht von selbst hineinlegen; aber Sie erlauben schon, daß ich Sie hinführen darf, denn Sie begreifen wohl, daß ich bei Ihrer Figur keine Lust habe, Sie hinzutragen ...« Dennoch faßte er sie um den Leib und machte einen kleinen Versuch – »O, die wiegt!« sagte er. »Mein liebes Kind, wenn du dich nicht etwas leichter machst, so kommen wir nicht vorwärts!«

Alfane fühlte die Wahrheit dieser Worte, machte sich so leicht, wie sie konnte, und so gelang es ihr endlich, sich zu erheben und dem Bette, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte, halb freiwillig, halb durch Hippomanes gezogen, näher zu treten. Dabei stammelte sie geziert: »Wahrhaftig! ich war wohl nicht gescheit, hierher zu kommen. Ich rechnete auf Ihre Bescheidenheit, und Sie sind so unerhört ausgelassen.«
»Keineswegs,« antwortete der Präsident, »keineswegs! Sie sehn wohl, ich beobachte stets den Anstand, strengsten Anstand.«

Vielleicht sagten sie sich noch tausend artige Sächelchen. Aber der Sultan hielt nicht für ratsam, ihrem Gespräch länger zuzuhören, und so ging es für die Nachwelt verloren. Das ist schade!


Ein ungalanter Richter.

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Mittwoch, 4. Dezember 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 32
Die Wette

Seit Mangogul Cucufas Zaubergeschenk erhalten hatte, waren die Lächerlichkeiten und Laster der Weiber der ewige Gegenstand seines Spottes. Darin konnte er sich gar nicht genug tun, und das langweilte die Favorite oftmals. Aber Langeweile brachte bei der Sultanin, sowie bei sehr vielen andern Damen zwei grausame Wirkungen hervor: sie ward verdrießlich und mischte Bitterkeit in ihre Reden. Dann wehe denen, die ihr zu nahe kamen; sie machte keinen Unterschied und verschonte selbst den Sultan nicht.

»Gnädigster Herr,« sagte sie eines Tages in solch einem Anfall von Verdruß, »Sie wissen so vieles, aber vielleicht wissen Sie nicht die Neuigkeit des Tages.« – »Was wäre das?« fragte der Sultan. – »Man sagt, Ihre Hoheit lernten alle Morgen drei Seiten Histörchen aus Brantôme oder Quville: denn noch ist man nicht einig, welches klassische Werk bei Ihnen den Vorzug hat.« – »Man irrt sich, Madam,« sagte Mangogul, »ich lese meinen Crébillon ...« – »O Sie dürfen sich jener Leserei nicht schämen,« unterbrach ihn die Favorite. »Die neuen Bosheiten, die man über uns schreibt, sind so geschmacklos, daß man weit besser tut, die alten aufzuwärmen. Es stehn wahrlich sehr hübsche Sachen in diesem Brantôme: verbinden Sie mit diesen Geschichten drei oder vier Kapitel aus Bayle, und Sie werden sich augenblicklich ebensowitzig finden, als den Marquis D .... und den Chevalier de Mouhi. Das würde eine erstaunliche Mannigfaltigkeit in Ihre Unterhaltung bringen. Wenn Sie die armen Weiber ganz in die Pfanne gehauen hätten, so würden Sie auf die Pagoden verfallen, von den Pagoden kämen Sie auf die Weiber zurück. Wahrlich, Ihnen fehlt nichts als eine kleine Sammlung Gotteslästerungen, um ein vollkommen guter Gesellschafter zu sein.«

»Sie haben ganz recht, Madame,« antwortete Mangogul, »und ich werde sie mir kommen lassen. Wer in dieser und jener Welt nicht betrogen sein will, kann gegen die Macht der Pagoden, die Rechtschaffenheit der Männer und die Sittsamkeit der Weiber nicht genug auf seiner Hut bleiben.«

»Diese Sittsamkeit,« versetzte Mirzoza, »ist nach Ihrer Meinung also wohl etwas Zweideutiges?« »Weit mehr, als Sie glauben,« antwortete Mangogul.

»Fürst,« erwiderte Mirzoza, »Sie haben mir Ihre Minister hundertmal als die rechtschaffensten Männer von Congo angepriesen. Ich habe die Lobreden auf Ihren Seneschall, auf die Statthalter Ihrer Provinzen, auf Ihre Geheimschreiber, auf Ihren Schatzmeister, kurz auf alle Ihre Staatsdiener, so oft anhören müssen, daß ich sie Ihnen Wort für Wort wiederholen kann. Es ist sonderbar, daß der Gegenstand Ihrer Zuneigung, unter allen, die die Ehre haben, sich Ihnen zu nähern, allein von Ihrer guten Meinung ausgeschlossen sein soll.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« versetzte der Sultan. »Bedenken Sie doch, Madame, daß alles, was ich Wahres oder Falsches von den Weibern behaupte, Sie nichts angeht; Sie müßten sich denn einfallen lassen, Ihr ganzes Geschlecht darzustellen.«

»Das wollt' ich der gnädigen Frau nicht raten,« sagte Selim, der bei dem Gespräch zugegen war, »dabei könnte sie nichts gewinnen als Fehler.«

»Ich nehme keine Schmeichelei an,« erwiderte Mirzoza, »die man auf Kosten meines Geschlechts macht. Wer mich loben will, muß keine andre deswegen herabsetzen. Die meisten schönen Worte, die man an uns verschwendet, gleichen den kostbaren Festen, die Ihrer Hoheit Paschas Ihnen geben: das Publikum muß sie immer bezahlen.«

»Reden wir nicht davon,« sprach Mangogul. »Aber gestehen Sie aufrichtig, sind Sie noch nicht überzeugt, daß die weibliche Tugend in Congo ein Hirngespinst sei? Sehn Sie nur, Wonne meines Lebens, auf die heutige Erziehung, auf das Beispiel, das die jungen Mädchen von ihren Müttern erhalten, auf das Vorurteil, das man einer hübschen Frau beibringt, als führe sie ein trauriges Leben, als sterbe sie vor Langeweile und begrabe sich lebendig, wenn sie sich fein zu Hause hält, um die Wirtschaft bekümmert und nur für ihren Mann da ist. Und dann sind wir Männer so unternehmend, und ein junges Kind ohne Erfahrung ist außer sich vor Freuden, daß ihr jemand nachstellt. Ich habe behauptet, sittsame Weiber wären selten, außerordentlich selten: und so weit bin ich entfernt, das zurückzunehmen, daß ich gern hinzusetze, es ist zu verwundern, daß sie nicht noch seltener sind. Fragen Sie Selim, was er davon denkt.«

»Fürst,« antwortete Mirzoza, »Selim ist unserem Geschlecht zu viel Dank schuldig, um es ohne Erbarmen zu verlästern.«

»Gnädige Frau,« sagte Selim, »Seine Hoheit konnte unmöglich eine Dame unerbittlich finden, und muß also natürlicherweise so von den Weibern denken, wie er denkt. Sie aber haben die Güte, andre nach sich zu beurteilen, und können also keine andre Meinung haben, als die Sie verteidigen. Ich muß indessen gestehn, ich bin geneigt zu glauben, daß es verständige Frauenzimmer gibt, denen die Vorzüge der Tugend aus Erfahrung bekannt sind, und denen ihr Nachdenken die unangenehmen Folgen eines Fehltritts gezeigt hat. Sicherlich finden sich Frauenzimmer, glücklich organisiert und wohlerzogen, die ein Gefühl für ihre Pflicht haben, zu lieben, und nie von ihr ablassen werden.« »Was brauchen wir uns in Abstraktionen zu verlieren?« setzte die Favorite hinzu, »ist nicht die lebhafte, liebenswürdige, reizende Aglae gleichzeitig ein Muster von Sittsamkeit? Fürst, daran können Sie nicht zweifeln, ganz Banza weiß es aus Ihrem Munde. Gibt es aber eine sittsame Frau, so mag es ihrer tausend geben.«

»O!« sagte Mangogul, »gegen die Möglichkeit hab' ich nichts einzuwenden.«

»Gestehn Sie diese Möglichkeit ein,« versetzte Mirzoza, »wer offenbart Ihnen dann, daß sie nicht wirklich vorhanden sind?«

»Niemand als ihr Kleinod,« antwortete der Sultan. »Ich gebe allerdings zu, dieses Zeugnis ist minder stark als Ihr Beweisgrund. Ich will zum Maulwurf werden, wenn Sie den nicht einem Brahminen ablernten! Lassen Sie den Kaplan der Manimonbonda rufen, und er wird Ihnen sagen, daß Sie mir das Dasein der sittsamen Frau ungefähr ebenso bewiesen haben, wie die Brahminologie das Dasein Brahmas beweist. Wurden Sie vielleicht in dieser erhabnen Schule erzogen, ehe Sie in den Harem kamen?«

»Bitte, keine schlechten Scherze,« erwiderte Mirzoza. »Ich berufe mich ja nicht bloß auf die Möglichkeit, sondern auf eine Tatsache der Erfahrung.«

»Ja,« fuhr Mangogul fort, »auf eine verstümmelte Tatsache, auf eine Erfahrung, die einzeln dasteht. Und ich habe eine Menge Versuche für mich, die Ihnen bekannt sind. Aber ich will Ihren Unwillen durch langen Widerspruch nicht vermehren.«

»Es ist ein Glück,« sagte Mirzoza verdrießlich, »daß Sie nach Verlauf von zwei Stunden müde werden, mich zu verfolgen.«

»Hab' ich diesen Fehler begangen,« antwortete Mangogul, »so will ich versuchen, ihn wieder gut zu machen. Ich begebe mich aller meiner vergangenen Siege, Madame, und findet sich in der Reihe der Prüfungen, die ich noch anstellen werde, eine einzige Frau, die wahrhaftig und anhaltend sittsam ist ...« – »Was wollen Sie dann tun?« unterbrach ihn Mirzoza hastig.

»So werde ich, wenn Sie wollen, öffentlich bekanntmachen, daß mich Ihr Beweis über die Möglichkeit sittsamer Weiber entzückt; so unterstütz' ich Ihre Logik mit aller Macht; so schenk ich Ihnen mein Lustschloß Amana nebst allem sächsischen Porzellan, womit es geziert ist, ohne den emaillierten Wickelschwanzaffen auszunehmen und all den übrigen Kram dazu, den ich von Madame de Véru gekauft habe.«

»Fürst, ich werde mich mit dem Porzellan des Schlosses und dem kleinen Wickelschwanzaffen begnügen.«

»Es gilt,« sagte Mangogul, »Selim sei Schiedsrichter. Ich verlange nur einige Zeit, um selbst Aglaens Kleinod zu befragen. Man muß doch der Hofluft und der Eifersucht des Mannes etwas Zeit lassen zu wirken.«

Mirzoza gestand dem Sultan einen Monat zu; er hatte nur halb so viel begehrt, und beide schieden voller Hoffnung voneinander. Ganz Banza hätte für und wider sie gewettet, wenn des Sultans Versprechen ruchbar geworden wäre. Aber Selim schwieg, und Mangogul schickte sich heimlich an, zu gewinnen oder zu verlieren. Er verließ eben das Gemach der Favorite, als sie ihm aus dem Zimmer nachrief: »Fürst ...! Und den kleinen Wickelschwanzaffen!« »Und den kleinen Wickelschwanzaffen,« antwortete Mangogul, indem er sich entfernte. Er begab sich von da in das kleine Haus eines Senators, wohin wir ihm folgen.

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Montag, 2. Dezember 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 31
Zweites Bändchen

Motto
Non sine diis animosus
(Horaz)

Nicht ohne göttliche Leidenschaft (wenn jemand einigermaßen Latein beherrscht: bitte korrigieren)

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Freitag, 29. November 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 30
Das stumme Kleinod

Unter allen Damen, die am Hofe des Sultans glänzten, hatte keine mehr Anmut und Witz, als die junge Aglae, Gemahlin des Ober-Mundschenks Seiner Hoheit. Sie war immer bei Mangoguls Gesellschaften, der ihre gefällige Unterhaltung liebte; und als ob Freude und Vergnügen nur da wohnten, wo sich Aglae befände, ward auch Aglae bei jeder Gesellschaft der Großen seines Hofes zugezogen. Bei Bällen, Schauspielen, Versammlungen, Gastmählern, Abendmahlzeiten, Jagden, Spielen, überall wollte man Aglae haben, und man traf sie auch überall. Es schien, als ob der Geschmack an Unterhaltung sie so allgegenwärtig machte, als das Verlangen nach ihr. Ich darf also nicht erst sagen, daß kein Frauenzimmer so überall gesucht und so überall zu finden war als Aglae.

Immer ward sie von einer Menge Anbeter verfolgt, und man war überzeugt, sie habe nicht alle verschmachten lassen. Aus Unvorsichtigkeit oder Gefälligkeit sah das, was sie als bloße Höflichkeit meinte, oftmals einer ausgezeichneten Achtung ähnlich; und die, welche ihr zu gefallen strebten, redeten sich zuweilen ein, ihr Blick sei zärtlich, wo sie an weiter nichts dachte, als sich freundlich zu erweisen. Sie war weder bissig noch schadenfroh und öffnete den Mund nur, um etwas Verbindliches zu sagen. Das geschah aber mit so vieler Empfindung und Lebhaftigkeit, daß ihre Lobsprüche mehrmals den Verdacht erregten, als habe sie eine Wahl zu rechtfertigen.

Das heißt, diese Welt, deren Zierde und Freude Aglae ausmachte, war ihrer nicht wert.

Man konnte glauben, ein Frauenzimmer, an der man vielleicht nur ein Übermaß von Gutherzigkeit aussetzen durfte, müsse keine Feinde gehabt haben. Und doch hatte sie welche, und zwar grausame. Die Betschwestern von Banza fanden ihr Betragen zu frei, ihr Benehmen ein wenig zu ausgelassen, ihre ganze Aufführung ein ewiges Streben nach den Freuden der Welt: schlossen daraus, ihre Sitten müßten wenigstens zweideutig sein, und waren so menschenfreundlich, das einem jedem zuzuflüstern, der es hören wollte.

Die Hofdamen behandelten sie nicht besser. Sie dachten Arges von Aglaes Verbindungen, meinten, sie hätte Liebhaber, ließen sie gar in einigen Abenteuern eine Hauptrolle, in anderen eine Nebenrolle spielen. Man wußte die kleinsten Umstände, man nannte Zeugen. »Jaja,« so raunte man sich ins Ohr, »neulich wurde sie bei einem Stelldichein mit Melraim in einem Boskett des großen Parks überrascht.« »Aglae hat Verstand,« setzte man hinzu, »aber Melraim noch viel mehr, um sich mit bloßen Worten zu begnügen um zehn Uhr abends in einem Boskett.« – »Da irren Sie sich,« antwortete ein Stutzer, »ich bin wohl in der Dämmerung mit ihr hundertmal spazieren gegangen und habe mich ganz gut dabei unterhalten. Wissen Sie übrigens, daß Sulemar immer in ihrem Ankleidezimmer sitzt?« – »Freilich wissen wir das, und daß sie sich immer nur anzieht, wenn ihr Gemahl beim Sultan Dienst hat.« – »Der arme Celebi,« fuhr eine andre fort, »wahrhaftig, seine Frau bringt ihn ins Gerede mit dem Diadem und dem Ohrgehänge, das ihr der Pascha Ismael geschenkt hat.« – »Wissen Sie das gewiß, gnädige Frau?« – »Ganz gewiß, von ihr selbst. Aber um Brahmas willen, nichts weitersagen! Aglae ist meine Freundin, es sollte mir sehr leid thun.« – »Ach,« rief eine dritte bekümmert aus, »das arme kleine Weibchen rennt mutwillig in ihr Verderben. Es ist doch schade! Aber zwanzig Liebhaber auf einmal! Wer kann das aushalten?«

Die Stutzer schonten ihrer ebensowenig. Einer erzählte von einer Jagd, auf der sie sich zusammen verirrt hätten. Ein andrer verschwieg aus Achtung für ihr Geschlecht die Folgen eines sehr lebhaften Gesprächs, das er auf einem Maskenballe mit ihr geführt hatte. Ein dritter lobte ihren Witz und ihre Reize und zeigte schließlich ein Miniaturbild von ihr, das ihm, wie er zu verstehn gab, aus den besten Händen kam. »Es ist viel ähnlicher,« sagt' er, »als das, was sie Jenaki gegeben hat.«

Diese Reden kamen endlich vor ihren Gemahl. Celebi liebte seine Frau, aber freilich mit Anstand, und ohne daß man das geringste dabei fand. Den ersten Nachrichten maß er keinen Glauben bei. Aber man wiederholte sie so oft und von so vielen Seiten, daß er endlich glaubte, seine Freunde seien scharfsichtiger als er. Je mehr Freiheit er Aglaen verstattet hatte, desto leichter argwöhnte er, daß sie ihrer mißbraucht habe. Eifersucht bemächtigte sich seiner Seele. Er fing an seine Frau einzuschränken. Aglae ertrug dieses veränderte Verfahren um so ungeduldiger, als sie sich unschuldig fühlte. Ihre Lebhaftigkeit und guter Freundinnen Rat bewogen sie zu unüberlegten Schritten, so daß sie sich scheinbar ins Unrecht setzte und beinahe ums Leben gekommen wäre. Der heftige Celebi überlegte heimlich tausend Anschläge der Rache durch Stahl, Gift oder Strang und entschloß sich endlich, sie eine langsamere, grausamere Strafe erdulden zu lassen: Verbannung auf seine Güter. Das ist der wahre Tod für eine Dame vom Hofe. Kurz und gut, der Befehl ist bald gegeben, eines Abends erfährt Aglae ihr Schicksal; man bleibt unempfindlich gegen ihre Tränen, taub gegen ihre Rechtfertigung, und so wird sie achtzig Meilen weit von Banza in ein altes Schloß verbannt, wo man ihr keine andre Gesellschaft läßt, als zwei alte Weiber und vier schwarze Verschnittene, die sie nicht aus den Augen verlieren.

Kaum war sie entfernt, so war sie unschuldig. Die Stutzer vergaßen ihre Liebeshändel, die Damen verziehen ihrem Witz und ihren Reizen, die ganze Welt beklagte sie. Mangogul erfuhr aus Celebis' eignem Munde, warum er ein so schreckliches Urteil gesprochen habe, und war der einzige, der ihm recht zu geben schien.

Seit sechs Monaten schmachtete die unglückliche Aglae in ihrer Verbannung, als sich das Abenteuer mit Kersael ereignete. Mirzoza wünschte sie unschuldig zu finden, wagte es aber kaum zu hoffen. Doch sprach sie eines Tages zum Sultan: »Fürst, Ihr Ring hat Kersaels Leben erhalten, vielleicht könnt' er Aglaens Verbannung ein Ende machen? Aber was fällt mir ein! Da müßten Sie ja ihr Kleinod befragen, und die arme Gefangene stirbt achtzig Meilen von hier vor langer Weile.« »Geht Ihnen Aglaes Schicksal sehr zu Herzen?« fragte Mangogul. »Ja, gnädigster Herr, vornehmlich, wenn sie unschuldig sein sollte,« antwortete Mirzoza. »Das sollen Sie wissen, ehe eine Stunde vorüber ist,« erwiderte Mangogul. »Erinnern Sie sich nicht an die Eigenschaften meines Ringes?« Mit diesen Worten begab er sich in seinen Garten, drehte den Ring und befand sich fünfzehn Minuten darauf in dem Lustwäldchen des Schlosses, das Aglae bewohnte.

Dort sah er Aglae einsam und in Gram versunken. Ihr Kopf stützte sich auf ihre Hand, sie nannte zärtlich den Namen ihres Gemahls, ihre Tränen strömten auf den Rasen, worauf sie saß. Mangogul nahte sich ihr und drehte seinen Ring. Traurig sprach Aglaens Kleinod: »ich liebe Celebi.« Der Sultan erwartete, was noch kommen würde, aber es kam nichts weiter. Deswegen hielt er sich an seinen Ring, rieb ihn einigemal gegen seinen Turban und kehrte ihn dann wieder gegen Aglae. Aber seine Mühe war vergebens. Das Kleinod sprach wieder: »ich liebe Celebi,« und schwieg. »Ist das ein verschwiegenes Kleinod!« sagte der Sultan. »Wir müssen doch noch einmal sehen und den Stein etwas fester reiben.« Zu gleicher Zeit gab er seinem Ring allen Nachdruck, dessen er fähig war, und drehte ihn plötzlich auf Aglae, aber ihr Kleinod blieb stumm. Und so schwieg es beständig fort, oder wiederholte höchstens im Klageton: »ich liebe Celebi, und nie hab‹ ich einen andern geliebt!«

Mangogul fand sich darein und kehrte in fünfzehn Minuten zur Favorite zurück. »Wie, gnädigster Herr,« sagte sie, »Sie sind schon wieder da? Was haben Sie erfahren? Gibt es Stoff für unsre Unterhaltung?« »Ich bringe nichts mit,« antwortete der Sultan. – »Nichts. – Ganz und gar nichts. Ein so stummes Kleinod ist mir niemals vorgekommen. Kein Wort ist aus ihm herauszubringen als: ich liebe Celebi, und nie hab' ich einen andern geliebt'.« »Ach! gnädigster Herr,« erwiderte Mirzoza lebhaft, »was sagen Sie mir da? welche fröhliche Nachricht! Das also ist endlich eine sittsame Frau! Soll sie länger unglücklich bleiben?« »Nein,« antwortete Mangogul, »ihre Verbannung wird ein Ende nehmen; aber fürchten Sie nicht, daß ihre Tugend darunter leiden werde? Aglae ist sittsam, aber, Wonne meines Herzens, sehn Sie, was Sie verlangen? ich soll sie zurückberufen, und sie soll es bleiben? Doch Ihr Wille geschehe!«

Sogleich ließ der Sultan Celebi vor sich kommen und sagte ihm, er habe den über Aglae verbreiteten Gerüchten nachgeforscht und sie alle als falsch und verleumderisch erkannt; er befehle ihm, sie an seinen Hof zurückzubringen. Celebi gehorchte und stellte seine Frau dem Sultan vor. Sie wollte sich Seiner Hoheit zu Füßen werfen, aber Mangogul tat ihr Einhalt: »Madam,« sagte er, »Ihr Dank gebührt Mirzoza. Ihre Freundschaft für Sie hat mich vermocht, die Wahrheit der Tatsachen zu untersuchen, die man Ihnen zur Last legte. Fahren Sie fort, meinen Hof zu verschönern, aber erinnern Sie sich, daß eine hübsche Frau sich durch Unvorsichtigkeit zuweilen ebensosehr schadet, als durch wirkliche Abenteuer.«

Tags darauf erschien Aglae bei der Manimonbanda, die sie mit einem Lächeln empfing. Die Stutzer taten noch einmal so albern gegen sie als zuvor; die Damen eilten sie zu umarmen, ihr Glück zu wünschen, und fingen wieder an, sie zu zerpflücken.


Vor böswilligem Tratsch ist auch die Liebe nicht gefeit. Die Geschichte scheint auf eine Sittenlehre, eine Sexualmoral hinauszulaufen.




Ende des ersten Bändchens

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Mittwoch, 27. November 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 29
Träume eines Geistersehers

»Ach!« sagte Mangogul, gähnte und rieb sich die Augen, »mir tut der Kopf weh! Daß sich keiner wieder unterstehe, mir etwas vorzuphilosophieren! Solche Gespräche sind ungesund. Gestern leg ich mich mit solchen krausen Gedanken nieder, und anstatt zu schlafen wie ein Sultan, hat mein Gehirn mehr gearbeitet, als die meiner Staatsminister in einem Jahre. Sie lachen, aber ich will Ihnen beweisen, daß ich nicht übertreibe! Ich will mich für die üble Nacht rächen, die Ihre Vernünfteleien mir zugezogen haben. Sie sollen meinen ganzen Traum zu hören bekommen. So wie ich anfing einzuschlafen, erwachte meine Einbildungskraft. Ich sah ein seltsames Tier mir zur Seite sich tummeln. Es hatte den Kopf des Adlers, die Füße des Greifen, den Leib des Pferdes und den Schweif des Löwen. Ich ergriff es trotz seiner Sprünge, hielt mich an seine Mähne und schwang mich leicht auf seinen Rücken. Sogleich breitete es lange Fittige aus, die aus seinen Seiten drangen, und ich fühlte mich mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luft getragen.

Wir waren schon lange unterwegs, als ich mitten im freien luftigen Raum ein Gebäude sah, als schwebt' es durch Zauberkraft. Es war sehr groß. An seiner Grundlage konnte man nichts aussetzen, denn es stand auf nichts. Seine Säulen, die nur einen halben Fuß dick waren, erhoben sich so hoch, daß man ihr Ende nicht absehen konnte, und unterstützten Gewölbe, die man nicht mehr erkannt haben würde, wenn nicht durch ihre gleichmäßigen Öffnungen Licht gefallen wäre.

Am Eingange dieses Gebäudes hielt mein Träger still. Anfangs schwankte ich, abzusteigen; denn wirklich schien es mir minder gefährlich, auf diesem Pferdegreif herumzufliegen, als in jenen Hallen zu lustwandeln. Indessen die Volksmenge, die ich dort erblickte, und das hohe Bewußtsein von Sicherheit, das ich auf ihren Gesichtern las, ermutigten mich. Ich steige ab, gehe näher, mische mich in das Gedränge und betrachte die, woraus es bestand.

Es waren aufgedunsene Greise ohne festes Fleisch, ohne Kraft und beinahe alle mißgestaltet. Einer hatte einen zu kleinen Kopf, ein anderer zu kurze Arme, dem fehlte es an Rumpf, jenem an Beinen. Die meisten hatten keine Füße und gingen auf Krücken. Ein Hauch warf sie um, und dann blieben sie auf der Erde liegen, bis es einem Neuangekommenen gefiel, sie aufzuheben. Trotz aller dieser Fehler gefielen sie beim ersten Anblick. Sie hatten in ihren Gesichtszügen etwas Anziehendes und Kühnes. Sie waren fast nackend, denn ihre ganze Kleidung bestand aus einem kleinen Tuchlappen, der nicht ein Hundertteilchen ihres Körpers bedeckte.

Ich dränge mich weiter durch und gelange endlich zu den Füßen einer Tribüne, der ein großes Spinnengewebe zum Baldachin diente. Übrigens war sie nicht minder kühn aufgeführt als das Gebäude, zu dem sie gehörte. Sie schien mir auf einer Nadelspitze zu ruhen und sich im Gleichgewicht darauf zu erhalten. Hundertmal zitterte ich für den, der darauf stand. Es war dies ein Greis mit langem Bart, ebenso hager und viel nackter noch als seine Schüler. Er tauchte einen Strohhalm in einen Becher voll feiner flüssiger Materie, setzte ihn an den Mund und blies Blasen auf eine Menge Zuschauer hinab, die ihn umgaben und sich abmühten, diese Blasen hoch in die Wolken zu treiben.

›Wo bin ich?‹ fragte ich mich, durch solche Kindereien verwirrt. ›Was will dieser Bläser mit seinen Blasen? Was all diese verlebten Knaben, die sie in die Höh treiben? Wer wird mir dies alles erklären?‹ Auch die kleinen Tuchfetzen hatten mich in Erstaunen versetzt. Je größer sie waren, hatt' ich beobachtet, desto weniger bekümmerten sich die, welche sie trugen, um die Blasen. Diese sonderbare Wahrnehmung gab mir den Mut, denjenigen anzureden, der mir am wenigsten unbekleidet scheinen würde.

Einen erblickt' ich, dessen Schultern durch so künstlich zusammengenähte Lappen halbbedeckt waren, daß man es gar nicht sah. Er ging im Gedränge hin und her und bekümmerte sich wenig um das, was geschah. Sein Ansehn war freundlich, sein Mund lachend, sein Gang edel, sein Blick sanft. Ich trat gerade auf ihn zu. ›Wer sind Sie? Wo bin ich, und wer sind alle diese Leute?‹ fragt' ich ihn ohne alle Umschweife ... ›Ich bin Plato,‹ antwortete er. ›Sie sind im Reich der Hypothesen. Jene Leute sind Systematiker.‹ ›Aber durch welchen Zufall‹, fragt' ich, ›befindet sich der göttliche Plato hier? Was sucht er unter den Unsinnigen?‹ ›Rekruten,‹ antwortete er mir. ›Weit von dieser Halle hab' ich ein kleines Heiligtum, wohin ich diejenigen führe, die von den Systemen zurückkommen.‹ – ›Und womit beschäftigen Sie sie?‹ –›Den Menschen kennenzulernen, Tugenden zu üben und den Grazien zu opfern.‹ – ›Das ist schön. Aber was bedeuten alle diese kleinen Tuchlappen, wodurch Sie mehr Bettlern als Philosophen ähnlich sehen?‹ – ›Was fragen Sie mich?‹ sprach er seufzend. ›Welche Erinnerung wecken Sie in mir? Dies war vormals der Tempel der Philosophie. Leider ist jetzt die Stätte sehr verändert. Hier stand einst der Lehrstuhl des Sokrates.‹ – ›Was sagen Sie?‹ unterbrach ich ihn. ›Hatte auch Sokrates einen Strohhalm? und blies er gleichfalls Seifenblasen?‹ – ›Nein, nein,‹ antwortete Plato. ›Nicht auf die Art verdiente er sich von den Göttern den Namen des weisesten Menschen. Solang' er lebte, beschäftigte er sich damit, Köpfe zu machen und Herzen zu bilden. Mit seinem Tode ging sein Geheimnis verloren. Sokrates starb, und das schöne Zeitalter der Philosophie war zu Ende. Diese Stoffteilchen, die zu tragen selbst die Systematiker sich zur Ehre anrechnen, sind Fetzen seines Gewandes. Kaum hatte er die Augen geschlossen, als die, welche auf den Titel Philosophen Anspruch machten, sich über seinen Mantel herwarfen und ihn zerrissen.‹ ›Ich verstehe,‹ sagt' ich, ›und diese Lappen dienten ihnen und ihrer Nachkommenschaft zum Abzeichen.‹ ›Wer wird diese Stücke zusammenlesen,‹ fuhr Plato fort, ›und Sokrates' Mantel uns wiedergeben?‹

So rief er feierlich, als ich in der Ferne ein Kind sah, das mit langsamen, aber sichern Schritten auf uns zuging. Sein Kopf war klein, sein Leib dünn, die Arme schmächtig, die Beine kurz. Aber alle seine Gliedmaßen wurden stärker und länger, wie es näher trat. In diesem Fortschritt seines allmählichen Wachstums erschien es mir unter hunderterlei Gestalten. Ich sah es ein langes Sehrohr gegen den Himmel richten, mit einem Pendel den Fall der Körper bestimmen, mit einer quecksilbergefüllten Röhre die Schwere der Luft abmessen und durch ein Prisma in seiner Hand die Lichtstrahlen zerlegen. Dann ward es ein ungeheurer Koloß; sein Haupt reichte zum Himmel, seine Füße verloren sich in den Abgrund, seine Arme umfaßten beide Pole. In der Rechten schwang es eine Fackel, deren Glanz sich weit in die Luft verbreitete, tief unten die Gewässer erhellte und in die Eingeweide der Erde drang. ›Wer ist diese Riesengestalt,‹ fragt' ich den Plato, ›die auf uns zukommt?‹ ›Erkennen Sie die Erfahrung,‹ erwiderte er. ›Sie ist es selbst.‹ Kaum hatte er diese kurze Antwort gegeben, als ich die Erfahrung näher treten sah. Und die Säulen der Hypothesenhalle wankten, ihr Gewölbe senkte sich, ihr Fußboden öffnete sich unter unseren Füßen. ›Fliehn wir,‹ sagte Plato wieder ›dies Gebäude steht keinen Augenblick länger!‹ Er geht, ich folge ihm. Der Koloß kommt an, zertrümmert die Halle, sie stürzt mit schrecklichem Geräusch zusammen, und ich erwache.«

»O Fürst,« rief Mirzoza, »wer kann träumen wie Sie? Ich hätte Ihnen gern eine geruhige Nacht gegönnt, aber jetzt, da ich Ihren Traum weiß, täte es mir sehr leid, wenn Sie nicht geträumt hätten.« »Madame,« sagte Mangogul, »ich habe doch bessere Nächte verbracht, als mit diesem Traum, der Ihnen so sehr gefällt. Hätte ich meine Reise bestimmen können, so würde ich meinen Lauf schwerlich in das Land der Hypothesen gerichtet haben, wo ich nicht hoffen durfte, Ihnen zu begegnen. Dann empfänd' ich auch die Kopfschmerzen nicht, die mir jetzt zu schaffen machen, oder wenigstens hätt' ich Ursache, mich darüber zu trösten.«

»Gnädigster Herr,« antwortete Mirzoza, »es steht zu hoffen, die werden nicht viel zu sagen haben, und ein oder zwei Versuche Ihres Ringes werden Sie davon befreien.« »Das wird die Zukunft lehren,« sagte Mangogul. Die Unterhaltung zwischen dem Sultan und Mirzoza dauerte noch einige Augenblicke. Er verließ sie erst gegen elf Uhr, um sich dahin zu begeben, wo wir ihn im folgenden Abschnitt antreffen werden.


Erfahrung und Spekulation. Erkenntnistheorie unterum.

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Montag, 25. November 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 28
Die kleine Stute

Ich bin kein großer Porträt-Maler. Die Schilderung der Favoritsultanin hab' ich dem Leser erlassen, aber die Schilderung der Stute des Sultans kann ich ihm unmöglich schenken. Sie war von mittlerer Größe und trug sich sehr gut, nur fand man an ihr auszusetzen, daß sie den Kopf ein wenig vornübersenkte. Sie war blondhaarig, blauäugig, die Füße klein, die Beine mager, die Schenkel fest, die Kruppe leicht. Sie hatte lange tanzen gelernt und machte ihre Verbeugung wie ein Weihbischof. Kurz, es war ein ganz niedliches Tier, besonders sehr sanft, ließ gut aufsitzen, aber man mußte ein vortrefflicher Reiter sein, um nicht von ihr aus dem Sattel geworfen zu werden. Sie gehörte vordem dem Senator Aaron; aber an einem schönen Nachmittage nimmt der kleine Eigensinn den Zaum zwischen die Zähne, wirft Seine Wohlweisheit ab in die Luft, daß er alle viere von sich streckte, und jagt mit verhängtem Zügel in die Stuterei des Sultans. Sie trug auf ihrem Rücken Sattel, Zaum, Geschirr, Schabracke und Fliegennetz mit sich fort. Das war alles sehr kostbar und stand ihr so wohl, daß man nicht für gut fand, es zurückzuschicken.

Mangogul ging in seinen Marstall hinab. Sein Geheimschreiber Zikzak begleitete ihn. »Hören Sie aufmerksam zu,« sprach der Sultan, »schreiben Sie!« Sogleich drehte er seinen Ring gegen die Stute. Sie fing an zu springen, die Beine übereinanderzuwerfen, hinten auszuschlagen, sich im Kreise herumzudrehen und unter dem Schweif zu wiehern. »Worauf warten Sie?« sagte der Sultan zu seinem Geheimschreiber. »Schreiben Sie doch!« »Sultan,« antwortete Zikzak, »ich warte nur auf Ew. Hoheit ...« »Meine Stute,« sagte Mangogul, »wird Ihnen diesmal statt meiner diktieren.« »Schreiben Sie!« Zikzak hielt sich durch diesen Befehl zu sehr herabgesetzt. Er wagte dem Sultan vorzustellen, er werde sich immer sehr geehrt finden, sein Geheimschreiber zu sein, aber nicht der seiner Stute. »Schreiben Sie, sag ich,« wiederholte der Sultan. »Ich kann nicht, gnädigster Herr,« antwortete Zikzak. »Ich kann nicht die Rechtschreibung dieser Art Worte.« »Schreiben Sie immer!« sagte der Sultan. »Ich möchte verzweifeln, daß ich Ihrer Hoheit nicht gehorchen kann,« erwiderte Zikzak, »aber ...« »Sie sind ein Hundsfott,« unterbrach ihn der Sultan, voll Zorn über die übel angebrachte Weigerung. »Packen Sie sich fort aus meinem Palast und kommen Sie mir nie wieder herein.«

Der arme Zikzak verschwand und lernte durch Erfahrung, daß ein Mann, dem das Herz auf dem rechten Flecke sitzt, sich den meisten Großen nicht nahen darf, oder seine Grundsätze vor ihrer Tür zurücklassen muß. Man rief den zweiten Kanzelisten. Es war ein offenherziger, ehrlicher, besonders aber sehr uneigennütziger Provenzale. Er eilte, wohin er glaubte daß Pflicht und Glück ihn beriefen, beugte sich tief in den Staub vor dem Sultan, noch tiefer vor der Stute und schrieb alles nieder, was der Mähre einfiel, ihm in die Feder zu sagen.

Man wird mir erlauben, die neugierigen Leser deshalb an das Archiv von Congo zu verweisen. Der Sultan ließ sogleich Abschriften dieser Aussage an alle Dolmetscher und Lehrer ausländischer alter und neuer Sprachen verteilen. Einer sagte, es wären Auftritte aus alten griechischen Trauerspielen, die ihm ungemein rührend schienen. Ein anderer brachte es mit vielem Kopfzerbrechen so weit, ein wichtiges Bruchstück alter ägyptischer Glaubenslehren darin zu entdecken. Dieser behauptete, es sei der Eingang einer punischen Leichenrede auf Hannibal. Jener versicherte, es sei ein Gebet an Confuzius' altchinesischer Schrift.

Über diese gelehrten Mutmaßungen verlor der Sultan die Geduld, erinnerte sich an Gullivers Reisen und zweifelte nicht, daß ein Mann, der so lange wie dieser Engländer auf einer Insel lebte, wo die Pferde eine Staatsverwaltung haben, Gesetze, Könige, Götter, Priester, Gottesdienst, Tempel und Altäre, der von ihren Sitten und Gebräuchen so vollkommen unterrichtet scheine, auch ihre Sprache vollkommen verstehen müßte. In der Tat, Gulliver las und erklärte die Aussage der Stute sehr geläufig, wiewohl sie von Schreibfehlern wimmelte. Seine Übersetzung ist die einzig gute, die man in Congo findet. Mangogul erfuhr zu seiner Befriedigung und zur Ehre seines Systems, daß es ein kurzer historischer Abriß der Liebesgeschichte eines dreischweifigen Paschas mit einer kleinen Stute war, die schon eine unendliche Menge Esel vor ihm besprungen hatten. Die Nachricht klingt sonderbar, aber daß sie wahr sei, wußte der Sultan, der Hof, ganz Banza und das ganze Reich ohnedem.


A bisserl Schweinöses zwischendurch, je nach Fantasie des geneigten Lesers, der geneigten Leserin. (An die neue Schreibweise der Fantasie kann ich mich nur schwer gewöhnen, schließlich ist die Phantasie eine Himmelsmacht, da darf sie schon ein wenig fremd erscheinen.)

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Donnerstag, 21. November 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 27
Mangoguls Kritik der reinen Vernunft

Mangogul hatte Mirzozens philosophische Vorlesung angehört, ohne ihr zu widersprechen. Darüber war sie erstaunt, da er doch sonst gern widersprach. »Sollte der Sultan mein System von Anfang bis zu Ende annehmen?« sprach sie zu sich selbst. »Nein, das ist nicht wahrscheinlich. Sollte er es zu schlecht befunden haben, um es seiner Bekämpfung zu würdigen? Das könnte eher sein. Zugestanden: meine Gedanken sind wohl nicht die richtigsten, die man bisher gehabt hat; sie sind doch aber auch nicht die falschesten, und ich meine, es mag noch ungereimtere Meinungen geben.«

Um aus diesem Zweifel herauszukommen, entschloß sich die Favorite, Mangogul zu befragen: »Nun, Fürst, was denken Sie von meinem System?« »Es ist bewundernswert,« antwortete der Sultan, »es hat nur einen Fehler.« – »Welcher Fehler wäre das?« – »Es ist falsch, grundfalsch. Waren Ihre Vermutungen richtig, so müßten wir alle Seelen haben; aber sehen Sie, Wonne meines Lebens, diese Folgerung widerspricht dem gesunden Menschenverstand: Ich habe eine Seele; da ist ein Wesen, das sich mehrenteils beträgt, als ob es keine hätte, und vielleicht hat es auch keine, selbst dann nicht, wenn es so handelt, als ob es eine hätte. Aber dieses hat eine Nase wie ich; ich fühle, daß ich eine Seele habe und denke. Folglich hat auch das Wesen eine Seele und denkt auch. Seit tausend Jahren macht man diese Folgerung und ebensolange schon ist man anmaßend.«

»Ich gestehe,« sagte die Favorite, »es ist nicht immer klar, daß andre Leute denken.« »Sagen Sie lieber,« erwiderte Mangogul, »in hundert Fällen ist es klar, daß sie nicht denken.« »Dennoch,« versetzte Mirzoza, »wäre der Schluß ein wenig voreilig, daß sie nie gedacht haben und niemals denken werden. Man ist nicht immerein Tier, weil man es zuweilen gewesen ist, und Ihre Hoheit ...«

Mirzoza fürchtete, den Sultan zu beleidigen, und verstummte. »Fahren Sie fort, Madam,« sagte Mangogul, »ich verstehe Sie. ›Und ist meine Hoheit niemals wie ein Tier gewesen, wollen Sie sagen, nicht wahr?‹ Darauf antwort' ich, ja, ich war manchmal so, und dann verzieh ich andern gern, wenn Sie mich dafür hielten. Sie können sich wohl denken, daß sie das auch taten, obgleich sie nicht das Herz hatten, es mir zu sagen.« »Ach! Fürst,« rief die Favorite, »wenn die Menschen dem größten Monarchen der Erde eine Seele absprächen, wem könnten sie eine zugestehn?«

»Keine Schmeicheleien,« sagte Mangogul. »Für diesen Augenblick hab' ich Krone und Zepter niedergelegt. Jetzt bin ich nicht Sultan, sondern Philosoph und kann die Wahrheit hören und sagen. Von jenem hab' ich Ihnen, glaub' ich, Beweise gegeben. Sie sehn, ich ließ mir geduldig und nach Ihrem Gefallen den Vorwurf machen, daß ich zuweilen nur ein Tier bin. Erlauben Sie aber auch, daß ich die Pflichten meiner neuen Rolle ganz erfülle.

Weit entfernt,« fuhr er fort, »Ihnen zuzugeben, daß das alles, was Füße, Arme, Hände, Augen und Ohren hat wie ich, auch eine Seele besitzt wie ich, erkläre ich Ihnen vielmehr, daß nach meiner Überzeugung, von der mich nichts abbringen soll, drei Vierteile der Männer, und alle Weiber nur Automaten sind.«
»Ihre Worte sind am Ende vielleicht gerade so höflich wie wahr,« antwortete die Favorite.

»Oh!« sagte der Sultan, »die gnädige Frau wird wohl gar böse? Warum auch zum Teufel, lassen Sie sich beikommen, eine Philosophin zu werden, wenn Sie die Wahrheit nicht hören wollen? Sucht man denn Höflichkeit auf der hohen Schule? Ich habe Ihnen freie Hand gelassen, gönnen Sie nun auch mir gefälligst Spielraum Ich sagte Ihnen also, Ihr alle seid Tiere..«

»Ja Fürst,« antwortete Mirzoza, »dafür eben blieben Sie mir den Beweis schuldig.«

»Der ist leicht geführt,« erwiderte der Sultan. Darauf kramte er all die Frechheiten aus, die man so oft, ohne Witz und Anmut, gegen ein Geschlecht vorgebracht hat, das diese beiden Eigenschaften im höchsten Grade besitzt. Nie ward Mirzozas Geduld auf eine härtere Probe gestellt, nie in Ihrem Leben würden Sie so viel Langeweile empfunden haben, als wenn ich ihnen Mangoguls Vernunftsgründe vorlegen wollte. Dieser Fürst, dem es sonst nicht an gesundem Menschenverstande fehlte, war an jenem Tage von einer schier unbegreiflichen Geschmacklosigkeit. Urteilen Sie selbst: »Zum Teufel!« sagte er, »das Weib ist so wahrhaftig nur ein Tier, daß ich wette, wenn ich Cucufas Ring gegen eine Stute kehre, so laß ich sie plaudern wie ein Frauenzimmer.«

»Das ist ohne Zweifel,« antwortete Mirzoza, »das stärkste Beweismittel, das man bisher gegen uns aufgeführt hat und aufführen wird.« Darauf lachte sie wie eine Närrin. Mangogul ward empfindlich, daß das Gelächter kein Ende nahm, und ging plötzlich hinaus mit dem Entschluß, den seltsamen Versuch anzustellen, der seiner Phantasie vorschwebte.


Nach der Kritik der praktischen Vernunft nun die Kritik der reinen Vernunft. Wie weit war Kant in Frankreich bekannt? Ob die Überschriften vom Übersetzer Johann Baptist von Knoll (1748- ?, Jurist; Übersetzer): Augsburg 1776 stammen?)

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Dienstag, 19. November 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 26
Mirzozens Seelenlehre

Während Mangogul die Kleinode Harias, der Witwen und Fatmes ausfragte, hatte Mirzoza Zeit genug, ihre philosophische Vorlesung zu bereiten. Eines Abends hielt die Mamimonbanda ihre Andacht, es gab weder Spiel noch Gesellschaft bei ihr, und die Favorite war beinahe gewiß, der Sultan werde sie besuchen. Da nahm sie zwei schwarze Unterröcke, legte einen an wie gewöhnlich, hing sich den andern um die Schultern, steckte beide Arme durch die Schlitzen, setzte die Allongen-Perücke von Mangoguls Seneschall auf und die Kappe seines Kaplans. So sah sie einer Fledermaus nicht unähnlich, sie aber hielt das für die Kleidung eines Philosophen.

In diesem Anzuge spazierte sie durch ihre Zimmer hin und her, wie ein Professor des Collège Royal, der auf Hörer wartet. Sie nahm sogar die finstere nachdenkliche Miene eines meditierenden Gelehrten an. Mirzozas erzwungener Ernst hielt nicht lange vor. Der Sultan trat mit einigen seiner Hofleute herein und machte dem neuen Philosophen eine tiefe Verbeugung, dessen Gravität seine Zuhörer um ihre würdige Haltung brachte. Und diese ihrerseits durch ihr lautes Lachen brachten wiederum den Philosophen aus der Fassung. »Gab Ihnen Geist und Gestalt nicht Überlegenheit genug, Madame,« fragte Mangogul, »brauchten Sie noch diese Robe? Auch ohne sie würden Ihre Worte alles Gewicht haben, das Sie nur wünschen könnten.« – »Es scheint mir, gnädigster Herr,« antwortete Mirzoza, »Sie ehren diese Robe sehr wenig. Ein Schüler sollte mehr Achtung für das haben, worin wenigstens die Hälfte des Verdienstes seines Meisters besteht.« – »Ich merke,« erwiderte der Sultan, »Sie besitzen schon den Geist und die Sprache Ihres neuen Standes. Jetzt zweifle ich auch gar nicht mehr, daß Ihre Gelehrsamkeit der Würde Ihres Anzuges entspricht, und erwarte den Beweis davon mit Ungeduld.« – »Sie sollen noch in dieser Minute befriedigt werden,« antwortete Mirzoza und setzte sich mitten auf ein großes Sofa. Der Sultan und die Höflinge nahmen um sie herum Platz, und sie begann:

»Gnädigster Herr, haben die Philosophen von Monoemugi, denen Ihre Erziehung anvertraut war, Ihre Hoheit nie von der Natur der Seele unterhalten?« – »O, sehr oft,« antwortete Mangogul, »aber alle ihre Systeme brachten mir am Ende nur sehr ungewisse Vorstellungen bei; und hätt' ich nicht ein inneres Gefühl, das mir zuzuflüstern scheint, sie sei ein von der Materie verschiedenes Wesen, so würd' ich ihr Dasein leugnen oder mit dem Körper für einerlei halten. Wollen Sie es übernehmen, dieses Chaos zu entwirren?«
»Das will ich wohl bleiben lassen,« erwiderte Mirzoza. »Darüber gesteh' ich nicht mehr zu wissen als Ihre Erzieher. Der einzige Unterschied zwischen Ihnen und mir besteht darin, daß ich das Dasein einer von der Materie unabhängigen Substanz nur vermute, die Sie für erwiesen halten. Wenn aber diese Substanz da ist, so muß sie irgendwo ihren Sitz haben. Haben sie Ihnen nicht auch darüber viel Seltsames vorerzählt?«
»Nein,« sagte Mangogul, »alle stimmten so ziemlich darin überein, daß ihr Wohnsitz der Kopf sei, und diese Meinung schien mir wahrscheinlich. Der Kopf denkt, dichtet, überlegt, urteilt, ordnet, befiehlt; und man hört alle Tage von einem Menschen, der nicht denkt, daß er kein Hirn habe, daß es ihm an Kopf fehle.«
»Das also,« erwiderte die Sultanin, »ist Ihrer langen Studien und Ihrer ganzen Philosophie kurzer Sinn, daß Sie die bloße Vermutung einer Tatsache mit alltäglichen Redensarten zu stützen suchen? Gnädigster Herr, was würden Sie von Ihrem ersten Geographen sagen, wenn er Ihrer Hoheit die Karte Ihrer Staaten vorlegte und Osten mit Westen oder Süden mit Norden vertauschte?«
»Der Irrtum wäre zu grob,« erwiderte Mangogul, »den hat noch kein Geograph begangen.«
»Das mag sein,« versetzte die Favorite, »also waren Ihre Philosophen ungeschickter, als der allerungeschickteste Geograph es sein kann. Sie hatten kein großes Reich aufzunehmen, sie brauchten nicht die Grenzen der vier Weltteile bestimmen, sie sollten nur in sich selbst hinabsteigen und den wahren Sitz ihrer Seele erforschen. Sie aber nennen Osten Westen und Süden Norden. Sie verkünden, daß die Seele im Kopfe sitze, während die meisten Menschen sterben, ohne daß die Seele diesen Aufenthalt genommen hat, da sie immer noch ihren ersten Wohnsitz innehat, nämlich in den Füßen.«
»In den Füßen?« unterbrach sie der Sultan. »Das ist der sonderbarste Gedanke, der mir jemals vorgekommen ist.«
»Jawohl, in den Füßen,« erwiderte Mirzoza; »und diese Meinung, die Ihnen so närrisch dünkt, braucht nur tiefer begründet zu werden, um für vernünftig zu gelten. Gerade umgekehrt verhält es sich mit den Meinungen, die Sie für wahr annehmen, und die man für falsch erkennt, wenn man sie tiefer ergründet. Ihre Hoheit gaben mir eben zu, das Dasein unserer Seele gründe sich nur auf das innere Zeugnis, das sie sich von sich selbst gibt, und ich will Ihnen beweisen, daß alle erdenklichen Gefühle an der Stelle zustande kommen, die ich ihr anweise.«
»Das bin ich begierig zu hören,« sagte Mangogul.
»Ich verlange keine Schonung,« fuhr sie fort. »Ich bitte Sie alle, mir Ihre Bedenken zu äußern. Also, wie gesagt, der erste Wohnsitz der Seele sind die Füße. Dort beginnt ihr Dasein, denn durch die Füße geht sie in den Körper über. Ich berufe mich mit dieser Tatsache auf die Erfahrung und lege vielleicht in diesen meinen weiteren Ausführungen den Grund zu einer Experimental-Metaphysik.
Wir alle erfuhren in unsrer Kindheit, daß die unentwickelte Seele ganze Monate hindurch in einem Zustande des Schlafes verweilt. Unsre Augen öffnen sich, ohne zu sehn, unser Mund, ohne zu reden, unsre Ohren, ohne zu hören. Die Seele regt sich und erwacht an einer ganz andern Stelle. Ihre ersten Kräfte zeigen sich an andern Gliedern. Durch die Füße verkündigt das Kind seine Ausbildung. Leib, Kopf und Füße ruhn unbeweglich im Schoß der Mutter. Aber seine Füße werden lang und beweglich und offenbaren sein Dasein, vielleicht seine Bedürfnisse. Rückt die Stunde der Geburt heran, was würde aus Kopf, Leib und Armen werden? Sie blieben ewig in ihrem Gefängnisse, wenn die Füße ihnen nicht zu Hülfe kämen. Hier spielen die Füße die Hauptrolle und treiben den übrigen Leib hinaus. Dies ist die Ordnung der Natur, und will irgendwo ein andres Glied befehlen, tritt zum Beispiel der Kopf an die Stelle der Füße, so geht alles verkehrt, und Gott weiß, was dann zuweilen aus der Mutter und dem Kinde wird.
Ist das Kind geboren, so bewegen sich wiederum an ihm vorzüglich die Füße. Man wird genötigt, sie zur Ruhe zu bringen, und dabei bezeigen sie sich immer etwas widerspenstig. Der Kopf ist ein Klotz. Aus ihm macht man, was man will. Aber die Füße fühlen, schütteln das Joch ab und scheinen die Freiheit verteidigen zu wollen, die man ihnen raubt.
Kann das Kind endlich stehn, so strengen die Füße sich auf tausenderlei Art an, um sich fortzubewegen. Sie setzen alles in Tätigkeit. Sie befehlen den andern Gliedmaßen. Und die gehorsamen Hände stützen sich gegen die Wand und halten sich vor, um einen Fall zu vermeiden und den Fortschritt der Füße zu erleichtern.

Worauf richten sich alle Gedanken eines Kindes, was sind seine Vergnügungen, wenn es sich fest auf den Beinen fühlt und seine Füße die Geschicklichkeit erlangt haben, sich zu bewegen? Es übt sich im Gehen, im Kommen, im Laufen, im Springen, im Hüpfen. Diese Unruhe gefällt uns, wir halten sie für ein Zeichen des Verstandes und erklären ein Kind für einfältig, wenn wir es träge und traurig sehn. Wollen Sie ein vierjähriges Kind betrüben, so lassen Sie es eine Viertelstunde lang sitzen, oder halten es zwischen vier Stühlen gefangen. Dann wird es verdrießlich und ärgerlich. Denn Sie berauben damit nicht bloß die Beine ihrer Bewegung, Sie kerkern auch seine Seele ein. Bis ins zweite oder dritte Jahr bleibt die Seele in den Füßen. Im vierten steigt sie in die Beine. Im fünfzehnten kommt sie in die Knie und Lenden. Dann mag man tanzen, fechten, wettrennen und andere heftige Leibesbewegungen gern leiden. Das ist die herschende Leidenschaft aller jungen Leute. Bei einigen steigert sie sich bis zur Raserei. Und die Seele sollte nicht an der Stelle wohnen, wo sie sich fast allein offenbart, wo sie ihre angenehmsten Empfindungen erfährt? Wohnt sie aber in der Jugend an einem andern Ort, als in der Kindheit, warum sollte sie nicht das ganze Leben lang ihren Wohnsitz ändern?«

Mirzoza hatte dieses alles so geschwinde hergesagt, daß sie fast darüber außer Atem gekommen war. Selim, ein Günstling des Sultans, benutzte den Augenblick, wo sie Luft schöpfte, und sprach zu ihr: »Gnädige Frau, ich mache von Ihrer gütigen Erlaubnis, Einwände zu äußern, hiermit höflichst Gebrauch: Ihr System ist geistreich. Sie haben es eben so anmutig als klar vorgetragen. Aber so sehr hat es mich doch nicht verführt, daß ich es für erwiesen annehmen sollte. Mir scheint, man könne Ihnen sagen, daß selbst in der Kindheit der Kopf den Füßen befehle, und daß von dort aus sich die Geister mit Hilfe der Nerven in alle Glieder verbreiten, sie anhalten oder bewegen, nach Willkür der Seele, die auf der Zirbeldrüse sitzt. Gleichermaßen, wie man von der Hohen Pforte die Befehle des Großherrn ausgeben sieht, die alle seine Untertanen in Bewegung setzen.«
»Das kann man freilich,« erwiderte Mirzoza, »aber man würde damit eine sehr dunkle Sache behaupten, auf die ich mit einer Tatsache der Erfahrung antworten möchte: Kein Kind weiß mit Gewißheit, daß sein Kopf denkt, und selbst Sie, edler Herr, so tüchtig der Ihrige auch ist, und obwohl Sie bereits im zartesten Alter für ein Wunder von Verstand galten, entsinnen Sie sich vielleicht, damals gedacht zu haben? Aber dessen können Sie sich wohl versichert halten, daß, als Sie mit Ihren Füßen zur Verzweiflung Ihrer Gouvernanten wie ein kleiner Satan strampelten, eben diese Füße den Kopf regierten.«
»Das beweist gar nichts,« sagte der Sultan. »Selim war lebhaft, wie es tausend Kinder sind. Sie überlegen nicht, aber sie denken. Die Zeit verfliegt, das Gedächtnis verliert sich, sie erinnern sich nicht mehr gedacht zu haben.«
»Aber womit dachten sie?« versetzte Mirzoza. »Das ist die Frage.«
»Mit dem Kopf,« antwortete Selim.
»Gehen Sie mir mit diesem Kopfe, an dem man gar nichts sieht,« erwiderte die Sultanin. »Lassen Sie diese Blendlaterne, die nur für den ein Licht hat, der sie trägt. Hören Sie meine Erfahrung und bekehren Sie sich zur Wahrheit meiner Hypothese. Es ist so ausgemacht, daß die Seele ihre Wanderschaft durch den Körper bei den Füßen beginnt, daß es Männer und Weiber gibt, in denen sie niemals höher stieg. Edler Herr, Sie haben tausendmal Ninis Leichtigkeit und Saligos Sprünge bewundert. Antworten Sie mir offenherzig, glauben Sie, daß diese Geschöpfe ihre Seele anderswo haben als in ihren Beinen? Haben Sie nicht selbst bemerkt, daß Volucers und Zelindors Kopf den Füßen untergeordnet ist? Ein Tänzer hat beständig Lust, auf seine Beine zu sehn. Er tut keinen Schritt, bei welchem nicht das Auge die Spur des Fußes aufmerksam verfolgt. Sein Haupt neigt sich so ehrfurchtsvoll vor seinen Füßen, als die unüberwindlichen Paschas vor Seiner Hoheit.«
»Diese Beobachtung ist richtig,« sagte Selim, »aber sie trifft nicht immer zu.«
»Ich behaupte ja auch nicht,« erwiderte Mirzoza, »daß die Seele immer in den Füßen wohnt. Sie dringt weiter, sie wandert umher, sie verläßt einen Teil, kehrt dahin zurück, verläßt ihn wieder. Aber das behaupt' ich: alle andern Teile sind dem Teile untergeordnet, den sie bewohnt. Das ändert sich je nach den Jahren, nach dem Temperament des Bluts, nach den Umständen. Daher entsteht die Verschiedenheit des Geschmacks, der Neigungen, der Eigenschaften. Bewundern Sie nicht die Reichhaltigkeit meines Prinzips? Spricht die Menge der Erscheinungen, die es erklärt, nicht für seine Gewißheit?«
»Madame,« antwortete Selim, »wenn Sie die Anwendung auf nur einige machten, so gäbe das uns vielleicht einen Grad von Überzeugung, den wir noch nicht besitzen.«
»Sehr gern,« versetzte Mirzoza, die ihre Überlegenheit zu fühlen anfing. »Sie sollen zufrieden sein. Folgen Sie nur meiner Gedankenreihe. Ich versteife mich nicht auf große Beweisführung. Ich spreche mit dem Herzen. Das ist für uns Frauen Philosophie, und die verstehn Sie beinahe eben so gut wie wir. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Seele bis zum achten oder zehnten Jahre in Füßen und Beinen bleibt. Dann, oder vielleicht etwas später, verläßt sie dies Quartier, entweder aus eignem Antriebe, oder aus Not. Aus Not, wenn ein Lehrmeister gewisse Werkzeuge gebraucht, um sie aus ihrem Heimatlande herauszujagen und in das Gehirn zu treiben, wo sie sich gewöhnlich in Gedächtnis verwandelt und beinahe niemals in Urteilskraft. Das ist der Fall mit Knaben, die zur Schule gehn. Gleicherweise, wenn eine dumme Gouvernante sich abmüht, ein junges Mädchen zu bilden, ihr den Geist mit Kenntnissen vollpfropft und Herz und Sitten vernachlässigt. Dann steigt die Seele schnell zu Kopf, verweilt auf der Zunge oder tritt in die Augen. So wird die Schülerin eine langweilige Schwätzerin oder ein gefallsüchtiges Frauenzimmer. So auch wohnt der Wollüstigen Seele in ihrem Kleinod und weicht nimmer von dannen.
Die Seele der galanten Frau wohnt bald in ihrem Kleinod, bald in ihren Augen.
Die Seele der Zärtlichen ist gewöhnlich in ihrem Herzen, doch zuweilen auch im Kleinod.
Die Seele der Tugendhaften ist bald im Kopf, bald im Herzen und niemals anderswo.
Wohnt die Seele im Herzen, so formt sie die empfindsamen, mitleidigen, wahrheitsliebenden, edelmütigen Charaktere. Verläßt sie das Herz, um nie zurückzukehren, und verbannt sie sich in den Kopf, so wird der Mensch hart, undankbar, betrügerisch und grausam.
Zahlreich ist die Menschenklasse, deren Seele den Kopf nur als Sommerwohnung besucht und nicht lange darin verweilt. Dahin gehören die Stutzer, die Gefallsüchtigen, die Tonkünstler, die Dichter, die Romanschreiber, die Höflinge, und was man hübsche Frauen nennt. Hören Sie diese Leute reden, und Sie werden sogleich erkennen, daß ihre Seele umherirrt, daß sie von jedem verschiedenen Himmelsstriche, den sie durchwanderte, etwas angenommen hat.«
»Wenn dem so ist,« sprach Selim, »so hat die Natur viel Überflüssiges getan. Und doch behaupten unsre Weisen steif und fest, sie habe nichts vergebens hervorgebracht«.
»Lassen wir Ihre Weisen und deren hohe Worte beiseite,« antwortete Mirzoza. »Und was die Natur anbelangt, so wollen wir sie bloß mit den Augen der Erfahrung betrachten, dann werden wir lernen, daß sie die Seele in den Leib des Menschen versetzt, wie in einen geräumigen Palast, dessen schönstes Gemach nicht immer sie bewohnt. Kopf und Herz sind ihr vorzüglich bestimmt als Mittelpunkt der Tugenden und Aufenthalt der Wahrheit. Aber sehr oft bleibt sie unterwegs und bevorzugt einen Keller, einen zweideutigen Ort, eine armselige Herberge, wo sie in immer währenden Rausch einschlummert! Ach! könnte ich die Welt nur vierundzwanzig Stunden lang nach meiner Laune einrichten, so wollt' ich Ihnen ein seltsames Schauspiel geben. Ich nähme jeder Seele auf einmal alle Teile ihrer Wohnung, die sie nicht braucht, und dann würden Sie den Charakter jeder Person aus dem übrigbleibenden Teile erkennen. Dann beständen die Tänzer nur aus zwei Füßen, bestenfalls aus zwei Beinen, die Sänger aus einer Kehle, die meisten Weiber aus einem Kleinod, die Helden und Fechter aus einer bewaffneten Faust, gewisse Gelehrte aus einem hirnlosen Schädel. Eine Spielerin behielte nichts als zwei Hände, um ihre Karten zu mischen, ein Vielfraß aus zwei beständig kauenden Kinnbacken, eine Gefallsüchtige aus zwei Augen, ein Wüstling aus dem bloßen Werkzeug seiner Begierden, Unwissende und Faulenzer aus gar nichts mehr.«
»Wenn Sie den Weibern freie Hand ließen,« sagte der Sultan, »so würde man den Männern, denen nichts als das Werkzeug ihrer Begierden bliebe, schön nachlaufen. Das gäbe eine feine Jagd, und stellte man diesen Vögeln überall ebensosehr nach als in Congo, so stürbe die Gattung bald aus.«
»Was bliebe aber von den zarten gefühlvollen Seelen, den beständigen treuen Liebenden übrig?« fragte Selim die Favorite.
»Ein Herz,« antwortete Mirzoza, »und ich weiß wohl, wem das meinige zufliegen würde,« sagte sie mit einem zärtlichen Blick auf Mangogul. Der Sultan konnte dieser Rede nicht widerstehn, er verließ seinen Lehnstuhl, um auf die Favorite zuzueilen, die Hofleute verschwanden, und der Lehrstuhl des neuen Philosophen ward der Schauplatz ihrer Freuden. Er bewies ihr zu wiederholten Malen, daß er nicht minder bezaubert sei von ihren Gefühlen, als von ihren Vorlesungen, und der professoralische Anzug geriet dadurch in Unordnung. Mirzoza gab ihrem Frauenzimmer die schwarzen Unterröcke wieder, sandte dem Lord Seneschall seine ungeheure Perücke zurück und dem Herrn Abbé seine viereckige Mütze mit der Versicherung, daß er sich als Kandidat auf der Liste der nächsten Rangerhöhung befände. Wie weit hätte er es nicht gebracht, wenn er ein schöner Geist gewesen wäre! Ein Sitz in der Akademie war die geringste Belohnung, die er erwarten durfte, aber unglücklicherweise wußte er nur zwei- oder dreihundert Worte und hatte es nie so weit gebracht, sich damit auch nur einige Male zu wiederholen.



Mirzozens Experimental-Metaphysik ist ganz allerliebst.

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Donnerstag, 17. Oktober 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 25
Rechtsfrage

Notzüchtigung wurde in Congo sehr strenge bestraft. Unter Mangogul trug sich ein sehr berühmter Fall solcher Art zu. Der Fürst hatte, wie alle seine Vorgänger, bei der Thronbesteigung geschworen, diesem Verbrechen keine Gnade widerfahren zu lassen; aber die Strenge der Gesetze hält diejenigen nicht zurück, die einen großen Bewegungsgrund haben, sie zu übertreten. Der Schuldige ward verurteilt, den Teil seines Leibes zu verlieren, durch den er gesündigt hatte. An dieser grausamen Operation starb er gemeiniglich.

Kersael, ein junger Mann von Stande, schmachtete seit sechs Monaten in einem Kerker in Erwartung dieser Strafe. Fatme, eine junge hübsche Frau, war seine Lukretia und Anklägerin. Sie standen einst sehr gut miteinander, das wußte jedermann, Fatmes nachsichtiger Gemahl hatte nichts dawider. So würde es auch dem Publikum wenig geziemt haben, sich um ihre Angelegenheiten zu bekümmern.

Nach zwei Jahren ruhigen Verkehrs befreundete sich Kersael, entweder aus Unbestand oder aus Überdruß, mit einer Operntänzerin zu Banza und vernachlässigte Fatme, ohne doch offenkundig mit ihr zu brechen. Er wollte sich mit Anstand zurückziehen, darum mußte er ihr Haus noch besuchen. Fatme wütete über diesen Abschied, sann auf Rache und benutzte diesen Rest seiner Anhänglichkeit zum Verderben des Ungetreuen.

Eines Tages ließ sie der gefällige Ehemann allein beisammen. Kersael hatte sein Schwert abgelegt und suchte Fatmens Argwohn durch jene Beteuerungen zu beschwichtigen, die dem Liebhaber zwar nichts kosteten, aber auch die Leichtgläubigkeit einer Frau nicht hintergehn, deren Verdacht einmal erwacht ist. Ihre Augen blickten wild, mit fünf oder sechs Handgriffen brachte sie ihren Anzug in Unordnung, stieß ein fürchterliches Geschrei aus, rief Gemahl und Bediente zu Hilfe. Sie liefen herbei und wurden Zeugen der Gewalttätigkeit, die Fatme von Kersael erlitten haben wollte. Sie zeigte auf sein Schwert: »Zehnmal,« sagte sie, »hat er es gegen mich gezückt, um mich seinen Begierden zu unterwerfen.« Der junge Mann war über die Bosheit der Anklage so sprachlos, daß er weder Kraft hatte, zu antworten noch zu fliehn. Man ergriff ihn, er ward ins Gefängnis geführt und der verfolgenden Gerechtigkeit des Cadilesker überlassen.

Die Gesetze befahlen, Fatme müsse besichtigt werden. Sie ward es also, und die Aussage der Hebammen war dem Beklagten sehr ungünstig. Sie hatten ihre Vorschrift, wie eine genotzüchtigte Frau aussehen müsse, und alle nötigen Anzeichen stimmten gegen Kersael zusammen. Die Richter befragten ihn, Fatme ward ihm gegenübergestellt, man vernahm Zeugen. Freilich bestand er auf seiner Unschuld, leugnete die Tat und versuchte durch seinen zweijährigen Umgang mit der Klägerin nachzuweisen, daß dies keine Frau sei, der man Gewalt antun brauche. Den Umstand mit dem Schwert, ferner, daß er allein bei ihr gewesen, Fatmes Geschrei, Kersaels Verwirrung, da er den Gemahl und die Bedienten erblickte: alles dieses bestärkte die Richter in ihrem Verdacht, daß Notzucht vorläge. Fatme ihrerseits war weit entfernt, Gunstbezeigungen einzugestehn, und wollte nicht einmal einen Schimmer von Hoffnung gegeben haben. Sie behauptete, die hartnäckige Anhänglichkeit an ihre Pflicht, der sie nie das mindeste vergeben, habe Kersael ohne Zweifel dahin gebracht, ihr das gewaltsam zu entreißen, was er durch Verführung zu erhalten verzweifeln wußte; die Aussage der Matronen war gleichfalls ein schreckliches Aktenstück. Man durfte sie nur durchlesen und mit den Verfügungen des Strafgesetzbuches zusammenhalten, um das Verdammungsurteil des unglücklichen Kersael darin zu finden. Weder seine Verteidigung, noch der Einfluß seiner Familie ließen ihn Erbarmung hoffen, und die Obrigkeit hatte das Endurteil seines Rechtshandels auf den dreizehnten des Monats Regeb festgesetzt. Man hatte es sogar dem Volke, wie gewöhnlich, mit Trommelschlag angekündigt.

Man sprach viel über diese Begebenheit, die Meinungen waren lange darüber geteilt. Einige alte Vetteln, die keine Notzüchtigung jemals zu befürchten hatten, schrien, Kersaels Frevel sei unverzeihlich. Wenn man da nicht ein strenges Beispiel gebe, so werde die Unschuld nie mehr sicher sein, und eine ehrliche Frau laufe Gefahr, sogar noch an den Füßen des Altars beschimpft zu werden. Dann zählten sie Fälle auf, wo unverschämte Jünglinge die Tugend achtungswürdiger Damen anzugreifen gewagt hätten. Aus den näheren Umständen ersah man, sie selbst wären zweifelsohne die achtungswürdigen Damen, von denen sie sprachen. Alle diese Reden führten Betschwestern, so sittsam wie Fatme, mit Brahminen, die weniger unschuldig waren als Kersael: das nannten sie eine erbauliche Unterhaltung.

Hingegen die Stutzer, und sogar einige Stutzerinnen, waren der Ansicht, Notzucht sei ein Hirngespinst. Man ergebe sich immer nur unter gewissen Bedingungen, und wenn ein Platz noch so schlecht verteidigt werde, so sei es ganz unmöglich, ihn mit Gewalt zu erobern. Beispiele unterstützten diese Grundsätze. Die Weiber wußten so viele solche Beispiele, die Stutzer erfanden sie, und man führte unzählige Frauen an, die nicht vergewaltigt worden wären. »Armer Kersael!« rief man. »Was Teufel fiel ihm ein, sich in die kleine Bimbreloque zu vergaffen?« so hieß die Tänzerin. »Warum blieb er Fatme nicht treu? Sie standen so gut miteinander, und der Mann ließ sie ihres Weges gehen, daß es eine wahre Freude war.« »Die Hexen, die Hebammen,« setzte man hinzu, »haben ihre Brillen schief aufgesetzt und nicht die Bohne gesehen. Denn wer vermöchte dort klar zu sehen? Und die Herren Senatoren wollen ihm seiner Freude berauben, weil er eine offne Tür eingerannt hat. Es wird dem armen Jungen das Leben kosten. Daran ist kein Zweifel. Wozu wird von nun ein mißvergnügtes Weib nicht berechtigt sein?« »Findet die Operation statt,« setzte ein andrer hinzu, »so werd' ich Freimaurer!«

Der Sultan spottete über Kersaels künftigen Zustand. Mirzoza, von Natur mitleidig, stellte ihm vor, daß, wenn auch die Gesetze gegen Kersael sprächen, der gesunde Menschenverstand doch nicht für Fatme sei! »Es ist übrigens unerhört,« fuhr sie fort, »daß eine weise Regierung sich so sehr an den Buchstaben der Gesetze bindet, daß die bloße Aussage einer Klägerin genügt, das Leben eines Bürgers in Gefahr zu bringen. Die Wirklichkeit der Notzüchtigung könne nicht strenge genug bewiesen werden, und Ihre Hoheit müssen gestehn, über diese Tatsache mag Ihr Ring wenigstens ebensogut entscheiden, als Ihre Räte. Es wäre doch sonderbar, wenn sich die Hebammen besser auf diesen Punkt verständen, als die Kleinode selbst. Bis hieher, gnädigster Herr, hat Ihr Ring fast nur dazu gedient, Ihre Neugier zu befriedigen. Sollte der Genius, von dem Sie ihn erhielten, keinen erhabenern Zweck damit gehabt haben? Fürchten Sie etwa, Cucufa zu beleidigen, wenn Sie ihn gebrauchen, die Wahrheit zu entdecken und Ihre Untertanen glücklich zu machen? Versuchen Sie es immer! Sie haben ein unfehlbares Mittel in Händen, Fatme das Geständnis ihres Verbrechens oder den Beweis ihrer Unschuld zu entlocken.« »Sie haben recht,« antwortete Mangogul, »Sie sollen Ihren Willen haben.«

Sogleich machte sich der Sultan auf. Es war die höchste Zeit. Denn dies geschah den zwölften Regeb abends, und am dreizehnten sollte der Senat entscheiden. Fatme hatte sich soeben niedergelegt, ihre Vorhänge standen offen. Ein Nachtlicht warf seinen traurigen Schimmer auf ihr Gesicht. Sie schien dem Sultan schön, obwohl durch heftige Aufregung entstellt. Mitleid und Haß, Kummer und Rache, Unverschämtheit und Scham spiegelten sich in ihren Augen, je nachdem sie in ihrem Herzen wechselten. Sie stieß tiefe Seufzer aus, vergoß Tränen, trocknete sie, weinte von neuem, blieb eine Zeitlang mit gesenktem Haupt und niedergeschlagenen Augen, erhob sie wieder und schaute wütend empor. Was tat Mangogul unterdessen? Er sprach leise zu sich selbst: »Alles dies sind Kennzeichen der Verzweiflung. Ihre alte Zärtlichkeit für Kersael ist in ihrer ganzen Stärke wieder erwacht. Sie sieht nicht mehr die Schande, die er ihr antat, und hat nichts vor Augen, als die Strafe, die ihres Liebhabers wartet.« Mit diesen Worten drehte er den Zauberring gegen Fatme, und ihr Kleinod rief heftig:

»Noch zwölf Stunden, und wir sind gerächt. Der Verräter, der Undankbare muß sterben und sein Blut ...« – Fatme erschrak über die sonderbare Bewegung, die in ihr vorging. Die heimliche Stimme ihres Kleinods schreckte sie, sie bedeckte es mit beiden Händen, um ihm die Sprache zu benehmen. Aber die Macht des Ringes fuhr fort zu wirken, das ungelehrige Kleinod stieß jedes Hindernis zurück und sprach weiter: »Ja! wir werden gerächt. O du, der du mich verraten hast, unglücklicher Kersael, stirb! Und Du, die er mir vorgezogen, Bimbreloque, verzweifle! Noch zwölf Stunden. Welch eine lange Zeit? Beflügelt euch, süße Augenblicke, wo ich den Verräter, den ungetreuen Kersael, unter dem Messer der Henker sich verbluten sehen werde! Unglücklicher! Was sag' ich? Werd' ich ohne Schauder den Gegenstand meiner innigsten Liebe sterben sehn? Ich soll das verhängnisvolle Messer gezückt sehen? Ach ferne sei von mir der grausame Gedanke. Freilich, er haßt mich, er hat mich verlassen um Bimbreloque. Aber vielleicht wär' er dereinst ... Was sag' ich vielleicht? Gewiß hätte ihn die Liebe zu mir zurückgeführt. Seine Laune für die kleine Bimbreloque wird vergehen, nicht lange dauern. Früher oder später muß er erkennen, wie ungerecht er war, sie mir vorzuziehen und wie lächerlich, sie zu wählen. Tröste dich Fatme, du sollst Kersael wiedersehen. Ja, du sollst es. Steh auf, eile, fliege, die schreckliche Gefahr abzuwenden, die ihn bedroht. Zitterst du nicht, zu spät zu kommen? Aber wohin soll ich, ich feiges Geschöpf, laufen? Verkündigt mir Kersaels Verachtung nicht, daß er mich auf ewig verlassen hat? Bimbreloque besitzt ihn, für sie sollt' ich ihn erhalten? Nein, lieber sterb' er tausendfachen Tod! Lebt er nicht für mich, was kümmert es mich, ob er stirbt? Ja, ich fühl' es, mein Zorn ist gerecht. Der Undankbare verdient meinen ganzen Haß. Ich kenne keine Reue mehr. Alles tat ich, um ihn zu erhalten, alles tu' ich, um ihn zu verderben. Noch einen Tag, und meine Rache war verfehlt. Aber sein böser Genius hat ihn mir in dem Augenblicke ausgeliefert, da er mir entrann. Er ist in die Falle gegangen, die ich ihm stellte. Ich hab' ihn. Die Zusammenkunft, zu der ich dich lockte, war die letzte, die du mir bestimmtest. Du sollst sie sobald nicht vergessen. Wie schlau brachtest du ihn so weit, als du wolltest, Fatme? Wie war deine Unordnung so natürlich? Dein Geschrei, dein Schmerz, deine Tränen, deine Bestürzung, alles, sogar dein Schweigen, verurteilte Kersael. Nichts kann ihn dem Schicksal entreißen, das seiner wartet. Kersael stirbt. Du weinst, Unglückliche? Er liebt eine andre, was liegt dir an seinem Leben?«

Mangogul entsetzte sich vor dieser Rede und drehte den Ring zurück. Fatme erholte sich, er flog zur Sultanin. »Nun, gnädigster Herr?« fragte sie, »was haben Sie gehört? Ist Kersael noch immer schuldig? Und die keusche Fatme ...?« »Erlassen Sie mir, bitt' ich, Ihnen die Greuel zu wiederholen, die ich vernahm. Wie fürchterlich ist ein aufgebrachtes Weib? Wer sollte glauben, daß ein Körper, von den Grazien gebildet, ein Herz verschließen könne, das die Furien verhärteten? Aber die Sonne soll morgen nicht über meinen Staaten untergehn, ohne daß ich sie von einem Ungeheuer befreie, das gefährlicher ist als die, welche meine Wüsten erzeugen!« Sogleich ließ der Sultan den Groß-Seneschall rufen, befahl ihm, Fatme gefangenzunehmen, Kersael in ein Gemach des Serails zu bringen und dem Senat zu verkünden, daß Seine Hoheit sich die Erkenntnis in dieser Sache vorbehalte. Noch in der nämlichen Nacht wurden seine Befehle erfüllt.

Den andern Morgen begab sich der Sultan mit Tagesanbruch, begleitet vom Groß-Seneschall und einem Effendi, in Mirzozas Gemach. Dahin ward Fatme geführt. Die Unglückliche warf sich zu Mangoguls Füßen, gestand ihr Verbrechen mit allen Umständen und beschwor die Favoritin, sich ihrer anzunehmen. Unterdessen war Kersael hereingebracht. Er erwartete den Tod, dennoch erschien er mit derjenigen Zuversicht, die nur die Unschuld geben kann. Einige schlimme Spötter sagten, seine Verzweiflung würde größer gewesen sein, wenn das, was man ihm zu nehmen drohte, sich der Mühe verlohnt hätte. Die Damen wollten gern wissen, ob etwas daran sei. Er verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor seinem Herrn. Mangogul winkte ihm, sich aufzurichten, und reichte ihm die Hand. »Du bist unschuldig,« sprach er, »sei frei; danke Brahma für deine Rettung. Um dich wegen der Leiden zu entschädigen, die du erlitten hast, weise ich dir zweitausend Zechinen Gehalt auf meine Schatzkammer an, und die erste erledigte Komturei im Krokodillen-Orden.«

Je mehr Gnadenbezeigungen Kersael erhielt, desto mehr Strafe fiel auf Fatme. Der Groß-Seneschall erkannte auf ihren Tod nach dem Gesetze: Femina ff. de vi C. calumniatrix. Der Sultan war für ewige Gefangenschaft. Mirzoza fand jenes Urteil zu strenge, dieses zu nachsichtig und verdammte Fatmes Kleinod zu Schloß und Riegel. Diese florentinische Erfindung ward ihr öffentlich angelegt auf der Bühne, die zu Kersaels Hinrichtung errichtet war. Von da ward sie in ein Zuchthaus gebracht. Mit ihr die Matronen, die über diesen Handel so weislich entschieden hatten.

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Dienstag, 15. Oktober 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 24
Das Gnadengehalt

Unter Kanoglus und Erguebzeds Regierung war Congo durch blutige Kriege beunruhigt. Beide Monarchen machten sich durch Eroberungen über ihre Nachbarn unsterblich. Die Kaiser von Abex und Angota blickten auf Mangoguls Jugend und auf den Antritt seiner Regierung als auf eine günstige Gelegenheit, die Provinzen wiederzuerlangen, die man ihnen weggenommen hatte. Also bekriegten sie Congo von allen Seiten. Mangoguls Staatsrat war der beste, den es in ganz Afrika gab. Der alte Sambuco und der Emir Mirzala hatten in den vorigen Kriegen gedient. Man stellte sie an die Spitze des Heeres und erfocht Siege über Siege. Feldherren bildeten sich, die imstande waren, sie zu ersetzen. Das ward ein noch wichtigerer Vorteil als die Siege.

Dank der Tätigkeit des Kriegsrats und der guten Führung der Feldherren kam der Feind, der das Reich zu verheeren sich vorgenommen hatte, nicht einmal unsern Grenzen nahe, verteidigte die seinigen schlecht und ließ seine Festen und Provinzen zerstören. Doch trotz so beständiger und glorreicher Siege wurde Congo je größer, desto schwächer. Die häufigen Rekrutenaushebungen entvölkerten Stadt und Land. Die Einkünfte des Staats wurden erschöpft.

Belagerungen und Schlachten hatten viel Menschen weggerafft. Der Großwesir, der wenig sparsam mit dem Blute seiner Soldaten umging, wurde beschuldigt, unnütze Schlachten geschlagen zu haben. Alle Familien waren in Trauer, jede beweinte einen Vater, einen Bruder oder einen Freund. Die Zahl der erschlagenen Offiziere war unermeßlich und nur mit der Zahl der Witwen zu vergleichen, die um ein Gnadengehalt anhielten. Die Kabinette der Minister wurden von ihnen bestürmt. Selbst den Sultan überhäuften sie mit Bittschriften, worin das Verdienst und die Taten der Verstorbenen, der Schmerz der Witwen, die traurige Lage ihrer Kinder und andere herzbrechende Gründe nicht vergessen wurden. Nichts schien gerechter als ihre Forderungen; wo sollte man aber ein Gehalt für sie hernehmen, dessen Ausgabe sich auf Millionen belief?

Die Minister hatten alle guten, zuweilen auch bösen und barschen Worte erschöpft; endlich pflegten sie Rat, wie man dem Dinge abhelfliche Maße verschaffen könne. Aber aus einem vortrefflichen Grunde kam nichts zustande. Man hatte keinen roten Heller. Mangogul war der Ausflüchte seiner Minister und der Klagen der Witwen überdrüssig und fand endlich den Ausweg, den man so lange gesucht hatte. »Ihr Herren,« sprach er in seinem Rat, »mir scheint, ehe wir ein Gnadengehalt zugestehn, müssen wir doch genau untersuchen, ob es auch wirklich verdient ist.« »Die Untersuchung,« antwortete der Groß-Seneschall, »wird kein Ende nehmen und ungeheuer viel Zeit erfordern. Wie sollten wir unterdessen dem Geschrei und der Verfolgung der Weiber entgehn, die Ihrer Hoheit vorzüglich zur Last fällt?« »Das hat nicht so viel Schwierigkeiten, als Sie, Herr Groß-Seneschall, glauben,« erwiderte der Sultan. »Ich verspreche Ihnen, morgen mittag soll alles nach den Gesetzen strengster Billigkeit entschieden sein. Bescheiden Sie sie nur morgen früh um neun Uhr zu mir in Audienz.«

Der Rat war aufgehoben. Der Groß-Seneschall verfügte sich in seine Kanzlei, überlegte alles wohl und entwarf den folgenden Anschlag, der drei Stunden hernach gedruckt, bei Trommelschlag vorgelesen und an alle Gassenecken von Banza geheftet ward.

Auf Seiner Majestät allerhöchsten Spezialbefehl tun wir pleniff. Tit. Tit. Gänseschnabel, Groß-Seneschall von Congo, Wesir mit den drei Schweifen, Caudatarius der großen Manimombanda, Oberbesenkehrer des Diwans, kund und zu wissen allen, so daran gelegen, daß morgen früh um neun Uhr der großmächtigste Sultan allen Witwen der im allerhöchsten Kriegsdienst gebliebenen Offiziere Gehör erteilen werden, um ihre Forderungen zu untersuchen und darauf zu verfügen, was Rechtens. Gegeben in unsrer Seneschallkanzlei, den zwölften des Monden Regeb, 147200000009. Alle Leidtragenden in Congo, und es gab ihrer gar viele, unterließen nicht, den Anschlag zu lesen oder durch ihre Lakaien lesen zu lassen, und sie fanden sich natürlich zur bestimmten Stunde im Vorzimmer des Thronsaales ein. Um aller Unordnung vorzubeugen, befahl der Sultan, sollten nur immer sechs Damen auf einmal eintreten. »Wenn wir sie vernommen haben, öffnet man ihnen die Hintertür, die auf den Schloßhof führt. Gebt wohl acht, ihr Herren, und entscheidet über ihre Forderungen.«

Darauf gab er dem ersten Türsteher ein Zeichen, und die sechs Damen, die der Tür am nächsten standen, wurden eingeführt. Sie waren in lange Trauerkleider gehüllt und beugten sich tief vor Seiner Hoheit. Mangogul wandte sich an die jüngste und hübscheste. Sie hieß Isek. »Haben Sie Madame Ihren Gemahl schon lange verloren?« fragte er. »Vor drei Monaten, Hoheit,« sprach sie mit Tränen. »Er war Ihrer Hoheit Generalleutenant. Er blieb in der letzten Schlacht, mir bleibt nichts von ihm als sechs Kinder« – »Von ihm?« unterbrach sie eine Stimme, die von Isek kam und doch nicht ganz ihren Ton hatte. »Das weiß die gnädige Frau besser, als sie spricht. Alle sechs hat ein junger Brahmine angefangen und vollendet, um sie zu trösten, während ihr Herr im Felde war.«

Man errät leicht, woher die verräterische Stimme kam, die diese Antwort aussprach. Die arme Isek verlor alle Fassung, erblaßte, wankte, fiel in Ohnmacht. »Die Dame hat Nervenkrämpfe,« sprach Mangogul ruhig. »Man bringe sie in ein Zimmer meines Harems und leiste ihr Hülfe.« Darauf wandte er sich an Phenice: »War Ihr Gemahl nicht Pascha, Madame?« – »Ja, gnädigster Herr,« antwortete Phenice zitternd. – »Wie haben Sie ihn verloren?« – »Er starb in seinem Bett, gnädigster Herr, an den Beschwerden des letzten Feldzuges.« – »An den Beschwerden des letzten Feldzuges?« fiel Phenicens Kleinod ein. »Ei, gnädige Frau, Ihr Herr Gemahl kam aus dem Feldzuge gesund und stark zurück. So würd' er noch leben, wenn nicht zwei oder drei Landstreicher ... Sie verstehen mich, sorgen Sie für Ihre eigne Gesundheit.« – »Schreibt, ihr Herren,« sagte der Sultan: »Phenice fordert ein Gnadengehalt für die treuen Dienste, die sie dem Staat und ihrem Gemahl geleistet hat.«

Eine dritte ward um das Alter und den Namen ihres Gatten befragt, von dem es hieß, er sei bei dem Heere an den Blattern gestorben. »An den Blattern?« fragte das Kleinod, »das ist eine schöne Lüge! Sagen Sie lieber, gnädige Frau, an zwei tüchtigen Säbelhieben, die ihm der Sangiac Cavagli versetzte, weil er es übelnahm, daß sein ältester Sohn dem Sangiac so ähnlich sehen sollte, wie ein Ei dem andern. Die gnädige Frau weiß wohl,« setzte das Kleinod hinzu, »daß keine Ähnlichkeit auf der Welt einen besseren Grund hat.«

Die vierte wollte eben reden, ohne daß Mangogul sie befragte, als ihr Kleinod aus der Tiefe heraufrief: sie habe ihre Zeit seit diesem zehnjährigen Kriege wohl angewandt, zwei Edelknaben und ein vierschrötiger Livreebedienter hätten den Platz ihres Mannes vollkommen ausgefüllt; und das Gnadengehalt, um welches sie sich bewerbe, sei zweifelsohne bestimmt, einen Sänger aus der komischen Oper zu besolden.

Die fünfte trat unerschrocken hervor und forderte mit dreister Stimme den Lohn für die Dienste ihres seligen Manns, der als Janitscharenaga unter den Wällen von Mantanas sein Leben eingebüßt hatte. Der Sultan drehte seinen Ring gegen sie, aber umsonst. Ihr Kleinod blieb stumm. »Sie war aber auch,« sagt mein gelehrter Afrikaner, der sie gesehen hatte, »so grundhäßlich, daß es ein großes Wunder gewesen wäre, wenn ihr Kleinod etwas zu sagen gehabt hätte.«

Mangogul war bei der sechsten, und dies sind die ausdrücklichen Worte ihres Kleinods: »Wahrhaftig,« sprach es, »die gnädige Frau, die nämlich, deren Kleinod so hartnäckig geschwiegen hatte, mag sich's wohl einfallen lassen, um ein Gnadengehalt einzukommen, da sie vom Spiel lebt, da sie eine Pharaobank bei sich gestattet, die ihr mehr als dreitausend Zechinen jährlich einträgt, da sie auf Kosten der Spieler kleine vertrauliche Abendgesellschaften in ihrem Hause veranstaltet. Sechshundert Zechinen hat ihr Osman bezahlt, um auch mich dahin zu locken, und als ich einmal da war, ergriff der Verräter ...«

»Man wird Ihren Forderungen Gerechtigkeit widerfahren lassen, meine Damen,« sagte der Sultan. »Sie können jetzt hinausgehn.« Dann wandte er sich zu seinen Räten und fragte sie, ob sie es nicht lächerlich finden würden, wenn man eine Menge kleiner Bastarde von Brahminen und andern Gnadengehalte aussetzte und Frauen, die sich nur damit beschäftigt hätten, den tapfern Männern Schande zu machen, die auf Kosten ihres Lebens, in seinem Dienste nach Ehre strebten?

Der Seneschall stand auf, antwortete, perorierte, resümierte und meditierte recht dunkel, ohne daß ihn jemand verstand. Derweilen er redete, hatte sich Isek von ihrer Ohnmacht erholt, wütete über ihren Unfall, erwartete kein Gnadengehalt für sich und wäre verzweifelt gewesen, wenn es einer andern zuteil werden würde, wie es sehr wahrscheinlich geschehen mußte; also ging sie wieder in das Vorzimmer und flüsterte zweien oder dreien Freundinnen zu: man habe sie nur herberufen, um ihre Kleinode nach Herzenslust plaudern zu hören, sie selbst sei im Audienzsaal dabei gewesen, als eines schreckliche Dinge ausgesagt habe; Gott solle sie doch bewahren, es zu nennen, aber man müsse wohl nicht gescheit sein, um sich der nämlichen Gefahr aussetzen zu wollen. Die Nachricht schlich von Ohr zu Ohr und zerstreute die Menge der Witwen. Als der Türsteher die Tür zum zweitenmal öffnete, fand er niemand mehr davor. »Nun, Seneschall?« sagte Mangogul, als er dieses allgemeine Ausreißen erfuhr, und klopfte dem ehrlichen Mann auf die Schulter, »werden Sie mir ein andermal glauben? Ich versprach, Ihnen die Klageweiber vom Halse zu schaffen, da sind Sie sie los. Dennoch waren Sie sehr beharrlich, Ihnen aufzuwarten trotz Ihrer fünfundneunzig Jahre. Aber was Sie auch für Ansprüche haben mögen, denn ich weiß, daß Ihnen dergleichen gegen diese Damen nicht schwerfällt, so hoffe ich doch, Sie werden mir Dank wissen, daß ich sie fortschickte. Die Last war am Ende größer als das Vergnügen.«

Der gelehrte Afrikaner berichtet, das Andenken an diesen Versuch habe sich in Congo erhalten; und darum gehe die dortige Regierung so schwer daran, ein Gnadengehalt zu erteilen. Aber das war nicht die einzige gute Wirkung von Cucufas Ring, wie wir im folgenden Abschnitt sehn werden.


Ein ‚Gnadengehalt‘ scheint für die höheren Stände reserviert gewesen zu sein.

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