Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Montag, 10. März 2014
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 43
Ein Maskenball und seine Folgen


Die ausgelassensten Kleinode von Banza unterließen nicht, dem Ruf der Freude zu folgen. Sie kamen in ihren eignen Kutschen, in Mietwagen und sogar zu Fuß. »Ich würde kein Ende finden,« sagt der gelehrte Afrikaner, dessen Schleppenträger ich zu sein die Ehre habe, »wenn ich alle Streiche umständlich erzählen wollte, die Mangogul ihnen spielte. In dieser einzigen Nacht gab er seinem Ring mehr zu tun, als seit der ganzen Zeit, da er ihn vom Genius erhielt. Bald drehte er ihn gegen die, bald gegen jene, bald gegen zwanzig auf einmal; dann entstand ein schönes Lärmen.« Ein Kleinod schrie mit kreischender Stimme: »Geiger, bitte, den Kotillon von Dünkirchen!« Ein anders mit heiserem Ton: lieber die Saubriots! Ein drittes: nein, die Tricolets. Und eine Menge rief auf einmal nach Baureé, Quatre Faces, Le Pictolet, La Marieé und anderen abgeleierten Kontertänzen. Dazwischen gab es eine Million Possen von jeder Art. Hier rief eins: »Fort mit dem Taugenichts, man muß ihn in die Schule schicken!« Dort: »Ich soll also heimkehren, ohne eine Probe abzulegen?« An anderer Stelle: »wer zahlt mir meine Kutsche?« und drüben: »fort ist er, aber so soll er mir nicht entwischen!« und wieder wo anders: »nur gut! morgen früh! aber zwanzig Louis, sonst ist nichts zu machen!« Und so verriet jedes Wort entweder Willen oder Tat.

In diesem Getümmel erkannte eine junge niedliche Bürgerin den Sultan, verfolgte ihn, redete ihn an, neckte ihn und trieb es so lange, bis er seinen Ring gegen sie drehte. Sogleich hörte man ihr Kleinod ausrufen: »Warum fliehen Sie? Halten Sie doch, schöne Maske, seien Sie nicht unempfindlich gegen die Glut eines Kleinods, das für Sie brennt!« Den Sultan verdroß diese verwegene Liebeserklärung, er beschloß, die Unverschämte dafür zu bestrafen. Sogleich verschwand er, suchte unter seiner Leibgarde jemanden aus, der ungefähr von seiner Größe war, gab ihm seine Larve und seinen Domino und überließ ihn den Verfolgungen der kleinen Bürgerfrau, die immer durch den Schein getäuscht, dem, den sie für Mangogul hielt, tausend Torheiten zu sagen fortfuhr.

Der falsche Sultan war kein Narr; der Mann wußte durch Zeichen zu reden. Ein Zeichen von ihm lockte die Schöne an einen abgelegenen Ort, wo sie sich eine Stunde lang für die Favorit-Sultanin hielt, und Gott weiß, was für Pläne in ihrem Hirnchen reiften. Aber der Zauber dauerte nicht lange. Als sie den angeblichen Sultan mit Liebkosungen überhäuft hatte, bat sie ihn, sich zu entlarven. Das tat er und zeigte ihr ein Gesicht mit zwei riesigen Zähnen, die dem Sultan wahrlich nicht gehörten. »O pfui!« rief die kleine Bürgerfrau, »pfui!« – »Wasch fehlt dir, jungsch Wibel?« sagte der Schweizer. »Hon i dir nit guet gnu augewartet, dasch du bösch uf my schyescht?« Aber seine Göttin hielt sich mit keiner Antwort auf, entschlüpfte ihm schnell unter den Händen und verlor sich im Gedränge.

Den Kleinoden, die nicht nach so hohen Ehren trachteten, gelang es, Genuß zu finden, und alle kehrten sehr vergnügt über diesen Ausflug nach Banza zurück.

Die Redoute ging zu Ende, als Mangogul zwei seiner höchsten Offiziere heftig miteinander reden hörte. »Es ist meine Geliebte,« sagte einer, »mein seit einem Jahr, und Sie sind der erste, dem es einfällt, mir ins Gehege zu gehen. Warum wollen Sie mich stören, wo ich bin? Nasses, lieber Freund, wenden Sie sich doch an eine andere. Sie werden hundert Damen finden, die sich nur zu glücklich preisen werden, Ihnen anzugehören.« »Ich liebe Amine,« antwortete Nasses, »sie allein gefällt mir. Sie hat mir Hoffnung gemacht, und Sie werden erlauben, daß ich dieser Hoffnung Raum gebe.« »Hoffnungen?« fragte Alibey. – »Ja, Hoffnungen.« – »Bei Gott, das ist nicht wahr.« – »Es ist wahr, mein Herr, und Sie werden mir auf der Stelle Genugtuung dafür geben, daß Sie mich Lügen strafen.« Sogleich gingen sie die Haupttreppe hinunter. Schon waren ihre Säbel gezuckt, und der Streit wäre auf eine tragische Weise ausgetragen worden, wenn nicht der Sultan unter sie trat und ihnen verbot, sich zu schlagen, bevor sie ihrer Helena den Zwist vorgelegt hätten.

Sie gehorchten und verfügten sich zu Aminen, wohin Mangogul ihnen folgte. »Ich bin ermüdet von der Redoute,« sagte sie. »Mir fallen die Augen zu. Sie sind sehr grausam, meine Herren, daß Sie jetzt zu mir kommen, da ich gerade zu Bette gehen will. Aber Sie sehen beide so seltsam aus. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?« »Eine Kleinigkeit,« antwortete Alibey. »Der Herr dort«, und er zeigte auf seinen Freund, »rühmt sich, und sogar sehr laut, daß Sie ihm Hoffnungen gaben. Ist das wahr, gnädige Frau?« Amine öffnete den Mund, aber der Sultan drehte in diesem Augenblick seinen Ring gegen sie. Sie schwieg, und ihr Kleinod antwortete an ihrer Statt: »Herr Nasses dürfte sich irren. Nein, auf ihn hat es meine Gebieterin nicht gemünzt. Doch hat sie nicht einen stattlichen Bedienten, der mehr wert ist als er? Wie einfältig sind doch die Männer, zu glauben, daß Würde, Rang und Ehrenstellen, daß Titel, Namen und sinnlose Worte auf Kleinode Eindruck machen! Jeder hat seine Philosophie. Und die unsrige besteht hauptsächlich darin, das persönliche Verdienst, das wahre von dem eingebildeten zu unterscheiden. Herr von Claville mag mir's nicht übelnehmen, davon versteht er weniger als wir. Das will ich Ihnen beweisen.«

»Sie kennen beide,« fuhr das Kleinod fort, »die Marquise Bibicosa. Sie wissen um ihre Liebe zu Cleander und ihr Unglück, und wie sie sich jetzt hoher Andacht weiht. Amine ist eine treue Freundin; sie hat ihre Verbindung mit Bibicosen nicht aufgehoben und fährt fort, ihr Haus zu besuchen, wo man Brahminen von aller Art antrifft. Einer von ihnen drang einmal in meine Gebieterin, ein gutes Wort für ihn bei Bibicosa einzulegen.« »Was soll ich von ihr verlangen?« antwortete Amine. »Die Frau ist zugrunde gerichtet, sie kann für sich selber nichts. Sie würde Ihnen wahrlich Dank wissen, daß Sie ihr noch Einfluß bei Hofe zutrauen. Weder Fürst Cleander noch Mangogul werden ihretwegen etwas tun, und Sie könnten sich in den Vorsälen der Großen ein Bein erfrieren.« »Aber gnädige Frau,« antwortete der Brahmine, »es kommt hier nur auf eine Kleinigkeit an, die unmittelbar von der Marquise abhängt. Sie hat ein kleines Minarett in ihrem Palaste angelegt, unstreitig, um Sala darin lesen zu lassen. Dazu braucht sie einen Iman, diesen Posten möcht' ich gern bekleiden.« »Was sollte sie einen Iman brauchen?« versetzte Amine. »Sie braucht nur einen Marabu, den sie von Zeit zu Zeit rufen läßt, wenn es schlecht Wetter ist, oder wenn sie vor Schlafengehen Luft hat, Sala zu hören. Aber Bibicosa kann sich keinen Iman halten, der in ihrem Hause wohnt, ißt und trinkt, gekleidet wird und Gehalt bekommt. Ich kenne ihre Verhältnisse. Die arme Frau hat nicht sechstausend Zechinen Einkommen, und Sie verlangen, sie solle zweitausend an einen Iman verwenden? Das ist ein schöner Vorschlag!« – »Bei Brahma! das tut mir leid,« erwiderte der heilige Mann. »Denn sehen Ihre Gnaden nur, wär' ich erst ihr Iman gewesen, so hätt' ich mich bald noch unentbehrlicher machen wollen, und hat man es erst so weit gebracht, dann regnet's Geld und Gnadengehälter. Wie Sie mich hier sehen, bin ich aus Monomotapa und kenne meine Pflicht recht gut.« »Ach!« sagte Amine mit zitternder Stimme, »Ihre Angelegenheit ist dennoch nicht unmöglich. Schade, daß das Verdienst, von dem Sie reden, sich nicht ohne Prüfung voraussetzen läßt!« »O, wer sich meiner Landsleute annimmt,« sprach der von Monomotapa, »läuft keine Gefahr. Aber entscheiden Sie selbst!« Und in diesem Augenblick gab er Aminen den vollständigen Beweis seiner so bewundernswürdigen Geschicklichkeit, daß Sie in diesem Augenblick die Hälfte des Werts verloren, den sie Ihnen sonst beilegte. »Ach, es leben die Leute von Monomotapa!«

Alibey und Nasses schnitten lange Gesichter und sahen sich an, ohne ein Wort zu sagen. Endlich erholten sie sich von ihrem Erstaunen, umarmten sich, warfen einen verächtlichen Blick auf Aminen und sanken dem Sultan zu Füßen, um ihm zu danken, daß er sie von dieser Frau geheilt und ihnen Leben und wechselseitige Freundschaft erhalten habe. Sie kamen gerade an, als Mangogul zur Favorite zurückgekehrt war und ihr Aminens Geschichte wiedererzählte. Sie lachte darüber und gab deswegen nichts mehr auf die Damen des Hofes und auf die Brahminen.

Poppen nach Verdienst oder Stellung am Hofe

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Mittwoch, 5. März 2014
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 42
Selim. Selim. Selim


Mangogul dachte nur daran, wie er sein Vergnügen abwechseln und die Versuche seines Ringes vervielfachen könnte. Er hatte die merkwürdigsten Kleinode seines Hofes ausgefragt und war nunmehr neugierig, einige Kleinode aus der Stadt zu vernehmen. Was er aber durch sie erfahren dürfte, davon hatte er schon im voraus keine besondere Meinung, und hätte wohl gewünscht, sie nach seiner Bequemlichkeit vorladen zu können, ohne sich die Mühe zu geben, sie aufzusuchen.

Wie sollte er sie aber zusammentrommeln? Darüber war er in Verlegenheit. »Das ist wohl der Mühe wert, nachzusinnen,« sagte Mirzoza. »Geben Sie mir eine Freiredoute, gnädigster Herr, und ich verspreche Ihnen noch diesen Abend mehr Redner von dem Schlage, als Sie werden anhören mögen.«

»Freude meines Herzens, Sie haben recht,« antwortete Mangogul. »Ihr Vorschlag ist um so besser, weil er uns sicherlich nur solche verschafft, die mir in den Kram passen.« Alsbald erhalten der Kiflar-Ugasi und der Schatzmeister Befehl, das Fest anzuordnen und nur viertausend Billette auszugeben. Wahrscheinlich verstand man dort besser als anderswo, wie vielen Raum viertausend Menschen einnehmen. Bis die Stunde der Redoute herankam, sprachen Mangogul, die Favorite und Selim über Neuigkeiten. »Wissen Ihro Gnaden,« fragte Selim die Favorite, »daß der arme Codindo gestorben ist?« »Das erste Wort, was ich höre! Woran ist er gestorben?« sagte die Favorite. »Leider, gnädige Frau,« antwortete Selim, »ist er ein Opfer der anziehenden Kraft geworden. Auf dieses System war er von Jugend an versessen, und auf seine alten Tage wurde er darüber verrückt.« »Wie das?« fragte die Favorite.

»Halley und Circino, zwei berühmte Sternkundige von Monoemugi, hatten berechnet, ein gewisser Komet, der gegen das Ende der Regierung Kanoglus großes Aufsehen machte, müsse vorgestern wieder erscheinen. Codindo befürchtete, dieser Komet möchte seinen Schritt beschleunigen und ihm die Ehre rauben, seiner zuerst gewahr zu werden. Daher entschloß er sich, die Nacht auf der Sternwarte zuzubringen, und sah noch gestern morgen um neun Uhr unverwandt durch das Fernrohr.«

Sein Sohn befürchtete, eine so lange Sitzung könne dem Vater nachteilig werden, näherte sich ihm um acht Uhr und zupfte ihn am Ärmel: »Vater! Vater!« Keine Antwort. »Vater! Vater!« wiederholte der junge Codindo. »Er muß gleich kommen,« antwortete Codindo, »er wird gleich kommen. Er soll mir wahrhaftig nicht entgehn.« – »Das ist unmöglich, Vater, es nebelt viel zu stark.« – »Ich will ihn sehn und ich muß ihn sehn.«

Diese Antworten überzeugten den jungen Menschen, daß es bei seinem Vater rapple. Er rief um Hülfe, man kam. Er ließ Tarfadi aufsuchen, man fand ihn bei mir, es ist mein Arzt. »Geschwind, geschwind, Herr Doktor, verlieren Sie keine Zeit; der alte Herr Codindo.« – »Nun, Johann? was fehlt deinem Herrn?« – »Er ist närrisch geworden.« – »Dein Herr verrückt?« – »Ach! leider, es ist gewiß. Er ruft immer, er will Tiere sehen, es müßten welche kommen! Der Herr Apotheker ist schon da, und man erwartet Sie ebenfalls. Kommen Sie schnell!« – »Tollheit!« sagte Farfadi, und suchte seinen Doktorhut. »Tollheit, ein schrecklicher Anfall von Tollheit!« Dann zum Bedienten: »Johann,« fragte er, »sieht dein Herr nicht auch Schmetterlinge? Zupft er nicht kleine Flocken aus seiner Bettdecke?« »Ach nein, Herr Doktor,« antwortete Johann. »Mein armer Herr sitzt oben auf der Sternwarte. Seine Frau, seine Töchter und sein Sohn halten ihn bei allen vieren. Kommen Sie schnell; Ihren Doktorhut können Sie morgen suchen.« Codindos Krankheit schien mir zum Lachen. Farfadi stieg in meinen Wagen, und wir fuhren zusammen zur Sternwarte. Unten an der Treppe hörten wir schon Codindo wie besessen rufen: »Ich will den Kometen sehn! Ich muß ihn sehn. Laßt mich ungeschoren!«

Wahrscheinlich hatte seine Familie, da sie ihn nicht bereden konnte, herabzusteigen, sein Bett oben auf den Turm gebracht, denn wir fanden ihn im Bette. Man hatte den nächsten Apotheker herbeigeholt und den Brahminen des Kirchensprengels, der ihm, als wir kamen, in die Ohren rief: »Bruder, lieber Bruder, bedenken Sie, es geht ums Seelenheil! Sie können um diese Stunde mit gutem Gewissen keinen Kometen erwarten. Sie kommen sonst in die Hölle.« »Das ist meine Sache,« sagte Codindo. »Was werden Sie zu Brahma sagen, vor dem Sie nun bald erscheinen müssen?« fing der Brahmine wieder an. »Herr Pfarrer,« versetzte Codindo und sah mit keinem Auge vom Fernrohr weg, »ich werde ihm sagen, daß es Ihr Amt ist, mich für mein Geld zu ermahnen und das des Herrn Apothekers, mir sein warmes Wasser anzupreisen; daß mein Herr Arzt seine Schuldigkeit tut, wenn er mir den Puls fühlt und nichts davon versteht, und daß ich meine Pflicht tue, wenn ich den Kometen erwarte.« Trotz aller Anstrengung brachte man kein anders Wort aus ihm. Er fuhr heldenmütig fort zu beobachten und starb in der Regenrinne, die linke Hand auf das linke Auge, die rechte am Fernrohr haltend, das rechte Auge auf das Okularglas gerichtet. Um ihn standen sein Sohn, der ihm zurief, er habe sich verrechnet; sein Apotheker, der ihm vorschlug, etwas einzunehmen, sein Arzt, der den Kopf schüttelte und behauptete, es sei nichts mehr zu machen; und sein Beichtvater, der ihn aufforderte, sich zu bekehren und seine Seele Brahma zu befehlen.

»Das heiße auf dem Bette der Ehren sterben,« sagte Mangogul. »Mag der arme Codindo in Frieden ruhn,« sprach Mirzoza, »und reden wir von etwas Lustigerem.« Darauf wandte sie sich gegen Selim: »Sie haben Ihre besten Jahre hier zugebracht, Sie liebten die Frauenzimmer, Sie lebten an einem Hofe, wo das Vergnügen zu Hause ist. Mit Ihrem Witz, Ihrem Verdienst und dem guten Ansehn, das Ihnen zuteil ward, ist es nicht zu verwundern, daß die Kleinode Ihr Lob gesungen haben: ich vermute sogar, daß sie nicht alles angegeben haben, was sie von ihnen wußten. Nun verlang' ich zwar von Ihnen darüber keinen Nachtrag: Sie könnten Ihre guten Ursachen haben, dies Ansinnen von sich abzulehnen. Aber nach allen Abenteuern, die diese Geschöpfe auf Ihre Rechnung schreiben, müssen Sie ein Kenner des weiblichen Geschlechts sein: das können Sie doch ohne Zweifel zugeben?«

»Diese Schmeichelei, gnädige Frau,« antwortete Selim, »würde meiner Eigenliebe sehr gefallen haben, da ich zwanzig Jahr alt war. Aber jetzt besitz' ich Erfahrung und halte keine Bemerkung für so sicher, als die: je mehr man dies Handwerk treibt, je dunkler wird's einem. Ich ein Weiberkenner? Bloß studiert hab ich sie.« »Gut also, was halten Sie von ihnen?« fragte die Favorite. »Ich denke, gnädige Frau, daß alle Weiber meine Achtung verdienen, ihre Kleinode mögen sagen was sie wollen.«

»Wahrhaftig, mein Lieber,« sagte Mangogul, »Sie verdienten selbst ein Kleinod zu sein.« »Sie hätten keinen Maulkorb nötig. Selim,« setzte die Favorite hinzu, »geben Sie den satyrischen Ton auf und sagen Sie uns die Wahrheit.« »Gnädige Frau,« antwortete der Hofmann, »in der Schilderung, die ich entwerfen soll, möchten unangenehme Züge vorkommen: erlassen Sie mir die Notwendigkeit, ein Geschlecht zu beleidigen, das mich immer gut behandelt hat und dem ich schon deswegen Ehrfurcht schuldig bin.« – »Ehrfurcht hin, Ehrfurcht her,« unterbrach ihn Mirzoza, »nichts ist so scharf als die sanftmütigen Männer, wenn sie's darauf anlegen!« Sie bildete sich nämlich ein, Selim sei aus Achtung für sie zurückhaltend, und fuhr fort: »Lassen Sie sich durch meine Gegenwart nicht abschrecken; wir wollen uns hier ja unterhalten. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich will alles auf mich deuten, was Sie verbindliches von meinem Geschlecht sagen werden, und das übrige andern Frauenzimmern überlassen. Sie haben also die Frauen gut studiert? Schön, erzählen Sie die Geschichte Ihrer Studien; sie muß glänzend sein, nach dem bekannten Erfolg zu urteilen, und man darf wohl annehmen, daß Sie nicht durch das, was uns davon unbekannt blieb, Lügen gestraft werden.« Der alte Höfling gab ihrem Drängen nach und begann folgendermaßen:

»Die Kleinode haben viel von mir gesprochen, das gesteh' ich. Aber sie haben nicht alles gesagt. Die meine Geschichte vollständig machen könnten, leben nicht mehr, oder leben nicht in unserm Himmelsstrich, und die sie angefangen haben, erwähnten ihrer nur obenhin. Bis jetzt hab' ich das unverbrüchliche Geheimnis beobachtet, das ich ihnen versprach, obwohl ich eher zum plaudern gemacht war als sie: da sie aber das Schweigen gebrochen haben, so scheint es, sie entbinden auch mich der Verschwiegenheit.

Geboren mit feurigem Temperament, wußte ich kaum, was ein schönes Weib sei, als ich es liebte. Meine Erzieherinnen verabscheut' ich freilich, dagegen ließ ich mir meiner Mutter Kammermädchen wohl gefallen. Sie waren mehrenteils jung und hübsch. Sie unterhielten, kleideten und entkleideten sich in meiner Gegenwart ohne Scheu, forderten mich sogar auf, mir Freiheiten bei ihnen herauszunehmen und bei meiner natürlichen Anlage zur Galanterie ließ ich mir das nicht zweimal sagen. Diese Kenntnisse begleiteten mich in meinem fünften oder sechsten Jahr unter die Hand männlicher Erzieher, und Gott weiß, wie sehr sie sich vermehrten, als man mir die alten Dichter gab und meine Lehrer einige Stellen daraus verdolmetschten, deren Sinn sie vielleicht selber nicht faßten. Meines Vaters Edelknaben lehrten mich einige Schulstückchen und borgten mir die Aloysia zum Lesen, was meinen Trieb nach Vervollkommnung noch vermehrte. Ich war damals vierzehn Jahr alt.

Ich blickte um mich und suchte unter den Frauenzimmern, die in unser Haus kamen, an wen ich mich wenden sollte; aber alle schienen mir gleich geschickt, mich einer Unschuld zu entledigen, die mir lästig ward. Ein Anfang von Bekanntschaft und mehr noch der Mut, den ich in mir fühlte, eine Person von meinen Jahren anzugreifen, was ich gegen Erwachsene nicht wagte, bestimmten mich, eine meiner Muhmen zu wählen. Emilie war jung, ich auch; ich fand sie reizend und gefiel ihr; sie war nicht schwierig, ich unternehmend; ich hatte Lust zu lernen, sie war nicht minder begierig zu wissen. Wir legten uns oft sehr naive und starke Fragen vor: eines Tages hinterging sie die Wachsamkeit ihrer Erzieherinnen, wir unterrichteten uns. Ach, was für eine große Lehrmeisterin ist die Natur! Sie ließ uns bald den Genuß entdecken und wir überließen uns ihren Trieben, ohne deren Folgen einigermaßen zu ahnden. Das war nicht das Mittel ihnen vorzubeugen. Emilie bekam Übelkeiten, die sie um so weniger verbarg, als sie ihre Ursache nicht argwohnte. Die Mutter fragte sie aus, entriß ihr das Geständnis unsers Umgangs und mein Vater erfuhr davon. Der gab mir einen Verweis deswegen, wobei er aussah, als ob es ihm nicht leid täte, und alsbald ward ausgemacht, daß ich reisen sollte. Mich begleitete ein Hofmeister, mit dem Auftrage, meine Aufführung sorgfältig zu beobachten, ohne sie einzuschränken: und fünf Monate hernach erfuhr ich durch die Zeitung, Emilie sei an den Blattern gestorben, und durch einen Brief meines Vaters, die Zärtlichkeit, die sie für mich empfunden, koste ihr das Leben. Der erste Sprößling meiner Liebe dient jetzt mit Ehren im Heere Ihrer Hoheit: mein Einfluß hat ihn immer unterstützt und noch kennt er mich nur als seinen Gönner.

Die Nachricht von seiner Geburt und seiner Mutter Tod erhielt ich in Tunis. Sie erschütterte mich heftig, und ich glaube, ich wäre darüber nicht zu trösten gewesen, hätt' ich nicht gerade eine Liebschaft mit der Frau eines Korsaren gehabt, die mir keine Zeit ließ zu verzweifeln. Die Tuniserin war unerschrocken ich verrückt. Alle Tage warf sie mir die Strickleiter zu, worauf ich aus unsrer Wohnung auf ihren Altan stieg und von da in ein Kabinett, wo sie mich vervollkommnete, denn bei Emilien blieb ich im ersten Entwurf. Ihr Mann kehrte gerade von einer weiten Reise zurück, als mein Hofmeister, der seine Instruktion befolgte, in mich drang, nach Europa zu gehen. Ich setzte mich auf ein Schiff, das nach Lissabon abging, aber vorher beurlaubte ich mich mehr als einmal zärtlich bei Elviren, die mir den Diamanten gab, den Sie hier sehen.

Unser Schiff hatte viel Waren an Bord, aber nach meinem Geschmack war die Frau des Kapitäns die kostbarste. Sie zählte kaum zwanzig Jahre, ihr Mann war eifersüchtig wie ein Tiger, und nicht ganz ohne Ursache. Bald verstanden wir uns untereinander. Donna Velina begriff auf einmal, daß sie mir gefiele, ich, daß ich ihr nicht gleichgültig, ihr Gemahl, daß er uns im Wege sei. Der Seemann entschloß sich, sie niemals aus den Augen zu lassen, bis wir im Hafen von Lissabon ankommen würden. Ich las in den Augen seiner teuren Gattin, wie leid es ihr sei, so von ihrem Manne belagert zu werden. Die meinigen sagten ihr eben das, und der Ehemann erriet uns ohne Mühe. Zwei Tage dursteten wir unaussprechlich nach Genuß und wären sicherlich vor Durst verschmachtet, hätte sich der Himmel nicht ins Spiel gemischt. Aber der steht immer den Bedrängten bei. Kaum waren wir durch die Meerenge von Gibraltar gesegelt, als ein wütender Sturm sich erhob. Wäre es hier nicht um Geschichte zu thun, so würde ich nicht unterlassen, gnädige Frau, die Winde um Ihre Ohren pfeifen und den Donner über Ihr Haupt rollen zu lassen, den Himmel mit Blitzen zu entzünden, die Wogen bis an die Wolken zu schleudern und Ihnen den fürchterlichsten Sturm zu schildern, der Sie jemals in einem Roman betroffen hat. Jetzt begnüg' ich mich, Ihnen zu sagen, daß der Kapitän durch das Geschrei der Matrosen gezwungen ward, seine Kajüte zu verlassen und sich einer Gefahr auszusetzen, um der andern zu entgehen. Mein Hofmeister begleitete ihn, und ich stürzte mich ohne Bedenken in die Arme der schönen Portugiesin, vergaß gänzlich Meer, Sturm, Ungewitter und das zerbrechliche Schiff und überließ mich rückhaltlos dem treulosen Element. Unsre Fahrt war schnell, und Ihro Gnaden ermessen leicht, daß man in wenig Stunden weit kommt, wenn der Wind in die Segel stößt. Wir stiegen in Cadix ans Land, wo ich meiner Sennora versprach, sie zu Lissabon wieder aufzusuchen, wenn es mir mein Mentor erlauben würde, dessen Absicht gerade nach Madrid ging.

Die Spanierinnen sind viel eingezogner und verliebter als unsre Damen. Dort pflegt man der Liebe durch Botschafterinnen, die den Auftrag haben, die Fremden auszuspähen, ihnen Anträge zu machen, sie hin- und zurückbegleiten; und die Damen nehmen die Mühe auf sich, sie zu beglücken. Der Zufall fügte es, daß ich dieser Umstände nicht bedurfte. Eine große Revolution hatte einen französischen Prinzen auf den Thron dieses Landes versetzt; seine Ankunft und seine Krönung veranlaßten Feierlichkeiten am Hofe, bei denen ich erschien. Man sprach zu mir auf einer Redoute, man schlug mir eine Zusammenkunft für den folgenden Tag vor; ich nahm sie an und begab mich in ein abgelegenes Haus, wo ich einen verlarvten Menschen fand, bis an die Nase in seinen Mantel gehüllt, der mir ein Briefchen zusteckte, wodurch Donna Oropesa unsre Unterhaltung auf die nämliche Stunde des morgenden Tages verschob. Ich fand mich wieder ein und ward in ein prächtig möblirtes, von Wachskerzen erleuchtetes Zimmer geführt. Meine Göttin ließ nicht auf sich warten. Sie folgte mir auf dem Fuß und warf sich in meine Arme, ohne ein Wort zu sprechen oder ihre Larve abzulegen. War sie häßlich? war sie schön? Das wußte ich nicht. Nur auf dem Sofa, wohin sie mich führte, ward ich gewahr, daß sie jung und gut gebaut sei und das Vergnügen liebte. Als sie meiner Lobeserhebungen genug hatte, entlarvte sie sich und zeigte mir das Original des Gemäldes, das Sie auf dieser Dose sehn.«

Selim zog, indem er dies sagte, eine trefflich gearbeitete goldne Dose, mit Edelsteinen besetzt, hervor. »Das ist ein schönes Geschenk,« sagte Mangogul. »Das Gemälde darauf ist mir das schätzbarste,« sagte die Favorite. »Was für Augen! Welch ein Mund! Welch ein Busen! Ist dabei nichts geschmeichelt?« »So wenig, gnädige Frau,« antwortete Selim, »daß mich Oropesa vielleicht in Madrid festgehalten hätte, wenn ihr Gemahl, der unsern Umgang erfuhr, ihn nicht durch seine Drohungen unterbrach. Oropesa war mir lieb, das Leben war mir lieber. Auch schien mein Hofmeister nicht geneigt, mich den Dolchstichen des Mannes auszusetzen, damit ich seine Frau einige Monate länger genösse. So schrieb ich also der schönen Spanierin ein rührendes Lebewohl, das ich einem Roman ihres Landes entlehnte, und reiste nach Frankreich.«

Der Monarch, der damals Frankreich beherrschte, war Großvater des Königs von Spanien, und sein Hof galt mit Recht für den prächtigsten, gesittetsten und liebeseligsten von Europa. Ich erschien wie ein Naturphänomen. »Ein junger Herr aus Congo?« sagte eine schöne Marquise. »Das muß doch sehr spaßhaft sein. Da gibt's ganz andre Männer als bei uns. Congo liegt, denk' ich, nicht weit von Marokko.« Man veranstaltete meinetwegen Gesellschaften. Sprach ich auch nur ein ganz wenig vernünftiges Wort, so fand man mich aufgeklärt und wunderbar frei. Man pries mich um so lauter, weil man mir anfangs die Ehre erzeigt hatte, zu argwöhnen, ich habe keinen Menschenverstand. »Er ist allerliebst!« rief eine andre Hofdame mit Lebhaftigkeit. »Es ist ein wahrer Mord, daß ein so hübsch gebildeter junger Mann in ein Land zurückkehren soll, wo die Frauenzimmer von Männern bewacht werden, die keine Männer sind!« »Ist das wohl wahr, mein Herr? Man sagt, sie haben garnichts. Das muß einem Manne übel stehn.« »Wir müssen sehn,« sagte eine andre, »wie wir den Jungen hier unter bringen. Er ist ja von gutem Hause. Wenn alles fehlschlägt, wird er Maltheser-Ritter. Ich wills auf mich nehmen, ihn zu versorgen; und die Herzogin Viktoria, meine Freundin von jeher, kann im Notfall bei dem König selbst für ihn sprechen.«

Bald hatt' ich unverdächtige Beweise ihres Wohlwollens. Ich setzte die Marquise in den Stand, das Verdienst der Einwohner von Congo und Marokko zu beurteilen: »aber ich erfuhr, der Posten, den die Herzogin und ihre Freundin mir versprochen hatten, sei schwer auszufüllen, und gab ihn auf. Hier lernt' ich einer hohen Leidenschaft vier und zwanzig Stunden nachhängen. Sechs Monate lang trieb ich mich wie in einem Wirbel umher, wo eine Liebschaft anfing, ehe die andre ein Ende nahm, wo man nichts suchte als Genuß. Verzögerte sich der, oder war er erlangt, so flog man neuen Freuden zu.«

»Was sagen Sie, Selim?« antwortete die Favoriti. »Anstand ist also in diesem Lande unbekannt?« »Vergeben Sie mir, gnädige Frau,« antwortete der alte Höfling. »Man führt kein Wort so häufig im Munde. Aber Sklavinnen der Sache sind die Französinnen so wenig als ihre Nachbarinnen.« »Was für Nachbarinnen?« fragte Mirzoza. »Die Engländerinnen,« versetzte Selim, »kalt und spröde dem Anschein nach, aber heftig, wollüstig und rachsüchtig; minder witzig, aber vernünftiger als die Französinnen. Diese lieben das Geschwätz der Empfindungen, jene ziehen den Ausdruck des Genusses vor. Doch liebt man zu London wie zu Paris, verläßt sich und verbindet sich aufs neue, um sich aufs neue zu verlassen. Ich vertauschte die Tochter eines Lord Bishop – das ist eine Art verheirateter Brahminen – gegen die Frau eines Ritters Baronet. Unterdes er sich im Parlament erhitzte, um die Sache seines Volkes gegen die Eingriffe des Hofes zu verteidigen, hatten seine Gattin und ich zu Hause ganz andre Debatten. Aber das Parlament endigte seine Sitzungen, und Mylady war gezwungen, ihrem Baronet auf seinen Landsitz zu folgen. Da verfiel ich auf die Gemahlin eines Obersten, dessen Regiment in einem Seehafen in Garnison lag. Endlich gehört' ich der Frau des Lordmajors. Ach, welch eine Frau! Nie hätt' ich Congo wieder gesehen, wenn mich nicht die Klugheit meines Hofmeisters, der mich hinschwinden sah, dieser Galeere entriß. Er erdichtete Briefe meiner Familie, die meine Rückkunft sehnlich verlangte, und wir schifften uns nach Holland ein, von wannen wir durch Deutschland gehn und uns nach Italien begeben wollten, wo es uns nicht an Gelegenheit fehlen konnte, nach Afrika zurückzukehren.«

Wir sahen Holland bloß auf der Extrapost und hielten uns in Deutschland nicht viel länger auf. Alle Frauenzimmer von Stande glichen dort wichtigen Festungen, die man förmlich belagern muß. Sie ergeben sich endlich, aber man muß sich ihnen mit großer Vorsicht nähern; und es gibt so viele Wenn und Aber als Bedingungen der Übergabe, daß mir diese Eroberungen bald Langeweile machten.

Nie werd' ich die Worte einer Deutschen von hohem Range vergessen, als sie im Begriff war, mir einzuräumen, was sie vielen andern nicht abgeschlagen hatte: »Ach!« rief sie mit Thränen, »was würde der große Alziki, mein Vater, sagen, wenn er wüßte, daß ich mich einem unbedeutenden Congoer überlasse!« »Er soll nichts sagen, gnädige Frau,« versetzt' ich. »So viel Größe setzt mich in Erstaunen, und ich ziehe mich ehrfurchtsvoll zurück.« Daran tat ich sehr weislich; ich möchte ein Andenken davongetragen haben, wenn ich Ihre Hoheit mit meiner Niedrigkeit bloßgestellt hätte. Brama, der unser gesundes Land in seine Obhut nimmt, war im Geiste mit mir in dieser mißlichen Stunde.

Die Italienerinnen, mit denen wir hernach zu tun hatten, sind nicht so hochnäsig. Sie unterrichteten mich in den verschiedenen Arten des Vergnügens. Es liegt oft in diesen verfeinerten Genüssen viel Launenhaftigkeit und Seltsamkeit; aber, meine Damen, Sie werden mir verzeihen, das muß zuweilen sein, um Ihnen zu gefallen. Ich habe aus Florenz, Venedig und Rom verschiedene Freudenrezepte mitgebracht, die mein barbarisches Vaterland vor meiner Rückkunft nicht kannte. Der Ruhm dieser Neuerung gebührt den Italienerinnen.

Ungefähr vier Jahre hatte ich in Europa zugebracht und kehrte ausgebildet, wie Sie sehen, und mit den seltenen italienischen Entdeckungen bereichert, die ich ohne Säumen bekannt machte, durch Ägypten in unser Reich zurück.

Hier, sagte der gelehrte Afrikaner, bemerkte Selim, daß die abgedroschenen Bemerkungen, die er der Favorite über seine europäischen Reisen und über den Charakter der Weiber der von ihm bereisten Länder auskramte, den Sultan in tiefen Schlummer gewiegt hatten; und weil er fürchtete, ihn aufzuwecken, näherte er sich der Sultanin und fuhr mit leiserer Stimme fort:

»Gnädige Frau, müßt' ich nicht besorgen, Sie durch einen Bericht ermüdet zu haben, der vielleicht nur allzulang gewesen ist, so würd' ich Ihnen noch mein erstes Abenteuer in Paris erzählen, von dem ich nicht begreife, wie es mir vorhin entfalle konnte.«

»Tun Sie das, lieber Selim«, antwortete die Favorite. »Ich will meine Aufmerksamkeit verdoppeln und Sie, so viel an mir ist, für die des schlafenden Großherrn entschädigen.«

»Wir brachten,« fuhr Selim fort, »von Madrid Empfehlungsschreiben an einige französische Herren mit und kamen auf die Art gleich bei unsrer Ankunft in gute Gesellschaft. Es war gerade in der guten Jahreszeit, und mein Hofmeister und ich gingen des Abends gewöhnlich im Palais Royal spazieren. Da wurden wir einst dort von einigen Stutzern angeredet, die uns die hübschesten Damen nachwiesen, ihre wahre oder falsche Geschichte erzählten und sich selbst nicht dabei zuletzt erwähnten, wie Sie leicht denken können. Schon waren sehr viel Frauenzimmer im Garten, aber gegen acht Uhr bekamen sie eine ansehnliche Verstärkung. Nach der Menge ihrer Edelsteine, der Pracht ihrer Kleidung und ihrem zahlreichen Gefolge hielt ich sie wenigstens für Herzoginnen. Ich sagte meine Gedanken einem jungen Herrn aus der Gesellschaft, der mir antwortete, er merke wohl, daß ich ein Kenner sei; wenn ich aber wollte, könnte ich das Vergnügen haben, noch am nämlichen Abend mit einigen der liebenswürdigsten zusammen zu speisen. Ich nahm sein Anerbieten an; sogleich raunte er zweien oder dreien seiner Freunde etwas ins Ohr, die sich unter die Spaziergänger zerstreuten und in weniger als einer Viertelstunde zurückkamen, Rechenschaft von ihrer Unterhaltung abzulegen.«

»Meine Herren,« sagten sie, »man erwartet Sie zum Nachtessen bei der Herzogin Asteria.« Die nicht eingeladen waren, priesen laut unser Glück; man ging noch einigemal auf und ab; man trennte sich, und wir warfen uns in unsern Wagen, um dieses Glück zu genießen.

Wir hielten an einer kleinen Tür am Fuß einer engen Treppe, die wir bis in den zweiten Stock hinaufstiegen, wo ich die Zimmer geräumiger und besser möbliert fand, als sie mir jetzt vorkommen würden. Man stellte mich der Frau vom Hause vor, der ich eine sehr tiefe Verbeugung und ein so ehrfurchtsvolles Kompliment machte, daß sie beinahe die Fassung darüber verlor. Es ward aufgetragen, und man setzte mich neben eine junge reizende Person, die die Herzogin spielte, so gut sie konnte. Wahrhaftig, ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, mich in sie zu verlieben; und doch passierte mir das. »Sie haben also einmal in Ihrem Leben geliebt?« fragte die Favorite. »Ja, gnädige Frau,« antwortete Selim, »wie man eben mit achtzehn Jahren liebt, mit jener außerordentlichen Ungeduld, eine angesponnene Liebschaft zu Ende zu bringen. Ich schlief die Nacht nicht, und sobald der folgende Morgen graute, entwarf ich den zärtlichsten Liebesbrief an meine schöne Unbekannte. Ich schickt' ihn fort, man antwortete und bewilligte mir ein Stelldichein. Weder der Ton der Antwort noch die Nachgiebigkeit der Dame enttäuschten mich, und ich eilte an den bestimmten Ort mit der festen Überzeugung, ich werde die Frau oder Tochter eines Premierministers besitzen. Meine Göttin erwartete mich auf einem breiten Sofa. Ich warf mich zu ihren Füßen. Ich ergriff ihre Hand, küßte sie mit lebhafter Zärtlichkeit und wünschte mir Glück zu der Gewogenheit, die sie mir bezeugte.« »Ist es auch wirklich wahr,« sagte ich, »daß Sie Selim erlauben, Sie zu lieben und es Ihnen zu sagen? Darf er, ohne Sie zu beleidigen, sich mit so süßer Hoffnung schmeicheln?«

So sprach ich und drückte einen Kuß auf ihren Busen. Da sie liegen blieb, rüstete ich mich eifrig, diesem Anfang unsrer Unterhaltung Nachdruck zu geben, aber sie hielt mich auf und sprach: »Halt, halt, guter Freund, du bist ein schöner Junge, du hast viel Witz, du sprichst wie ein Engel, aber ich brauche vier Louis.« »Was sagen Sie?« fragte ich. »Ich sage dir,« antwortete sie, »wenn du mir nicht vier Louis gibst, so ist nichts zu machen ...« »Wie, Mamsell!« rief ich mit Erstaunen aus, »Sie sind nicht mehr wert? Das lohnte sich wahrlich der Mühe, von Congo herzukommen!« Sogleich bring' ich mich wieder in Ordnung, stürze die Treppe hinunter und eile fort.

»Sie sehen, gnädige Frau, in meiner ersten Zeit hielt ich Figurantinnen für Prinzessinnen.« »Das nimmt mich sehr Wunder,« versetzte Mirzoza, »der Unterschied ist doch außerordentlich groß.« »Ich zweifle nicht daran,« erwiderte Selim, »daß Ihnen tausend Ungeschicklichkeiten entschlüpften. Aber was wollen Sie? Ein Fremder, ein junger Mensch sieht darauf nicht so genau. Man hatte mir in Congo so viel schlechte Geschichten über die Freiheit der Europäerinnen erzählt ...« So weit kam Selim, als Mangogul erwachte: »Ich glaube, Gott verdammt mich!« sagte er, gähnte und rieb sich die Augen, »er befindet sich noch immer zu Paris. Darf man Sie fragen, Herr Schönredner, wann Sie hoffen, wieder in Banza anzulangen, und ob ich noch lange schlafen soll? Denn Sie müssen wissen, mein lieber Freund, daß es unmöglich ist, in meiner Gegenwart eine Reise zu beginnen, ohne mir eine Anwandlung von Gähnen zu verursachen. Das ist eine üble Gewohnheit, die ich angenommen habe, seitdem ich Tavernier und andere lese.«

»Gnädigster Herr,« antwortete Selim, »ich bin schon seit einer Stunde wieder in Banza.«

»Dazu wünsch' ich Ihnen Glück,« versetzte der Sultan. Darauf wandte er sich zur Favorite: »Madam, die Stunde des Balles ist da; verfügen wir uns dahin, wenn die Ermüdung der Reise es Ihnen zuläßt.«

»Gnädigster Herr,« antwortete Mirzoza, »ich bin bereit.« Mangogul und Selim hatten schon ihre Dominos, die Favorite nahm den ihrigen. Der Sultan gab ihr die Hand, und sie begaben sich in den Ballsaal, wo sie sich trennten, um sich in der Menge zu zerstreuen. Selim folgte ihnen, »und ich auch,« sagt der gelehrte Afrikaner, »obwohl ich mehr Lust hatte zu schlafen, als tanzen zu sehen.«
Poppen durch die Fürstenhöfe Europas (nebst der Begegnung mit einer Professionellen in Paris)

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Montag, 3. März 2014
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 41
Fanny

Die Unterhaltung war früher zu Ende als der Tag. Darum entschloß sich Mangogul, vor Abend noch einen Versuch mit seinem Ringe zu machen, wäre es auch nur, um sich mit fröhlicheren Gedanken zu Bette zu legen, als die ihn bisher beschäftigt hatten. Er begab sich alsobald zu Fanny, aber er fand sie nicht. Nach dem Nachtmahl kam er wieder hin, sie war aber immer noch abwesend. Also verschob er seine Prüfung auf den andern Morgen.

»Heute war Mangogul,« sagt der gelehrte Afrikaner, dessen Tagebuch wir übersetzen, »um halb zehn Uhr bei Fanny.« Man hatte sie eben zu Bette gebracht. Er trat an ihr Bett, betrachtete sie eine Zeitlang und konnte nicht begreifen, wie sie mit so wenig Reizen so viele Abenteuer hatte erleben können.

Fanny ist so blond, daß sie infolgedessen nichtssagend aussieht; groß, schlottrig, hat einen unanständigen Gang, ausdruckslose Züge, wenig Anmut, ein Gesicht von einer Keckheit, die nur bei Hofe erträglich ist; gerade so viel Verstand, als die Gewohnheit, zu lieben und sich lieben zu lassen, gewähren kann. Eine Frau müßte außerordentlich dumm von Natur sein, wenn sie nach zwanzig Liebeshändeln nicht wenigstens des alltäglichen Geschwätzes Meisterin wäre; denn so weit hatte es Fanny schon gebracht.

Ganz zuletzt war sie einem Manne zuteil geworden, der ihrem Charakter ganz angemessen war. Ihre Untreue machte ihm wenig Kummer, obwohl er nicht so gut wie die ganze Welt davon unterrichtet war, wie sie es trieb. Eine Grille führte sie ihm zu, aus Gewohnheit behielt er sie bei sich, und sie führte ihm den Haushalt. Sie hatten die Nacht durch getanzt, waren um neun Uhr zu Bette gegangen und ohne weiteres eingeschlafen.

Alonsos Gleichgültigkeit würde Fanny minder gepaßt haben, wäre nicht eben deswegen so gut mit ihm auszukommen gewesen. Unsere beiden Leutchen schliefen also Rücken an Rücken recht fest, als der Sultan seinen Ring gegen Fannys Kleinod drehte. Sogleich fing es an zu reden, seine Gebieterin zu schnarchen und Alonso zu erwachen.

Nach vielem Gähnen: »Das ist nicht Alonso. Was ist die Glocke? Was soll ich? Mich deucht, ich bin erst eben ein wenig eingeschlummert. Man lasse mich in Ruh!«Das arme Ding wäre gern wieder eingeschlafen, aber das war nicht des Sultans Absicht. »Welch eine Belästigung?« fing das Kleinod wieder an. »Noch einmal, was soll ich? Wehe dem, der erlauchte Ahnen hat! Ein Kleinod von Stande befindet sich in einer dummen Lage. Könnte mich etwas über die Beschwerden meines Standes trösten, so wäre es die Gutherzigkeit des Herrn, dem ich angehöre. O, in dem Stück ist er der beste Mann von der Welt. Er hat uns nie den mindesten Seitensprung gemacht, wir aber haben dagegen auch unsre Freiheit trefflich ausgenutzt. Beim Brahma! was hätt' ich anfangen sollen, wenn ich einem der abgeschmackten Kerle zuteil geworden wäre, die nichts tun als auflauern? Das würde ein schönes Leben gegeben haben!«

Hier fügte das Kleinod einige Worte hinzu, die Mangogul nicht verstand, und entwarf darauf mit unbegreiflicher Geschwindigkeit eine Menge heroischer, komischer, burlesker, tragikomischer Auftritte, die es ganz außer Atem brachten, darauf fügte es hinzu: »Sie sehn, ich habe kein schlechtes Gedächtnis. Aber es geht mir wie allen, ich behalte doch nur das Wenigste von dem, was man mir anvertraut. Also seien Sie mit dem Erzählten zufrieden, auf mehr entsinne ich mich nicht.«

»Das ist auch genug,« sprach Mangogul zu sich selbst. Doch drehte er immer fort. »Ach, was sind Sie neugierig!« hob das Kleinod wieder an. »Als ob man sonst nichts zu tun hätte, als zu plaudern! Aber meinetwegen weiter, wenn es einmal sein muß: ich hoffe doch, wenn ich alles gesagt habe, wird es gestattet sein, etwas anderes zu tun.«

»Fanny, meine Gebieterin,« fuhr das Kleinod fort, »bekam den unerklärlichen Einfall, der Welt zu entsagen, verließ den Hof und schloß sich in ihr Haus zu Banza ein. Es war gerade in den ersten Herbstwochen, und niemand befand sich in der Stadt. Was machte sie denn in der Stadt? fragen Sie. Das weiß ich wahrhaftig nicht. Aber Fanny hat immer nur eins gemacht, und wenn sie sich damit abgegeben hätte, so müßte ich darum wissen. Wahrscheinlich hatte sie gar nichts vor. Ja, jetzt fällt mir's ein, wir brachten anderthalb Tage damit zu, nichts zu tun und vor Langerweile zu platzen.

Vor Kummer über diese Lebensweise wär' ich schier gestorben, als Amisadar sich einfallen ließ, uns herauszureißen ...« »Ach! sind Sie da, mein guter Amisadar? Das ist mir sehr lieb. Sie kommen mir sehr gelegen.« – »Wer sollte Sie in Banza vermuten?« fragte Amisadar. – »Kein Mensch, das weiß ich wohl. Weder du noch andere lassen sich so etwas träumen. Du ahnst wohl auch nicht, was mich hierher geführt hat?« – »Nein, in der Tat, das weiß ich nicht.« – »Wirklich nicht?« – »Ganz und gar nicht.« – »Nun, so höre und staune, lieber Junge, ich wollte mich bekehren.« – »Dich bekehren?« – »Allerdings. – Sehn Sie mich doch einmal an!« »Ach, Sie sind ja so reizend als jemals. Das Gesicht sieht mir nicht nach Bekehrung aus.« – »Sie scherzen.« – »Nein, auf Ehre, es ist mein völliger Ernst.« – »Ich bin entschlossen, der Welt zu entsagen; sie langweilt mich.« – »Die Grille wird Ihnen bald vergehn. Ich werde eher sterben, als Sie fromm werden.« – »Das will ich doch, sag' ich dir. Es ist keinem Manne mehr zu trauen.« – »Ist Masul Ihnen etwa untreu?« – »Nein, den sah ich seit hundert Jahren nicht.« – »Oder Zufolo?« – »Erst recht nicht, den sehe ich überhaupt nicht mehr.« – »Ah, ich weiß schon, der junge Imola?« – »Wer mag solche Zierpuppen lange behalten?« – »Was also ist los?« – »Ich weiß nicht; ich hasse die ganze Welt!« – »O, gnädige Frau, Sie haben sehr unrecht. Diese Welt, der Sie so übelwollen, kann Ihnen Ihren Verlust hundertfach ersetzen.« – »Glaubst du aufrichtig, Amisadar, daß es noch gute Seelen gibt, die der Verderbnis unsers Zeitalters entgangen sind und zu lieben verstehn?« – »Zu lieben? Geben Sie sich noch mit solchem Elend ab? Wollen Sie etwa gar geliebt werden?« – »Warum nicht?« – »Bedenken Sie nur, gnädige Frau, ein Mann, der Sie liebt, fordert ebenfalls Liebe und fordert sie ausschließlich. Sie sind zu gescheit, sich der Eifersucht und den Launen eines zärtlichen, treuen Liebhabers zu unterwerfen. Nichts ist so lästig als solche Leute. Man soll nur sie sehn, nur sie lieben, nur von ihnen träumen, nur für sie witzig, fröhlich, reizend sein. Das ist Ihnen gewiß nicht recht. Es würde Ihnen schön stehen, in so eine richtige Leidenschaft zu versinken und sich vor der ganzen Welt so lächerlich zu betragen wie eine armselige Bürgersfrau!« – »Mich deucht, Amisadar, Du hast recht. In der Tat, glaub' ich, würd' es uns nicht anstehn, lange Süßholz zu raspeln, Abwechslung ist nötig, und abwechseln will ich auch. Auch seh' ich nicht, daß die zärtlichen Frauen, die man als Muster aufstellt, glücklicher wären als andere!« – »Wer sagt Ihnen das, gnädige Frau?« – »Niemand, aber ich ahne es.« – »Trauen Sie dieser Ahnung nicht! Eine zärtliche Frau macht sich selbst und ihren Liebhaber glücklich, aber diese Rolle liegt nicht allen Frauenzimmern ...« »Auf Ehre, lieber Freund, sie liegt keinem, und alle befinden sich schlecht dabei. Welchen Vorteil kann es auch haben, sich zu binden?« – »Tausend. Eine anhängliche Frau behält ihren guten Namen, wird von ihrem Liebhaber über alles hochgeachtet, und Sie möchten nicht glauben, wieviel die Liebe der Achtung verdankt.« – »Ich verstehe nichts von derlei Reden. Du wirfst alles durcheinander: guten Namen, Liebe, Achtung und ich weiß nicht was noch alles. Man sollte glauben, Unbeständigkeit sei eine Schande. Was heißt das? Ich nehme einen Liebhaber und bin schlecht daran; ich nehme einen andern, der paßt mir auch nicht recht; ich vertausche ihn gegen einen dritten, der mir ebensowenig genehm ist; und wenn ich nun das Unglück gehabt habe, zwanzigmal schlecht zu wählen, so darf ich mich nicht beklagen, so verlangst du ...« – »Ich verlange, gnädige Frau, daß eine Dame, die sich bei ihrer ersten Wahl getäuscht hat, keine zweite anstelle, aus Furcht sich von neuem zu täuschen und aus einem Irrtum in den andern zu verfallen.« – »Welche Sittenlehre! Mich deucht, guter Freund, Du predigtest eben eine ganz andere. Darf man fragen, wie ein Frauenzimmer nach Ihrem Geschmack beschaffen sein müßte?« »Das will ich Ihnen gern sagen, meine Gnädige, aber es ist spät, und das würde nur zu weit führen ...« – »Desto besser, ich habe niemand, und du kannst mir Gesellschaft leisten. Setze dich auf diesen Armstuhl und fahre fort. So werde ich dir bequemer zuhören können.«

Amisadar gehorchte und setzte sich neben Fanny. »Sie haben da, gnädige Frau,« sagte er, beugte sich gegen sie und enthüllte ihren Busen, »einen Umhang, der Sie ganz vermummt.« – »Du hast recht.« – »Und warum so viel schöne Dinge verbergen?« sprach er und küßte, »was er sah.« – »Hören Sie doch auf! Sie sind wirklich nicht gescheit! Sie werden unverschämt, Herr Sittenrichter! Fahr' lieber in Deiner Vorlesung fort.«

»So wünscht' ich denn,« fuhr Amisadar wieder fort, »bei meiner Geliebten ein schönes Gesicht, Verstand, Empfindung und vornehmlich Anstand. Ich möchte, daß sie meine stumme Sorge um sie gutheiße; daß sie mir nicht sozusagen einen stummen Korb gäbe; daß sie mir aufrichtig sagte, ob ich ihr gefalle; daß sie mir selbst die Mittel angäbe, ihr noch mehr zu gefallen; daß sie mir die Fortschritte nicht verhehlte, die ich in ihrem Herzen machte; daß sie nur auf mich hörte, nur für mich Augen hätte, nur an mich dächte, nur von mir träumte, nur mich liebte, sich nur mit mir beschäftigte, nichts täte, als was mich davon überzeugen könnte; und daß, wenn sie endlich meinem Verlangen nachgäbe, ich deutlich sähe, daß ich alles ihrer und meiner Liebe verdankte. Das wäre ein Triumph, meine Gnädige! Wie glücklich ist der Mann, der eine solche Frau besitzt!« – »Aber, mein lieber Amisadar, du weißt nicht, was du redest. Das ist das Porträt einer Frau, die es nicht gibt.« – »Um Verzeihung, meine Gnädige, es gibt solche. Sie sind selten, das räum' ich ein. Ich war indessen so glücklich, eine zu finden. Ach! hätte der Tod sie mir nicht geraubt, denn es ist immer nur der Tod, der einem solch eine Frau raubt, vielleicht läge sie jetzt in meinen Armen.« – »Aber wie benahmst du dich denn ihr gegenüber?« – »Ich liebte sie über die Maßen. Ich versäumte keine Gelegenheit, ihr Beweise meiner Zärtlichkeit zu geben. Ich genoß der süßen Genugtuung, zu sehn, daß sie gut aufgenommen wurden. Ich war ihr ängstlich treu, sie ebenso mir. Wir stritten nur darüber, wer den andern am meisten liebte. Durch solche kleine Plänkeleien lernten wir uns besser kennen. Nie waren wir zärtlicher, als wenn wir unsre Herzen erforscht hatten. Nach einer solchen Erklärung wurden unsre Liebkosungen immer lebhafter. Wie liebevoll und wahr wurden dann unsre Blicke! Ich las in ihren Augen, sie las in den meinigen, daß wir vor gleicher wechselseitiger, Liebe brannten.« – »Und wo lief das alles hinaus?« – »Auf Freuden, die allen minder liebenden, minder wahrhaftigen Sterblichen unbekannt sind.« – »Sie genossen?« – »Ja, ich genoß eines mir unendlich teuren Glücks. Zwar die Achtung selbst berauscht mich, aber sie vermehrt den Rausch um ein großes. Wir legten uns unsre Herzen offen dar, und Sie können nicht glauben, wie sehr die Leidenschaft dabei gewann. Je tiefer mein Blick drang, je mehr Tugenden ich entdeckte, desto größer war mein Entzücken. Eine Hälfte meines Lebens verlebt' ich zu ihren Füßen, die andre sehnt' ich mich nach ihr. Sie war glücklich durch mich, ich war unaussprechlich glücklich durch sie. Ich sah sie immer mit Vergnügen und verließ sie immer ungern. So lebten wir. Jetzt entscheiden Sie, gnädige Frau, ob eine zärtliche Frau so sehr zu beklagen sei.« – »Nein, das ist sie nicht, wenn Sie mir die Wahrheit sagen; aber es wird mir schwer, Ihnen zu glauben. So liebt niemand. Und selbst die Leidenschaft, deren Sie sich bewußt sind, muß nach meinen Begriffen die Freuden, die sie gibt, durch große Unruhe erkaufen.« – »Die empfand ich auch, gnädige Frau, aber sie war mir teuer. Ich fühlte Aufwallungen der Eifersucht. Die geringste Veränderung, die ich auf dem Gesicht meiner Geliebten bemerkte, erschütterte die geheimsten Tiefen meiner Seele.« – »Welch eine Ausschweifung! Alles in allem, schließ' ich, daß man besser tut, zu lieben, wie die heutige Welt liebt; nach Gefallen zu wählen, sich treu zu bleiben, solange man sich unterhält und sich zu trennen, sobald man Langeweile fühlt oder an einem andern Gegenstand Geschmack findet. Unbeständigkeit beut uns eine Abwechslung von Freuden, die ihr liebekranke Herzen nicht kennt.« – »Ja, ich gebe zu, für kleine Lebedamen, für käufliche Frauen mag diese Manier gut genug sein; aber ein Mann von feinem zarten Gefühl gibt sich damit nicht ab. Höchstens kann ihm das die Zeit vertreiben, wenn sein Herz frei ist und er Vergleichungen anstellen will. Mit einem Wort, eine Buhlerin könnte mir nie gefallen.« – »Du hast recht, lieber Amisadar, ich höre dich gern so reden. Doch in wen bist du denn gegenwärtig verliebt?« – »In niemand, gnädige Frau, außer in Sie; aber ich wage nicht, es Ihnen zu sagen.« – »Ach, mein Lieber, wag' es immerhin, du kannst es sagen,« versetzte Fanny und sah ihn fest an.

Amisadar verstand diese Antwort sehr gut, setzte sich zu ihr auf das Sofa und fing an mit einem Bande zu tändeln, das um Fannys Busen flatterte. Man ließ ihn gewähren. Seine Hand fand kein Hindernis auf ihrem Wege und glitt weiter. Man fuhr fort, Blicke auf ihn zu schießen, die er nicht mißverstand. »Ich merkte wohl,« sagte das Kleinod, »er habe recht.« Er küßte den Busen, den er so gepriesen hatte. Man gebot ihm, einzuhalten, aber mit einem Tone, der einen Gehorsam übelgenommen hätte; daher gehorchte er auch nicht. Er küßte die Hände, küßte den Busen wieder, küßte den Mund und fand keinen Widerstand. Unmerklich schoben sich seine Lenden unter Fannys Beine. Seine Hand berührte sie, sie waren sehr wohlgebildet, Amisadar übersah das nicht. Man hörte seine Lobeserhebungen mit zerstreuten Blicken an. Durch diese Unaufmerksamkeit begünstigt, machte Amisadars Hand Fortschritte und kam gar bald bis an das Knie. Die Unaufmerksamkeit dauerte fort, und Amisadar fing an, sich zurechtzusetzen, als Fanny wieder zu sich selbst kam. Sie beschuldigte den jungen Philosophen, er überschreite die gebührende Achtung, aber nun war er zerstreut: er hörte nichts oder beantwortete die Vorwürfe, die man ihm machte, nicht anders als durch Vollendung seines Glücks.

»Wie reizend schien er mir! Unter der Menge seiner Vorgänger und Nachfolger war mir keiner jemals so zu Dank. Noch da ich von ihm spreche, bebe ich vor Erregung. Aber erlauben Sie mir, Atem zu schöpfen; mich deucht, ich rede ziemlich lange dafür, daß ich zum erstenmal rede.«

Alonso verlor kein Wort von Fannys Kleinod und war eben so begierig als Mangogul, das Ende des Auftritts zu erfahren. Beide hatten keine Zeit, ungeduldig zu werden, denn das historienerzählende Kleinod fing gleich wieder an:

»Soviel ich durch Nachdenken verstehen konnte, ging Amisadar einige Tage hernach aufs Land. Man fragte ihn, was er in der Stadt gemacht habe, und er erzählte seinen Auftritt mit meiner Gebieterin. Denn einer ihrer gemeinschaftlichen Bekannten kam an unserem Haus vorbei, fragte zufällig oder absichtlich, ob die gnädige Frau da sei, ließ sich anmelden und trat herein.« – »O, gnädige Frau! Wer sollte Sie in der Stadt vermuten? Wie lang sind Sie schon hier?« – »Seit hundert Jahren, mein Lieber! Es sind schon vierzehn Tage, daß ich aller Gesellschaft entsage.« – »Darf man Ihro Gnaden fragen, warum?« – »Sie ward mir zur Last. Die Weiber leben in der Welt so ausschweifend, daß man es nicht mehr mit ihnen aushalten kann. Man müßte es ihnen entweder gleichtun, oder sich für geziert ausschreien lassen, und, aufrichtig gesagt, beides scheint mir sehr ...« – »Aber, gnädige Frau, Sie kommen mir ganz erbaulich vor. Haben etwa die Predigten des Brahminen Brelibibi Sie bekehrt?« – »Nein, es ist nur eine philosophische Anwandlung, ein Andachtsfieber. Das hat mich auf einmal gepackt, und an dem guten Amisadar lag es wahrlich nicht, wenn ich jetzt keine Heilige bin.« – »Haben Ihro Gnaden den kürzlich gesehn?« – »Ja, ein paarmal.« – »Niemand sonst?« – »Keine Seele. Es ist das einzige denkende, redende, handelnde Wesen, das mich in meiner ewigen Einsamkeit besucht hat.« – »Das ist sonderbar.« – »Sonderbar? Warum?« – »Gerade in diesen Tagen hat er auch einen Auftritt mit einer Dame aus Banza gehabt, die einsam war wie Ihro Gnaden, fromm wie Ihro Gnaden, von der Welt abgewandt wie Ihro Gnaden. Das muß ich Ihnen doch erzählen, es wird Sie vielleicht interessieren.« – »Ich zweifle nicht daran,« antwortete Fanny. »Darauf erzählte ihr Amisadars Freund ihr eignes Abenteuer Wort für Wort, wie Sie es von mir gehört haben,« sagte das Kleinod,»und als er so weit war als ich,« fragte er:»Was sagen Ihro Gnaden dazu? Ist Amisadar nicht vom Glück begünstigt?« »Er ist vielleicht ein Aufschneider,« antwortete Fanny. »Glauben Sie, daß ein Frauenzimmer so frech sein könnte, aller Schamgute Nacht zu sagen?« »Bedenken Ihro Gnaden nur,« versetzte Marsufa, »einen Namen hat Amisadar nicht genannt: was könnt' er also dabei gewinnen, uns etwas vorzureden?« – »Jetzt fällt mir's ein,« sagte Fanny, »Amisadar hat Geist, es ist ein schöner Mann. Er wird der armen Einsiedlerin wollüstige Empfindungen eingeflößt haben, unter denen sie erlag. Ja, so ist es auch! Wer solche Verführer anhört, der ist verloren, und Amisadar scheint mir einzig in seiner Art.« – »Wieso, gnädige Frau?« unterbrach sie Marsufa. »Sollte Amisadar allein die Kunst der Überredung besitzen? Wollen Sie niemand sonst die Gerechtigkeit widerfahren lassen, ihm ein Plätzchen in Ihrer Achtung zu schenken?« – »Von wem reden Sie, wenn ich fragen darf?« – »Von mir selbst, gnädige Frau, ich finde Sie entzückend und ...« – »Ich glaube, Sie spotten meiner. Sehn Sie mich doch recht an, Marsufa. Ich bin weder weiß noch rot geschminkt. Die Schlafhaube steht mir nicht. Man möchte vor mir weglaufen.« – »Ihro Gnaden sind in einem großen Irrtum. Diese halbe Kleidung steht Ihnen wunderbar; sie gibt Ihnen so etwas Rührendes, Zärtliches! ...«

Zu solchen galanten Reden fügte Marsufa noch andere. Unvermerkt mischte auch ich mich in die Unterhaltung, und als Marsufa mit mir fertig war, fing er mit meiner Gebieterin wieder an. »Wirklich? Hat Amisadar Sie bekehren wollen? Der Mensch versteht sich trefflich aufs Bekehren. Könnten Sie mir nicht ein Kapitel aus seiner Sittenlehre wiederholen? Ich möchte wetten, sie ist von der meinigen wenig verschieden.« – »Wir haben gewisse Punkte der Liebe gründlich untersucht. Wir haben den Unterschied zwischen der Zärtlichen und der Verbuhlten genau erörtert. Er ist für die Zärtliche.« – »Sie auch ohne Zweifel?« – »Keineswegs, mein Lieber. Ich gab mir alle mögliche Mühe, ihm zu beweisen, wir wären eine wie die andre und handelten alle nach den nämlichen Grundsätzen. Er ist dieser Meinung nicht. Er findet einen unendlichen Unterschied, der aber, denk' ich, nur in seiner Einbildung besteht. Er hat sich irgendein idealisches Geschöpf erschaffen, ein weibliches Hirngespinst, ein Luftgebild, dem er einen Unterrock anzieht.« – »Gnädige Frau,« antwortete Marsufa, »ich kenne Amisadar. Es ist ein Mann von Verstand, er hat viel Verbindungen mit Frauenzimmern gehabt. Sagt er Ihnen, es gebe solche Weiber, so ...« – »Es mag solche geben oder nicht,« unterbrach ihn Fanny, »ihre Manier wird nie die meinige!« – »Ganz gewiß nicht, gnädige Frau,« versetzte Marsufa. »Ihro Gnaden haben eine Lebensart erwählt, die sich für Ihre Geburt und für Ihre Verdienste besser schickt. Solche Zierpuppen muß man den Philosophen überlassen; am Hofe würden die versauern.«

Hier schwieg Fannys Kleinod. Es war eine Haupt-Eigenschaft dieser Redner, zu rechter Zeit einzuhalten. So sprachen sie, als ob sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan hätten. Daraus folgerten einige Schriftsteller, sie wären bloße Maschinen. Daran sieht man ihre Methode. Hier wiederholt der gelehrte Afrikaner lang und breit den metaphysischen Erweis der Kartesianer gegen die Seele der Tiere und wendet ihn mit allem nur möglichen Scharfsinn auf das Geschwätz der Kleinode an. Mit einem Wort, er ist der Meinung, die Kleinode hätten gesprochen, wie die Vögel singen: das ist, ohne Lehrmeister, dennoch so vollkommen, daß nicht daran zu zweifeln sei, ein höheres Wesen habe durch ihren Mund geredet.

»Und was fängt er mit seinem Fürsten an?« werdet Ihr mich fragen. Er schickt ihn der Favorite zur Mittagstafel; wenigstens finden wir ihn dort im nächsten Abschnitt.

Treue und Bigotterie

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Mittwoch, 8. Januar 2014
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 40
Der Traumdeuter

»Edler Herr,« sprach die Favorite zu Bloculocus, »Sie müssen mir noch einen Gefallen erweisen. In der letzten Nacht sind mir eine Menge merkwürdige Dinge durch meinen Kopf gegangen. Es war ein Traum, aber, Gott weiß, welch ein Traum! Man versichert mir, Sie wären der erste Traumdeuter von Congo. Sagen Sie mir also geschwind, was dieser bedeutet!« und sogleich erzählte sie ihren Traum.

»Madam,« antwortete Bloculocus, »ich verstehe mich leider nur schlecht auf die Oneirokritik.«

»O, verschonen Sie mich gefälligst mit allen Kunstworten!« rief die Favorite. »Lassen Sie die Wissenschaft beiseite und reden Sie vernünftig.«

»Wie Ihro Gnaden befehlen,« antwortete Bloculocus. »Ich habe einige sonderbare Vermutungen über die Träume; ihnen allein verdank' ich vielleicht die Ehre, Sie zu unterhalten und den Beinamen ›Sonderbarer Schwärmer‹. Diese Vermutungen will ich Ihro Gnaden so deutlich darzulegen suchen als möglich.

Ihro Gnaden wissen,« fuhr er fort, »was die meisten Philosophen und die Leute, die ihnen nachsprechen, darüber auskramen. ›Die Gegenstände,‹ sagen sie, ›die uns bei Tage besonders aufgefallen sind, beschäftigen unsere Seele auch in der Nacht. Die Spuren, die sie beim Wachen den Fasern unseres Gehirns eindrücken, dauern fort. Die Lebensgeister sind gewohnt, sich an gewisse Orte zu begeben, und folgen der Bahn, die ihnen geläufig ist. Daher entstehen die unwillkürlichen, angenehmen oder unangenehmen Vorstellungen.‹ Diesem System zufolge sollte man glauben, ein begünstigter Liebhaber müsse auch durch seine Träume gut bedient werden. Doch trifft es sich zuweilen, daß eine Person, die im Wachen nicht unmenschlich gegen ihn ist, ihn im Schlafe behandelt wie einen Neger, oder daß er statt eines reizenden Frauenzimmers ein kleines ungestaltes Ungeheuerchen in seinen Armen hält.«

»So ging es mir gerade in vergangener Nacht,« unterbrach ihn Mangogul. »Denn ich träume beinahe jede Nacht. Das ist eine Familienkrankheit; wir träumen alle von Vater auf Sohn, seit dem Sultan Togrul, der ums Jahr 743500000002 zuerst zu träumen anfing. Nun, vergangene Nacht sah ich Sie, Madam,« sprach er zur Favorite. »Es waren Ihre Hand, Ihre Arme, Ihr Busen, Ihr Hals, Ihre Schultern, dieses feste Fleisch, dieser schlanke Wuchs, diese unvergleichliche Rundung, kurz, Sie selbst waren es; nur daß statt des reizenden Gesichts, statt des anbetungswürdigen Kopfes, den ich suchte, ich mit der Nase an die Schnauze eines Möpschens stieß.

Ich fing schrecklich an zu schreien. Kotulk, mein Kammerherr, lief herbei und fragte, was mir fehlte. ›Mirzoza‹, antwortete ich ihm im Halbschlaf, ›hat die scheußlichste Verwandlung erlitten. Sie ist ein Mops geworden.‹ Kotulk fand nicht für gut, mich vollends munter zu machen, ging wieder zurück, und ich schlief wieder ein. Aber das kann ich Ihnen versichern, ich erkannte Sie ganz genau. Sie, Ihren Körper und den Hundskopf. Wird mir nun Bloculocus das Phänomen erklären können?«

»Daran zweifle ich nicht,« antwortete Bloculocus, »wenn mir Ihre Hoheit ein sehr einfaches Prinzip zugeben. Alle Wesen, behaupt' ich, stehen in unendlich mannigfacher Beziehung zueinander durch die Eigenschaften, die sie gemeinschaftlich besitzen: und die Vereinigung gewisser Eigenschaften ist das bestimmende und unterscheidende Kennzeichen des einzelnen.«

»Das ist klar,« antwortete die Favorite. »Ipsifile hat Füße, Hände und einen Mund wie eine geistvolle Frau.« »Und Phararmome,« setzte Mangogul hinzu, »trägt seinen Degen wie ein tapfrer Mann.«

»Ist man nicht hinlänglich unterrichtet, welche Eigenschaften sich vereinigen müssen, um diese oder jene Gattung zu bilden, oder schließt man zu voreilig, eine solche Verbindung finde bei diesem oder jenem einzelnen Wesen statt oder nicht statt, so läuft man Gefahr, Kupfer für Gold zu halten, geschliffenes Glas für Edelsteine, einen Kalkulator für einen Geometer, einen Wortkrämer für einen Schöngeist, Citron für einen anständigen Menschen ...« »Und Fatime für eine hübsche Frau,« setzte die Sultanin hinzu.

»Wissen Ihro Gnaden,« fragte Bloculocus, »was man den Leuten vorwerfen könnte, die solche Urteile fällen?«

»Daß sie im Wachen träumen,« antwortete Mirzoza. »Sehr wohl, gnädige Frau; und bei tausend Vorfällen gibt es keinen philosophischeren, logisch richtigeren Ausdruck, als die gewöhnliche Redensart: ich glaube, Sie träumen. Denn nichts ist so gewöhnlich, als daß Menschen sich einbilden, Vernunftschlüsse aufzubauen, die doch nichts tun, als mit offenen Augen zu träumen.«

»Bei denen trifft es wohl buchstäblich ein,« unterbrach ihn die Favorite, »daß dies ganze Leben nur ein Traum ist.«

»Ich kann nicht genug bewundern,« versetzte Bloculocus, »mit welcher Leichtigkeit Ihro Gnaden die abstraktesten Begriffe erfassen. Unsre Träume sind nichts als übereilte Schlüsse, die unglaublich rasch aufeinander folgen, Dinge vereinigen, welche nur in sehr fernen Beziehungen zueinander stehen und dadurch ein abenteuerliches Ganze zusammensetzen.«

»O, wie gut ich Sie verstehe,« sagte Mirzoza. »Das gibt denn so eine Art Mosaikarbeit, deren zusammen gebrachte Stücke mehr oder weniger zahlreich, mehr oder weniger regelmäßig sind, je lebhafter der Geist, je rascher die Einbildungskraft, je treuer das Gedächtnis ist. Sollte die Verrücktheit nicht die nämliche Ursache haben? Und wenn ein Bewohner des Irrenhauses schreit, daß er Blitze sieht, daß er den Donner rollen hört, daß sich Abgründe unter seinem Fuß eröffnen; oder wenn eine alte Jungfer, vor ihrem Spiegel sitzend, sich selber Beifall zulächelt, ihre Augen lebhaft, ihre Gesichtsfarbe blühend, ihre Zähne blendend weiß und den Mund klein findet: betrachten dann nicht beide gestörten und durch entfernte Beziehungen getäuschte Hirne eingebildete Dinge für wahr und wirklich?«

»Ja, gnädige Frau,« antwortete Bloculocus, »das ist der Fall. Wer einen Narren genau beobachtet, der findet, daß sein Zustand nur ein fortdauernder Traum ist.«

»Ich selbst habe einige Erfahrungen gemacht,« sagte Selim und wandte sich gegen Bloculocus, »auf die Ihre Grundsätze sich wunderbar anwenden lassen, und das bestimmt mich, sie anzunehmen. Einmal träumte mir, ich hörte wiehern und sähe aus der großen Moschee zwei Reihen sonderbarer Tiere nebeneinander herausgehen: sie stolzierten sehr gewichtig auf den Hinterpfoten; ihre Schnauzen waren in Kappen gehüllt, aus deren Löchern oben ein Paar langer, beweglicher, haariger Ohren heraussahen, und lange Ärmel umhüllten ihre Vorderfüße. Damals quält' ich mich sehr, einige Bedeutung dieser Erscheinung beizumessen; jetzt erinnere ich mich, daß ich den Abend vorher auf Montmartre gewesen war.

Ein andermal befand ich mich im Felde, wo der Großsultan Erguebzed in Person das Heer anführte. Ich schlief, ermüdet nach einem anstrengenden Marsche, in meinem Zelt, als es mir vorkam, ich habe beim Diwan die Entscheidung eines wichtigen Rechtsstreites zu betreiben. Eben wollt' ich mich dem Rate der Regentschaft vorstellen, aber denken Sie, wie ich erschrak. Ich fand den Saal voller Raufen, Krippen, Freßtröge und Hühnerbauer. Im Lehnstuhl des Groß-Seneschalls saß ein wiederkäuender Ochse; auf dem Platze des Seraskiers ein Hammel aus der Barbarei; auf der Bank des Teftesdar ein Geier mit krummem Schnabel und langen Klauen; an der Stelle des Kiaja und Kadilesker zwei große Eulen im Pelzmantel und statt der Wesire Gänse mit Pfauenschweifen. Ich überreichte mein Gesuch und hörte in dem Augenblick ein verzweifeltes Gekrächze, wodurch ich erwachte.«

»Der Traum ist wohl recht schwer zu entziffern?« sagte Mangogul. »Sie hatten gerade damals dem Diwan etwas vorzutragen und gingen, ehe Sie sich dahin begaben, durch das Tierhaus. Aber ich, Herr Bloculocus, wie steht's mit meinem Hundekopf?«

»Es ist hundert gegen eins zu wetten,« sagte Bloculocus, »daß Sie an der gnädigen Frau oder an einer Dame, die Ihre Augen auf sich zog, einen Kragen mit Zobelschwänzen bemerkt hatten, und daß Ihnen die Möpse zum erstenmal aufgefallen waren. Beide Gegenstände sind einander zehnmal näher verwandt, als nötig ist, um die Seele zur Nachtzeit zu beschäftigen. Die Ähnlichkeit der Farbe verwandelte bei Ihnen einen Pelzkragen in einen Tierhals, und sogleich setzten Sie eine häßliche Hundeschnauze an die Stelle eines sehr schönen Damenkopfes.«

»Ihr System scheint mir begründet,« antwortete Mangogul, »warum lassen Sie es nicht drucken? Es könnte zur Beförderung der Traumkunde beitragen, einer wichtigen Wissenschaft, die man vor zweitausend Jahren sehr pflegte und seitdem zu sehr vernachlässigt hat. Ein andrer Vorzug Ihrer Lehre ist der, daß sie über viele alte und neuere Werke Licht verbreiten würde, die nichts als ein Traumgewebe sind: z.B. über Platos Abhandlung von den Ideen, über die Fragmente des Hermes Trismegistos, über die literarischen Parodoxen des Paters N ..., über den Newton, über die Optik der Farben und über die Universalmathematik eines gewissen Brahminen. Könnten Sie uns zum Exempel nicht sagen, Herr Seher, was Guallonorone an jenem Tage gesehen hatte, als er seine Hypothese erträumte? was dem Pater C ... geträumt hatte, als er sich anschickte, seine Farbenlehre zu fabrizieren, und was Cleobul für einen Traum gehabt hatte, als er seine Tragödie verfaßte?«

»Dahin hoffe ich es durch Nachsinnen zu bringen, gnädigster Herr,« antwortete Bloculocus. »Aber ich erspare diese heiklen Phänomene bis auf die Zeit, wo ich dem Publikum meine Übersetzung des Philoxenus vorlegen werde, deren Privileg ich mir von Eurer Hoheit erbitte.«

»Sehr gern,« sagte Mangogul, »aber wer ist der Philoxenus?« – »Fürst,« antwortete Bloculocus, »es ist ein griechischer Schriftsteller, der sich ungemein wohl auf Träume verstand.« – »Sie verstehn also Griechisch?« – »Keineswegs, gnädigster Herr.« – »Sie übersetzen doch den Philoxenus, der griechisch geschrieben hat?« – »Ja, gnädigster Herr, aber was braucht man eine Sprache zu verstehn, um sie zu übersetzen? Man übersetzt ja nur für Leute, die sie nicht verstehn.«

»Das ist vortrefflich,« sagte der Sultan. »Also, Herr Bloculocus, fahren Sie fleißig fort, aus dem Griechischen zu übersetzen, das Sie nicht verstehn. Ich verspreche Ihnen, ich will es niemand wiedersagen und Sie deswegen nicht minder hochschätzen.«

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Montag, 6. Januar 2014
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 39
Schweigen ohne Unschuld
Der gelehrte Afrikaner sagt uns nicht, was Mangogul tat, während Bloculocus auf sich warten ließ. Wahrscheinlich ging er hinaus, um einige Kleinode zu befragen, war zufrieden mit dem, was er von ihnen erfuhr, und kehrte wieder zur Favorite mit dem Freudengeschrei zurück, womit dieser Abschnitt anhebt: »Sieg! Sieg! Sie triumphieren, Madam! Das Schloß, das Porzellan und der kleine Wickelschwanzaffe gehören Ihnen!«

»Sie sahen Aglae?« fragte die Favorite. »Nein, Madame, nicht Aglae,« unterbrach sie der Sultan, »eine andre!« »O Fürst,« sagte die Favorite, »entziehn Sie mir nicht länger dies Vergnügen, diesen Phönix zu kennen.« – »Sie werden mir nicht glauben, wenn ich ihn nenne ...« »Nun, wer denn ...?« fragte die Favorite. »Fricamone,« antwortete der Sultan. »Fricamone?« versetzte Mirzoza, »ich sehe darin nicht Unmögliches. Die Frau hat den größten Teil ihrer Jugend im Kloster zugebracht, und seit sie es verließ, ein sehr erbauliches, eingezogenes Leben geführt. Kein Mann setzt einen Fuß in ihr Haus. Sie ist gleichsam die Priorin einer Herde frommer Jungfrauen, die sie zur Vollkommenheit heranbildet und von denen ihr Haus nicht leer wird. Da war nichts für Euch Männer zu holen,« setzte die Favorite hinzu und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Sie haben recht, Madam,« sagte Mangogul. »Ich fragte ihr Kleinod; es gab keine Antwort. Ich verdoppelte die Kraft meines Ringes und rieb ihn einmal über das andre. Es kam nichts. ›Das Kleinod muß taub sein,‹ sprach ich bei mir selbst und war schon im Begriff, Fricamone auf dem Ruhebette zu verlassen, wo ich sie gefunden hatte, als sie anfing zu reden, nämlich durch den Mund:

›Teure Acaris!‹ rief sie, ›wie glücklich bin ich in den Augenblicken, die ich allem Lästigen entziehe, um dir anzugehören. Die Augenblicke, die ich in deinen Armen zubringe, sind das Glück meines Lebens! Nichts zerstreut mich, alles ist still um mich her. Die halbgeöffneten Vorhänge lassen vom Tage nur so viel herein, als nötig ist, mich zärtlich über dein Bild zu beugen. Ich befehle meiner Phantasie, sie ruft dich herbei, und ich sehe dich leibhaftig vor mir. Teure Acaris! wie schön bist du! Ja, das sind deine Augen, das ist dein Lächeln, dein Mund! Verbirg mir nicht diesen werdenden Busen! Laß ihn mich küssen. Ich kann mich nicht satt an ihm sehen. Noch einen Kuß! O, laß mich sterben an ihm! Was für eine Raserei packt mich! Acaris, teure Acaris, wo bist du? Komm doch, teure Acaris! O liebe, teure Freundin, ich schwöre dir, ein nie gekanntes Gefühl bemächtigt sich meiner Seele. Es füllt mich ganz, es setzt mich in Erstaunen, es überwältigt mich. Fließt, o kostbare Tränen, fließt und kühlt die Glut, die mich verzehrt! Nein, teure Acaris, nein, dieser Alicali, den du mir vorziehst, liebt dich nicht wie ich! ... Aber ich höre ein Geräusch ... Das ist Acaris, das ist Acaris! Komm, o komm, teure Seele ...«

»Fricamone täuschte sich nicht,« fuhr der Sultan fort, »es war wirklich Acaris. Ich überließ sie ihrer freundschaftlichen Unterhaltung, und in der festen Überzeugung, das Fricamonens Kleinod fortfahren würde, zu schweigen, eilte ich her, um Ihnen anzukündigen, daß ich verloren habe.«

»Aber ich verstehe diese Fricamone nicht,« sagte die Sultanin. »Sie ist entweder verrückt oder hat erschreckliche Nervenkrämpfe. Nein, Fürst, ich bin gewissenhafter, als Sie glauben. Zwar hab' ich nichts gegen diese Prüfung einzuwenden, aber ein inneres Gefühl erlaubt mir nicht, Vorteil daraus zu ziehen, und so werde ich mir's auch nicht zunutze machen. Das steht fest. Ich entsage Ihrem Schloß und Ihrem Porzellan oder ich gewinne sie durch ein besseres Recht.«

»Ich verstehe Sie nicht, Madam,« antwortete Mangogul. »Das ist ja eine unbegreifliche Bedenklichkeit. Sie müssen wohl den kleinen Wickelschwanzaffen nicht recht betrachtet haben.«

»Ich habe ihn genau betrachtet,« erwiderte Mirzoza. »Ich weiß, wie schön er ist. Aber ich hege einen Argwohn, daß diese Fricamone nicht mein Fall ist. Wollen Sie, daß ich Ihre Wette einmal gewinnen soll, so klopfen Sie an andre Türen.«

»Meiner Treu, Madam,« versetzte Mangogul, »ich habe reiflich nachgedacht und wüßte nur noch Mirolos Geliebte, die Ihnen zum Gewinn verhelfen könnte.«

»Was fällt Ihnen ein?« sagte die Favorite. »Zwar kenn' ich den Mirolo nicht, wenn er aber eine Geliebte hat, so ist sie's doch nicht umsonst.«

»Wahrhaftig nicht,« antwortete Mangogul, »und doch wett' ich, so hoch man will, Callipigiens Kleinod hat kein Wort zu sagen.«

»Seien Sie nur mit sich selbst einig,« sagte die Favorite. »Es sind doch bloß zwei Fälle möglich. Entweder Callipigiens Kleinod ... Aber ich hätte mich da beinahe auf einen lächerlichen Streit eingelassen. Tun Sie, was Sie für gut halten, Fürst. Befragen Sie Callipigiens Kleinod. Bleibt es stumm, um so schlimmer für Mirolo, um so besser für mich.«

Mangogul verließ sie und befand sich im Augenblick zur Seite des dunkelfarbigen, silbergestickten Sofas, auf welchem Callipigia ruhte. Kaum drehte er seinen Ring gegen sie, als eine dumpfe Stimme folgende Worte murmelte: »Was wollen Sie von mir? Ich verstehe Ihre Fragen nicht. An mich denkt überhaupt keiner. Und doch halt' ich mich nicht für schlechter, als irgendein anderes Kleinod. Freilich kommt Mirolo oft bei meiner Tür vorbei, aber ...«

An dieser Stelle befindet sich eine beträchtliche Lücke. Der würde sich um die gelehrte Republik sehr verdient machen, der uns die Rede des Kleinods der Callipigia wieder ergänzte, von welcher uns nur die beiden letzten Zeilen noch übrig sind. Wir ersuchen alle Gelehrte, darüber nachzusinnen und zu erwägen, ob nicht der Verfasser vielleicht diese Lücke vorsetzlich gelassen habe; weil er nicht zufrieden mit dem war, was er gesagt hatte und nichts Besseres zu sagen wußte. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Meinem Nebenbuhler, sagt man, würden jenseits der Alpen Altäre errichtet. Ach, gäbe es keinen Mirolo, mir errichtete die gesamte Welt welche!«

Mangogul kehrte sogleich zum Harem zurück und wiederholte der Favorite die Klage des Kleinods der Callipigia, Wort für Wort; denn er hatte ein bewundernswürdiges Gedächtnis. »Sie haben jetzt gewonnen Spiel, Madam,« sagte er, »ich überlasse Ihnen alles, und Sie können sich bei Callipigia dafür bedanken, sobald Sie es für gut halten.«

»Gnädigster Herr,« antwortete Mirzoza ernsthaft, »nur der bewährten Tugend will ich meinen Gewinn verdanken und nicht ...«

»Aber Madam,« versetzte der Sultan, »welche Tugend ist mehr bewährt, als die den Feind so in der Nähe erblickte?«

»Ich weiß, was ich sage, Fürst,« antwortete die Favorite. »Da sind Selim und Bloculocus; sie mögen entscheiden.«

Selim und Bloculocus nämlich traten gerade hinein. Mangogul legte ihnen den Fall vor, und sie stimmten beide für die Meinung der Favorite.


In der gleichgeschlechtlichen Abteilung.

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Mittwoch, 18. Dezember 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 38
Mirzoza vom Erhabnen und Schönen


Endlich vollendete Mangogul die akademische Rede der Schönsprecherin; es war spät, man begab sich zur Ruhe.

Diese Nacht konnte sich die Favorite einen tiefen Schlaf versprechen. Aber die Unterhaltung des vergangenen Abends kam ihr im Traum wieder in den Kopf, die Gedanken, die sie beschäftigt hatten, vermischten sich mit andern, und es zeigte sich ihr ein seltsames Gesicht, so daß sie nicht unterließ, dem Sultan davon zu erzählen.

»Ich lag,« sprach sie zu ihm, »im ersten Schlummer, als ich mich in eine Galerie versetzt fühlte, die voll von Büchern war. Was sie enthielten, kann ich Ihnen nicht angeben; sie waren nun für mich, was sie für viele Leute sind, die nicht schlafen. Ich sah keinen Titel an: ein weit auffallenderes Schauspiel zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich.

Von Raum zu Raum zwischen den Schränken, die die Bücher enthielten, erhoben sich Fußgestelle mit schönen marmornen oder erzenen Büsten. Der Zahn der Zeit hatte ihrer geschont, mit Ausnahme einiger Schäden waren sie ganz und vollkommen. Sie trugen den Stempel eines edlen Geschmacks, wie ihn das Altertum seinen Werken zu geben wußte. Die meisten hatten lange Bärte, hohe Stirnen, wie die Ihrige und einen interessanten Gesichtsausdruck.

Ich war neugierig, ihre Namen zu erfahren und ihre Verdienste kennenzulernen, als aus einem Erker ein Frauenzimmer hervortrat und mich anredete. Stolz war in ihrem Wuchs, Majestät in ihrem Schritt, Adel in ihrem Gange. Milde und Hoheit vereinigten sich in ihrem Blick, und in ihrer Stimme lag ein unnennbarer Zauber, der mir ins Herz drang. Ein Helm, ein Brustharnisch, ein flatternder Rock aus weißer Seide waren ihre ganze Kleidung.« »Ich kenne Eure Verlegenheit,« sprach sie, »und will Eure Neugierde befriedigen. Die Männer, deren Büsten Euch auffielen, waren meine Günstlinge. Sie haben ihre schlaflosen Nächte der Vollendung der schönen Künste geweiht, deren Erfindung man mir verdankt; sie bewohnten den gesittetsten Teil der Erde; ihre Schriften wurden das Vergnügen ihrer Zeitgenossen und sind noch die Bewunderung der Jetztzeit. Tretet näher und Ihr werdet in flacher Bildhauerarbeit an den Fußgestellen, die ihre Brustbilder tragen, einige interessante Vorwürfe bemerken, die Euch wenigstens den Charakter ihrer Schriften sollen erkennen lassen.«

»Die erste Büste, die ich betrachtete, war ein majestätischer Greis, der mir blind zu sein schien. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er Schlachten gesungen, denn sie waren der Gegenstand der Seiten seines Fußgestells. Auf der Vorderfläche stand die einzelne Gestalt eines jungen Helden. Seine Hand faßte kühn nach dem Griff seines Schwerts, ein weiblicher Arm hielt ihn bei den Haaren zurück und schien seine Wut zu mäßigen.

Diesem gegenüber stand das Brustbild eines jungen Menschen, er war die Bescheidenheit selbst. Seine Blicke waren mit großer Aufmerksamkeit auf den Greis gerichtet. Auch er hatte Krieg und Schlachten gesungen, aber diese Dinge hatten ihn nicht allein beschäftigt; von den Bildhauerarbeiten, die ihn umgaben, stellten die wichtigsten auf einer Seite Ackersleute dar, über ihren Pflug gebeugt oder ihr Feld bauend, und auf der andern Hirten im Grase liegend und zwischen Schafen und Hunden die Flöte blasend. Die Büste über dem Greis auf der nämlichen Seite zeigte einen verstörten Blick, sein Auge schien einen fliehenden Gegenstand zu verfolgen, und darunter hatte man eine fortgeworfene Leier abgebildet, zerstreute Lorbeerreiser, zertrümmerte Wagen, unbändige Rosse, die ihrem Führer entlaufen, sich in der weiten Ebene tummelten.

Diesem gegenüber stand ein Kopf, der mich ungemein interessierte, ich glaub' ihn noch zu sehen: er hatte ein feines Gesicht, eine starke Adlernase, einen festen Blick und ein spöttisches Lächeln. Die Bildhauerarbeiten, die sein Fußgestell schmückten, waren so überladen, daß ich gar nicht fertig würde, wenn ich sie Ihnen beschreiben wollte.

Noch untersucht' ich verschiedne andre Brustbilder und dann fragt' ich meine Führerin: ›Wer ist dieser hier, der die Wahrheit auf den Lippen und die Rechtschaffenheit im Antlitz trägt?‹ ›Er war,‹ sagte sie zu mir, ›der Wahrheit und der Rechtschaffenheit Freund und Opfer. Solange er lebte, war er einzig bestrebt, seine Mitbürger gebildet und tugendhaft zu machen, und die undankbaren Mitglieder nahmen ihm das Leben.‹ ›Und diese Büste daneben?‹ – ›Welche?‹ – ›Die von den Grazien getragen scheint, die man auf das Untergestell gemeißelt hat?‹ – ›Ja die ...!‹ ›Die stellt den Schüler und Erben der Lehren des tugendhaften Unglücklichen dar, von dem ich Ihnen soeben sprach.‹

›Und jener dicke Pausbäckige da, den man mit Weinlaub und Myrten bekränzt hat, wer ist er?‹ – ›Das ist ein liebenswürdiger Philosoph, dessen einzige Beschäftigung es war, die Freude zu besingen und zu genießen. Er starb in den Armen der Wollust.‹

›Und der andere da, der Blinde?‹ ›Das ist,‹ sagte sie zu mir ... aber ich hörte ihre Antwort nicht mehr. Denn nun kam mir alles bekannt vor, was ich sah. Ich eilte zu dem Kopf, der jenem gegenüberstand. Er ruhte auf einer Trophäe mit den verschiedenen Attributen der Wissenschaften und der Künste: Liebesgötter balgten sich miteinander auf einer Seite seines Untergestells. Auf der anderen hatte man die Genien der Politik, der Geschichte und der Philosophie gruppiert. Auf der dritten sah man zwei Heere in Schlachtordnung aufgestellt: Staunen und Schrecken herrschten auf den Gesichtern; auch Spuren von Bewunderung und Mitleid konnte man gewahren. Diese Gefühle entstanden offenbar aus den Schilderungen, die sich dem Auge darboten. Alles in diesen Gestalten war von höchster Schönheit, sowohl die Verzweiflung der einen als die Todesmüdigkeit, die alle Glieder der anderen befallen zu haben schien. Ich trat näher und las darunter in goldenen Buchstaben: ›Wehe! es war sein Sohn!‹

Auf einer andern Fläche war ein wütender Soldat gemeißelt, der einem jungen Mädchen angesichts einer großen Volksmenge den Dolch ins Herz stieß. Die einen wandten sich ab, die anderen weinten. Um das Bildwerk herum waren die Worte eingegraben: ›Seid Ihres N'rest an?‹

Ich wollte mich gerade zu anderen Büsten wenden, als ein plötzliches Geräusch mich den Kopf drehen ließ. Es ward durch eine Menge schwarzbemäntelter Leute verursacht, die in die Galerie stürzten. Einige trugen Rauchfässer, aus denen ein dicker Dampf aufstieg, andre hatten Kränze von Kuhnelken und anderen wahllos gepflückten und geschmacklos gewundenen Blumen. Sie versammelten sich um die Brustbilder, beräucherten sie und sangen ihnen Gesänge in zwei mir unverständlichen Sprachen. Der Rauch ihrer Weihe hängte sich an die Büsten, denen die aufgesetzten Kränze ein lächerliches Aussehen gaben. Aber bald nahmen die Antiken ihren ursprünglichen Glanz wieder an, der Dampf verzog sich, und die Kränze lagen verwelkt und entblättert am Boden. Unter ihren barbarischen Anbetern entstand ein Zank, weil einige nach der Meinung andrer ihr Knie nicht tief genug gebeugt halten: und schon waren sie nahe daran, deswegen handgemein zu werden, als meine Führerin sie mit einem Blick zerstreute und den Frieden ihrer Wohnung wiederherstellte.

Sie waren kaum verschwunden, als ich durch eine entgegengesetzte Tür eine lange Reihe von Pygmäen hereinkommen sah. Diese kleinen Menschen waren nicht zwei Spannen hoch, dagegen besaßen sie äußerst spitze Zähne und sehr lange Nägel. Sie teilten sich in verschiedene Rotten und bemächtigten sich der Brustbilder. Einige suchten die Bildwerke der Gestelle zu zerkratzen, und der Fußboden war mit den Trümmern ihrer Krallen bedeckt. Andre, unverschämter noch als jene, kletterten einer dem andern auf die Schulter, bis sie so hoch waren wie die Köpfe, denen sie Nasenstüber gaben. Aber was mich belustigte, war die Wahrnehmung, daß diese Nasenstüber, weit entfernt, die Nasen der Brustbilder zu erreichen, auf die Nasen der Zwerge zurückprallten. Auch fand ich bei näherem Anblick, daß sie fast alle stumpfnasig waren.

›Ihr seht,‹ sagte meine Führerin, ›worin die Frechheit und die Strafe dieser Myrmidonen besteht. Der Krieg dauert schon lange und immer zu ihrem Nachteil. Gegen sie verfahr' ich weniger strenge, wie gegen die Schwarzröcke. Der Weihrauch der letzteren könnte die Brustbilder entstellen, die Bemühungen jener haben gemeiniglich den Erfolg, ihren Glanz nur zu mehren. Da Ihr aber ein oder zwei Stunden hier verweilen dürft, so rat ich Euch, weiter Umschau zu halten.‹

Sogleich öffnete sich ein großer Vorhang, und ich erblickte eine Werkstube mit einer andern Zwergenart angefüllt. Diese hatten weder Zähne noch Nägel, dagegen waren sie mit Rasiermessern und Scheren versehen. Sie hielten Köpfe, die Leben zu atmen schienen, in Händen und schnitten sehr eifrig dem einen die Haare weg, einem andern rissen sie Nase und Ohren ab, dem das rechte, jenem das linke Auge, kurz, sie verstümmelten alles. War diese saubere Operation vollbracht, so besahen sie, was sie gemacht hatten und lächelten dazu, als ob sie wunder etwas Schönes daraus gemacht hätten. Die armen Köpfe schrien zwar aus Leibeskräften, aber man würdigte sie keiner Antwort. Einen besonders hört' ich seine Nase wieder fordern und behaupten, es sei ihm unmöglich, sich ohne dieses Glied sehen zu lassen. ›Herzallerliebstes Köpfchen,‹ antwortete der Pygmäe, ›du bist nicht gescheit. Wie kannst du nur deine Nase zurückwünschen? Sie entstellte dich ja. Sie war so lang, so lang! Mit der war kein Glück zu machen. Seit ich dich gestutzt und geschnitten habe, bist du allentzückend; die ganze Welt wird dir nachlaufen.‹

Das Schicksal dieser Köpfe rührte mich, als ich in der Ferne mitleidigere Zwerge entdeckte, die mit Brillen auf der Erde herumkrochen. Sie sammelten Nasen und Ohren auf und paßten sie einigen alten Köpfen an, denen die Zeit sie geraubt hatte. Einigen gelang das wohl, aber nur sehr wenigen: andre setzten die Nase an die Stelle des Ohrs oder das Ohr an die Stelle der Nase, und die Köpfe sahen nur noch häßlicher aus als vorher.

Ich war sehr neugierig, zu wissen, was alles dieses bedeutete: ich befragte meine Führerin darum, sie öffnete schon den Mund, mir zu antworten, und plötzlich erwacht' ich.«

»Das ist grausam,« sagte Mangogul, »dieses Frauenzimmer hätte Ihnen sehr viele Geheimnisse offenbart. Da wir ihrer aber nicht habhaft werden können, so rat' ich Ihnen, sich an meinen Taschenspieler Bloculocus zu wenden.« »An wen? An den Pinsel,« sagte die Favorite, »dem Ihre Hoheit das ausschließende Vorrecht erteilt haben, Ihrem Hofe die Zauberlaterne zu zeigen?« »Gerade an den,« antwortete der Sultan, »er oder keiner kann Ihren Traum deuten. Bloculocus soll kommen,« sprach Mangogul.
Ein Gleichnis das der Deutung harrt.

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Montag, 16. Dezember 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 37
Die Schönsprecherin
Manuskript für Freunde

»Das ist sonderbar,« fuhr die Favorite fort. »Bis jetzt glaubt' ich, man könne den Kleinoden keinen andern Vorwurf machen, als den, daß sie zu deutlich gesprochen hätten.« »O wahrhaftig!« antwortete Mangogul, »diese beiden trifft der Vorwurf nicht. Verstehe sie, wer da kann!«

»Sie kennen das kleine kugelrunde Weib, deren Kopf tief in den Schultern steckt. Man wird die Arme kaum gewahr. Die Beine sind ihr so kurz, der Bauch sitzt so tief unten, daß sie aussieht wie ein porzellanener Affe oder wie ein dicker schlecht entwickelter Embryo. Man nennt sie Spheroid, die Abgeplattete. Sie bildet sich ein, Brahma habe sie zur Erlernung der Geometrie ausersehen, weil sie von ihm die Gestalt einer Weltkugel erhielt. Sie hätte sich aber ebenso folgerecht für das Geschützwesen bestimmt halten können, denn nach der Art ihrer Rundung muß sie aus dem Schoß der Natur gekommen sein, wie eine Kugel aus einer Kanone.

Ich wollte doch wissen, wie es um ihr Kleinod stände, und hab' es befragt. Dieser Wirbel aber antwortete mir in so gründlichen geometrischen Ausdrücken, daß ich ihn nicht verstand, und vielleicht verstand er sich selbst nicht. Er sprach von nichts als geraden Linien, konkaven Flächen, gegebenen Größen, von Länge, Breite, Tiefe, festen Körpern, lebendigen Kräften, toten Kräften, Kegeln, Zylindern, Kegelschnitten, Bogen, Spannbogen, Bogen, die in sich selbst zurückkehren mit konjugierter Spitze ...«

»O! erlassen mir Ihre Hoheit das übrige!« rief die Favorite wehklagend. »Sie haben ein grausames Gedächtnis. Das ist zum Umkommen. Davon werd' ich wahrscheinlich acht Tage lang Migräne haben. Ist das andre Kleinod vielleicht ebenso unterhaltend?«

»Darüber urteilen Sie selbst,« antwortete Mangogul. »Bei Brahmas großer Zehe, ich habe ein Wunder zuwege gebracht! Ich habe sein Kauderwelsch Silbe vor Silbe behalten, obwohl es so ganz und gar ohne Sinn und Verstand ist, daß ich es als ein anmutiges Geschenk betrachten würde, Madam, wenn Sie mir eine feine und kritische Auslegung davon geben möchten.«

»Wie haben Sie gesagt, Fürst?« rief Mirzoza. »Ich will des Todes sterben, wenn Sie diese Redensart nicht irgend jemand entlehnt haben!«

»Ich weiß selbst nicht, wie das kommt,« erwiderte Mangogul, »denn die beiden Kleinode sind die einzigen Personen, denen ich heute Audienz gegeben habe.« Als ich gegen das letzte meinen Ring drehte, schwieg es einen Augenblick und sprach dann, als rede es zu einer Versammlung:

»Meine Herren! Ich habe nicht nötig, zur Schande meiner eigenen Vernunft mich nach einem Muster für meine Denk- und Ausdrucksweise umzusehen. Wenn ich dennoch etwas Neues vorbringe, so wird das keinerlei Ziererei sein. Mein Stoff legte es mir in den Mund. Wiederhole ich aber etwas, was schon einmal gesagt worden ist, so hab' ich es eben gedacht wie die anderen.

Möge der Spott sich enthalten, diesen Eingang lächerlich zu finden oder mich anzuklagen, daß ich nichts gelesen oder daß ich umsonst gelesen habe. Ein Kleinod wie ich ist nicht gemacht, um zu lesen, noch um vom Lesen Nutzen zu ziehen, noch um einen Einwand vorher zu merken, noch um darauf zu antworten.

Ich will mich aber keineswegs den meinem Gegenstande angemessenen Betrachtungen und kunstreichen Redewendungen verschließen, und zwar um so weniger, als er in dieser Hinsicht von außerordentlicher Bescheidenheit ist, die weder auf Reichtum noch auf Glanz Anspruch macht. Aber ich will vermeiden, auf geringe und dürftige Einzelheiten einzugehen, die Sache eines unfruchtbaren Redners wären. Der bloße Verdacht eines solchen Fehlers könnte mich zur Verzweiflung bringen.

Nachdem Sie nun wissen, meine Herren, was Sie von meinen Entdeckungen und meiner Beredsamkeit zu erwarten haben, werden wenige Pinselstriche genügen, Ihnen meinen Charakter flüchtig zu zeichnen.

Sie, meine Herren, wissen alle ebensogut wie ich, daß es zweierlei Arten von Kleinoden gibt: hochmütige Kleinode und bescheidene Kleinode. Jene wollen überall die erste Geige spielen. Diese hingegen bemühen sich, nachgiebig zu sein, und setzen immer eine unterwürfige Miene auf. Solche verschiedene Absicht offenbart sich auch in ihrem verschiedenen Betragen und bewegt beide, je nach Maßgabe des Geistes, der sie treibt, zu handeln.

Die Vorurteile meiner ersten Erziehung ließen mich glauben, ich würde mir eine zuverlässigere, leichtere, anmutigere Laufbahn durch das Leben eröffnen, als wenn ich die Rolle der Demut der Rolle des Hochmuts vorzöge: und so bot ich mich allen, denen ich zu begegnen das Glück hatte, mit kindischer Scham, mit freundlichen Bitten dar.

Doch wie ungünstig sind die Zeitläufte! Nach unzähligen Wenn und Wie und Aber, bei denen dem unbeschäftigtsten Kleinod die Geduld vergangen wäre, ließ man sich endlich meine Dienste gefallen. Doch ach, man ward ihrer bald müde. Mein erster Besitzer, dem der schmeichelhafte Ruhm einer neuen Eroberung winkte, ließ mich im Stich, und so verfiel ich wieder in Untätigkeit.

Ich hatte soeben einen Schatz verloren und hoffte nicht, daß das Schicksal mich entschädigen würde. In der Tat aber ward der erledigte Platz durch einen Sechziger wieder besetzt, aber nicht ausgefüllt. Sein Geist war willig, aber das Fleisch war schwach.

Zwar bemühte er sich nach Kräften, mich die Vergangenheit vergessen zu machen. Er versuchte es mit allen Mitteln, die in meiner Laufbahn für höflich und wirksam galten, doch seine Anstrengungen vermochten nicht, meinen Kummer zu beseitigen.

Wenn der Fleiß, der, wie man sagt, nie zu kurz kommt, ihn in den Schätzen der Natur einige Linderung für meine Pein finden ließ, so schien mir solche Entschädigung unzulänglich trotz meiner Einbildungskraft, die sich vergeblich bemühte, neue Beziehungen zu suchen oder auch nur im Geiste sich vorzustellen.

Das ist der Vorzug der ersten Liebe, daß sie Besitz ergreift vom Denken und eine Schranke bildet gegen alles, das sich nachher in anderer Gestalt uns darbietet; das auch ist, zu unserer Schande sei es gestanden, die natürliche Undankbarkeit der Kleinode, daß sie den guten Willen niemals für die Tat nehmen.

Die Bemerkung scheint mir so natürlich, daß, ob ich sie gleich niemand verdanke, sie doch vielleicht auch andre vor mir gemacht haben dürften. Drängte sie sich aber auch schon vor mir jemand auf, so schmeichle ich mir doch, meine Herren, das Verdienst um sie zu besitzen, sie Ihnen zuerst vorgelegt zu haben.

Ich will es wohl bleiben lassen, so undankbar zu sein, denjenigen, welche bislang ihre Stimme erhoben, vorzuwerfen, daß sie diesen Charakterzug übersahen. Meine Eigenliebe ist vollauf befriedigt, nach einer so großen Anzahl von Rednern meine Beobachtung noch als etwas Neues hinstellen zu können.«

»Ach, Fürst,« rief Mirzoza ungeduldig, »mich deucht, ich höre den Chriomanten der Manimonbanda. Wenden Sie sich an den Mann und Sie werden die feine und kritische Deutung bekommen, die Sie als ein anmutiges Geschenk vergebens von jedem andern erwarten würden.«

Mangogul lächelte und fuhr fort: »›Aber‹, sagt der gelehrte Afrikaner, ›ich werde mich wohl hüten, seine Rede weiter zu berichten. Schon der Eingang derselben ist nicht so lustig als die ersten Seiten der Fee Maulwurf, und die Fortsetzung möchte leicht noch langweiliger ausfallen als die letzten der Fee Zwickelbart.‹«
Verkopfter Sex?

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Freitag, 13. Dezember 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 36
Ästhetik

Die Favorite liebte die schönen Geister, ohne selbst schöner Geist sein zu wollen. Man erblickte auf ihrem Nachttische unter Schmuck und Putz die neuesten Romane und die flüchtigen Stücke der Zeit; sie beurteilte sie sehr richtig. Sie ging, ohne sich dabei eine Blöße zu geben, von einer Partie Cavagnol oder Binibi zu der Unterhaltung mit einem Akademiker oder Gelehrten über; und alle gestanden, die bloße Feinheit ihres Gefühls entdeckte ihr zuweilen Schönheiten oder Fehler in deren Werken, die dem Auge der Kenner entgangen wären. Mirzoza setzte sie durch ihren Scharfsinn in Erstaunen, brachte sie durch ihre Fragen in Verlegenheit, aber mißbrauchte den Vorteil niemals, den ihr Witz und Schönheit gaben. Es war durchaus nicht unangenehm, ihr gegenüber unrecht zu haben.

Gegen das Ende eines Nachmittags, den Mangogul bei ihr zugebracht hatte, kam Selim, und sie ließ auch Ricarie rufen. Selims Schilderung hat der gelehrte Afrikaner sich für eine andre Stelle aufgehoben. Hier teilt er uns nur mit, daß Ricarie Mitglied der Akademie von Congo sei, daß seine Gelehrsamkeit ihn nicht verhinderte, viel Verstand zu besitzen, daß er gründlich in die Kenntnis vergangener Dinge eingedrungen sei, einen gewissenhaften Eifer für die Regeln der Alten zeigte, die er beständig im Munde führte, daß er ein Prinzipienreiter war und der eifrigste Anhänger der ersten Congoschen Schriftsteller, vornämlich aber eines gewissen Mirufla, der vor ungefähr 3100 Jahren ein erhabenes Poem in kaffrischer Sprache über die Eroberung eines großen Waldes verfaßte, woraus die Kaffern Affen verjagt hatten, die seit undenklicher Zeit darinnen wohnten. Ricarie hatte ihn ins Congosche übersetzt und eine schöne Ausgabe des Originals besorgt mit Anmerkungen, Scholien, Varianten und allen Verzierungen eines gelehrten Benediktinerkodex. Auch besaß man von ihm zwei nach allen Regeln der Kunst schlechte Trauerspiele, ein Loblied auf die Krokodille und einige Opern.

»Gnädige Frau,« sprach Ricarie mit einer Verbeugung, »hier ist ein Roman, den man der Marquise von Tamazi zuschreibt, unglücklicherweise aber erkennt man Mathazens Hand darin. Dies ist die Antwort unsers Präsidenten Lambadago auf die Rede des Poeten Tuxigraph, sie ist erst gestern herausgekommen. Dies ist Tuxigraphens Tamerlan.«

»Das ist bewundernswert,« sagte Mangogul. »Die Druckerpressen haben weder Ruh noch Rast. Täten die Ehemänner von Congo ebenso ihre Schuldigkeit wie die Schriftsteller, ich könnte in weniger als zehn Jahren sechzehnmal hunderttausend Menschen auf die Beine bringen und Monoemugi erobern. Den Roman lesen wir bei Gelegenheit. Jetzt wollen wir uns die Rede ansehen, vor allem die Stellen, die mich betreffen.«

Ricarie durchlief sie mit den Augen, und dabei fiel sein Blick auf folgende Periode:. »Die Vorfahren unsers erlauchten Kaisers haben sich ohne Zweifel berühmt gemacht. Aber Mangogul, größer als sie, hat den Jahrhunderten der Zukunft weit mehr Gelegenheit gegeben, ihn zu bewundern. Was sag' ich bewundern? Um es genauer auszudrücken: sie werden kaum glauben wollen, was sie hören. Hatten unsere Vorfahren schon recht, zu versichern, die Nachkommenschaft werde die Wunder von Kanoglus Regierung für Märchen achten; wie viel mehr recht haben wir, zu denken, unsre Enkel werden die Weisheit und Tapferkeit, deren Zeugen wir sind, für übernatürlich und unmöglich halten!!!«

»Armer Lambadago,« sagte der Sultan, »was bist du für ein erbärmlicher Phrasenheld! Ich habe recht, zu glauben, daß deine Nachfolger dereinst meine Ehre durch die Ehre meines Enkels verdunkeln lassen werden, wie du jetzt den Ruhm meines Großvaters vor dem meinigen verschwinden läßt. Das wird immer so fortgehen, solang' es Akademiker gibt. Was halten Sie davon, Herr Ricarie?«

»Ich kann weiter nichts sagen, gnädigster Herr,« antwortete Ricarie, »als daß die Periode, die ich Ihrer Hoheit vorgelesen habe, dem Publikum ungemein gefiel.«

»Desto schlimmer,« erwiderte Mangogul. »Ist denn der Geschmack für wahre Beredsamkeit in Congo ganz erloschen? So lobte der erhabene Homilogo den großen Aben nicht.«

»Gnädigster Herr,« antwortete Ricarie, »wahre Beredsamkeit ist nicht anders als die Kunst, in edlen Ausdrücken und zugleich angenehm und überzeugend zu sprechen.«

»Und vernünftig,« sagte der Sultan. »Nun richten Sie über Ihren Freund Lambadago. Ich habe alle Achtung für die neuere Beredsamkeit, aber er ist ein verlogener Deklamator.«

»Aber Fürst,« versetzte Ricarie, »bei aller Eurer Hoheit schuldigen Ehrfurcht möchte ich mir doch erlauben – – –«

»Ich erlaube Ihnen,« fiel Mangogul lebhaft ein, »den gesunden Menschenverstand höher zu achten als meine Hoheit; und mir aufrichtig zu gestehen, ob ein beredter Mann sich erlauben dürfe, diesen Menschenverstand zu verleugnen?«

»Nein, gnädigster Herr,« antwortete Ricarie, und er wollte eben eine lange Reihe von Autoritäten aufzählen und alle Redner von Afrika, Arabien und China anführen, um eine Sache zu beweisen, die sich von selbst verstand, als Selim ihn unterbrach.

»Alle Ihre Schriftsteller,« sprach der Hofmann, »werden mir nie beweisen, daß Lambadago etwas anders, als ein ungeschickter unbescheidner Schwätzer sei. Vergeben Sie mir diese Ausdrücke, Herr Ricarie. Ich schätze Sie ganz besonders, aber alle kollegialen Vorurteile beiseite: müssen Sie uns nicht darin recht geben, daß unser gnädigster Herr, der gerecht, liebenswürdig, wohltätig und ein großer Krieger ist, der Stelzen Ihrer Redner nicht bedarf, um ebensogroß zu sein als seine Vorfahren? Ein Sohn, den man dadurch erhebt, daß man seinen Vater und Großvater herabsetzt, muß wohl lächerlich eitel sein, wenn er nicht fühlt, man entstelle ihn mit einer Hand, indem man ihn mit der andern verschönert. Oder wäre Ihre Meinung: wer beweisen wolle, daß Mangogul einen ebenso ansehnlichen Wuchs habe, als einer seiner Vorgänger, müsse notwendig den Bildsäulen Erguebzeds und Kanoglus die Köpfe herunterschlagen?«

»Herr Ricarie,« sprach Mirzoza dazwischen, »Selim hat recht. Lassen wir jedem, was ihm zukommt, und hüten wir uns, beim Publikum den Verdacht zu erregen, unsre Lobreden seien eine Art heimlichen Diebstahls am Gedächtnis unsrer Väter. Sagen Sie das meinetwegen der versammelten Akademie in der nächsten Sitzung.«

»Man ist seit zu langer Zeit auf diesen Ton gestimmt,« sagte Selim, »als daß ich hoffen könnte, diese Warnung werde etwas nützen.«

»Ich glaube, Sie irren sich, mein Herr,« antwortete Ricarie dem Selim. »Die Akademie ist noch das Heiligtum des guten Geschmacks, und ihr goldnes Zeitalter bietet uns weder Philosophen noch Dichter, denen wir nicht Philosophen und Dichter entgegenzusetzen hätten. Unsre Schaubühne galt für die erste in Afrika und kann noch dafür gelten. Welch ein herrliches Werk ist der Tamerlan des Tuxigraph! Er vereinigt das Pathos des Eurisop mit Asofs Erhabenheit. Das ist reinstes Altertum.«

»Ich war bei der ersten Vorstellung Tamerlans zugegen,« sagte die Favorite, »und fand, wie Sie, das Stück wohlgeführt, die Sprache zierlich und die Regeln gut beobachtet.«

»Wie groß ist der Unterschied, gnädige Frau,« sagte Ricarie, »zwischen einem Dichter wie Tuxigraph, der sich durch die Schriften der Alten nährte, und den meisten Neueren!«

»Aber diese Neueren,« sprach Selim, »denen Sie hier nach Herzenslust hohnsprachen, sind nicht so verächtlich, wie Sie meinen. Können Sie Ihnen Geist, Erfindung, Feuer, seine Züge, Charakter, Sentenzen absprechen? Was kümmern mich die Regeln, wenn man mir nur gefällt? Gewiß sind es nicht die Regeln des weisen Almudir und des gelehrten Abaldok, noch die Dichtkunst des erfahrnen Farcadin, die ich nie gelesen habe, um derentwillen ich Abulcassems, Mubardas, Albabukers und andrer Sarazenen Stücke bewundere. Gibt es eine andre Vorschrift als die Nachahmung der Natur? Und haben wir nicht die nämlichen Augen, wie die, welche sie studierten?«

»Die Natur,« antwortete Ricarie, »zeigt sich uns jeden Augenblick von einer andern Seite. Alle sind wahr, aber nicht alle sind gleich schön. Gerade aus den Schriftstellern, auf die Sie keinen großen Wert zu legen scheinen, muß man lernen, die Wahl zu treffen. Sie sammelten ihre Erfahrungen und die Erfahrungen ihrer Vorgänger. Wenn man noch so viel Verstand hat, so sieht man doch nur einen Gegenstand nach dem andern, und ein Mensch darf sich nicht schmeicheln, in der kurzen Spanne seiner Lebenszeit alles zu sehen, was man in den Jahrhunderten entdeckte, die ihm vorangingen. Sonst müßte man annehmen, eine einzige Wissenschaft dürfe ihre Entstehung, ihre Fortschritte und ihre ganze Vollkommenheit einem einzigen Kopfe verdanken. Dawider streitet die Erfahrung.«

»Herr Ricarie,« versetzte Selim, »aus Ihren Schlüssen folgt weiter nichts, als daß die Neueren, die die Schätze genießen, welche man bis auf ihre Zeit zusammenbrachte, reicher sein müssen als die Alten: oder daß, mißfällt Ihnen dieser Vergleich, wer auf den Schultern des Riesen steht, weiter sehen müsse als der Riese. Und in der Tat, was ist ihre Naturlehre, ihre Sternkunde, ihre Schiffahrt, ihre Mechanik, ihre Rechenkunst gegen die unsrige? Und warum sollten auch unsre Beredsamkeit und unsere Dichtkunst nicht den Vorrang besitzen?«

»Den Grund dieses Unterschiedes, Selim,« antwortete die Sultanin »wird Ihnen Ricarie ein andermal darlegen. Er wird Ihnen sagen, warum unsre Trauerspiele denen der Alten nachstehen. Daß dem also sei, soll mir leicht fallen, Ihnen zu zeigen.« »Nicht,« fuhr sie fort, »als ob ich Ihnen den Vorwurf machen wollte, die Alten nicht gelesen zu haben. Sie haben einen viel zu gebildeten Geist, als daß ihre Schaubühne Ihnen unbekannt wäre. Setzen Sie nur gewisse Begriffe beiseite, die auf ihre Gebräuche, auf ihre Sitten und ihre Religion Bezug haben, und die Sie nur stören, weil sich die Umstände geändert haben: und gestehen Sie, daß ihre Stoffe edel, gut gewählt und anziehend sind; daß sich die Handlung gleichsam durch sich selbst entwickelt, daß ihre einfache Sprache der Natur sehr nahekommt, daß die Auflösung ungezwungen, das Interesse nicht geteilt und die Haupthandlung nicht mit Nebenhandlungen überladen ist. Versetzen Sie sich im Geist auf die Insel Alindala, beobachten Sie alles, was dort vorgeht, hören Sie alles, was dort gesprochen wird von dem Augenblicke an, wo der junge Ibrahim und der listige Forfanti ans Land treten; nähern Sie sich der Höhle des unglücklichen Polipsil; verlieren Sie kein Wort von seinen Klagen und sagen Sie mir dann, ob Sie irgend etwas aus der Illusion reißt? Nennen Sie mir ein neueres Stück, das die nämliche Prüfung besteht, das dieselbe Prüfung aushalten und auf einen gleichen Grad von Vollkommenheit Anspruch machen könnte, und ich will mich für besiegt erklären.«

»Beim Brahma!« rief der Sultan gähnend aus, »Madam hat eine akademische Vorlesung gehalten!«

»Ich verstehe mich nicht auf Regeln,« fuhr die Favorite fort, »und noch weniger auf die gelehrten Ausdrücke, worin sie abgefaßt sind. Aber ich weiß, nur Wahrheit gefällt und rührt. Weiter weiß ich, die Vollkommenheit eines Schauspiels besteht in so genauer Nachahmung einer Handlung, daß der Zuschauer in ununterbrochener Täuschung selbst bei der Handlung gegenwärtig zu sein sich einbildet. Ist das nun der Fall bei den Trauerspielen, welche Sie uns rühmen?«

»Bewundern Sie ihre Szenenführung? Die ist ja gewöhnlich so verwickelt, daß so viele Dinge in so kurzer Zeit nur durch ein Wunder geschehen könnten. Der Sturz oder die Erhaltung eines Reichs, die Vermählung einer Fürstin, der Untergang eines Fürsten, das alles geschieht im Handumdrehen. Soll eine Verschwörung dargestellt werden? Man entwirft sie im ersten Aufzuge; im zweiten verbindet und befestigt man sie; im dritten werden alle Maßregeln ergriffen, alle Hindernisse weggeräumt, jedem Verschworenen sein Posten angewiesen; sogleich folgt ein Aufruhr, Waffengetöse, vielleicht ein Treffen zwischen zwei Heeren; und das nennen Sie Linienführung, Interesse, Wärme, Wahrscheinlichkeit? Nein, das könnt' ich Ihnen nie vergeben! Sie wissen zu genau, wieviel Mühe es zuweilen kostet, eine erbärmliche Intrige zu Ende zu führen; wieviel Zeit mit Maßregeln, Unterhandlungen und Entschließungen über die geringfügigste Staatsangelegenheit vergeht.«

»Es ist wahr, gnädige Frau,« antwortete Selim, »unsre Stücke sind ein wenig überladen; aber das ist ein notwendiges Übel: wenn die Nebenhandlungen uns nicht zu Hilfe kämen, so müßten wir erfrieren.«

»Das heißt: um der Darstellung einer Tatsache Leben einzuhauchen, muß man sie weder wiedergeben, wie sie ist, noch wie sie sein sollte. Kann man sich etwas Lächerlicheres denken? Oder es müßte denn nicht mehr absurd sein, die Geigen ein lebhaftes Stück oder muntere Sonaten spielen zu lassen, während die Gemüter der Zuschauer das Vorgefühl haben, ein Fürst ist nahe daran, seine Geliebte, seinen Thron und sein Leben zu verlieren.«

»Sie haben recht, Madam,« sagte Mangogul, »alsdann muß man Trauermelodien anstimmen, und ich will Ihnen gleich einige bestellen.« Mangogul stand auf, ging hinaus, und die Unterredung wurde nun zwischen Selim, Ricarie und der Favorite fortgesetzt.

»Wenigstens werden Sie nicht leugnen, gnädige Frau,« versetzte Selim, »daß, wenn die Nebenhandlungen uns aus der Täuschung reißen, der Dialog uns wieder hineinversetzt? Darauf aber versteht sich niemand besser, als unsre tragischen Dichter.«

»Dann versteht es also niemand,« versetzte Mirzoza. »Der Schwung, die Geistreicheleien und Geziertheiten, die darin herrschen, sind tausend Meilen entfernt von der Natur! Vergeblich sucht der Dichter sich dahinter zu verstecken, meine Augen dringen hindurch, und ich sehe ihn beständig hinter seinen Gestalten stehen, Cinna, Sertorius, Maximus, Ämilia sind mir in jedem Worte das Sprachrohr Corneilles. So spricht man nicht miteinander bei unseren alten Sarazenen. Herr Ricarie wird Ihnen, wenn Sie wollen, einige Stellen daraus übersetzen, und Sie werden merken, wie in ihrem Munde die reine Natur zum Ausdruck kommt. Gern möchte ich den Neueren zurufen: ›Meine Herren, anstatt bei jeder Gelegenheit eurer Person Geist zu geben, versetzt sie lieber in eine Lage, die ihnen welche gibt.‹«

»Ihro Gnaden,« sagte Selim, »haben über den Verlauf und den Dialog unsrer Dramen sich in einer Weise ausgesprochen, daß die Entwicklungen schwerlich Gnade vor Ihnen finden werden.«

»Nein, gewiß nicht,« antwortete die Favorite. »Es gibt hundert schlechte auf ein gutes. Die eine ist nicht vorbereitet, das andre arbeitet mit Wundern. Weiß ein Dichter nicht, was er mit einem Menschen anfangen soll, den er fünf Aufzüge hindurch von einem Auftritt zum andern schleppte, so befördert er ihn mit einem Dolchstoß ins Jenseits. Dann fängt alles an zu weinen, und ich lache wie toll. Und dann: hat man jemals so gesprochen, wie wir deklamieren? Schreiten Fürsten und Könige anders einher, als jemand, der einen guten Gang hat? Werfen sie die Arme in die Luft wie Besessene oder Rasende? Sprechen die Prinzessinnen, indem sie wie Schlangen zischen? Man nimmt allgemein an, wir hätten die Tragödie auf einen hohen Grad der Vollkommenheit gebracht; und ich halte es beinahe für erwiesen, daß von allen Literaturgattungen, welche die Afrikaner in den letzten zwei Jahrhunderten gepflegt haben, gerade diese die unvollkommenste geblieben ist.«

So weit war die Favorite in ihrem Ausfall gegen unsre Theaterstücke gekommen, als Mangogul wieder hereintrat. »Madam,« sprach er zu ihr, »Sie werden mich verpflichten, wenn Sie fortfahren. Ich habe, wie Sie sehen, das Geheimnis, eine Dichtkunst abzukürzen, wenn sie mir zu lang wird.«

»Ich will einmal annehmen,« fuhr die Favorite fort, »es käme einer soeben frisch aus Angote neuerdings ans Land, der sein Lebtag nichts vom Schauspiel gehört habe, dem es aber weder an Verstand noch Weltkenntnis fehlte, der ein wenig die Fürstenhöfe, die Ränke der Hofleute, die Eifersüchteleien der Minister und die Hetzereien der Weiber kennte. Dem nun sagte ich im Vertrauen: ›Mein lieber Herr, es gehen im Serail schreckliche Bewegungen vor. Der Fürst, unzufrieden mit seinem Sohne, von dem er argwöhnt, daß er in die Mamimonbanda verliebt sei, scheint mir ganz der Mann, an beiden eine grausame Rache zu nehmen. Das Abenteuer wird allem Anscheine nach traurige Folgen haben. Wollen Sie, so werde ich Sie zum Zeugen aller kommenden Ereignisse machen.‹ Er nimmt mein Anerbieten an, und ich führe ihn in seine mit Gitterwerk versehene Theaterloge, von wo er die Bühne erblickt, die er für den Palast des Sultans hält. Glauben Sie, der Mensch werde, wenn ich auch ein noch so ernsthaftes Gesicht dazu mache, sich auch nur einen Augenblick täuschen lassen? Im Gegenteil. Sie werden mir zugeben, daß er bei dem gespreizten Gange der Schauspieler, bei ihrer wunderlichen Tracht, bei ihren höchst seltsamen Gebärden, bei dem merkwürdigen Tonfall ihrer gereimten und gemessenen Sprache mich gleich im ersten Auftritt auslachen und mir sagen wird, entweder wollte ich mich über ihn lustig machen, oder der Fürst und sein ganzer Hof seien verrückt geworden.«

»Ich gestehe Ihnen,« sagte Selim, »dieses Beispiel bringt mich selbst in Verlegenheit; aber könnte man Ihnen nicht dagegen einwenden, daß man nicht ins Schauspiel geht mit der Überzeugung, ein Ereignis an sich, sondern nur seine Nachahmung zu sehen?«

»Und soll diese Überzeugung etwa verhindern,« erwiderte Mirzoza, »daß man die Handlung so natürlich darstelle als möglich?«

»Sieh da, Madame,« sagte Mangogul, »auf einmal sind Sie ja an der Spitze der Tadler?«

»Und wenn man Ihnen glauben wollte,« fuhr Selim fort, »droht dem Reiche der Verfall des guten Geschmacks, feiert die Barbarei ihre Auferstehung, und sind wir auf dem besten Wege, in die Unwissenheit der Zeiten Mamurehas und Orondados zurückzufallen?«

»Hoher Herr, fürchten Sie nichts dergleichen. Ich hasse die Unglückspropheten und werde ihre Zahl nicht noch vermehren. Auch ist mir der Ruhm Seiner Hoheit zu teuer, als daß ich dem Glanz seiner Regierung jemals zu nahe treten möchte. Aber das ist doch wahr, Herr Ricarie: wenn man uns Glauben schenkte, würde die Literatur vielleicht in höherem Glanze strahlen.«

»Wie?« fragte Mangogul. »Sollten Sie dieserhalb etwa meinem Seneschall eine Denkschrift überreichen wollen?«

»Nein, gnädigster Herr,« antwortete Ricarie. »Doch nachdem ich Ihrer Hoheit im Namen aller Literaten für den neuen Aufsichtsrat, den Sie uns gaben, gedankt habe, werde ich vielleicht dem Herrn Seneschall untertänigst vorstellen, daß die Wahl der Gelehrten, die mit der Durchsicht der Handschriften betraut werden sollen, eine sehr heikle Angelegenheit ist, daß man diese Sache Männern überträgt, die der Aufgabe keineswegs gewachsen sind, und daß daraus eine Menge böser Folgen entsteht, wie zum Beispiel die Verstümmelung guter Werke; die Unterdrückung der vorzüglichsten Köpfe, die, weil es ihnen nicht erlaubt ist, nach ihrer Weise zu schreiben, entweder gar nicht mehr schreiben oder ihre Werke im Auslande drucken lassen und ihm dadurch beträchtliche Summen zuführen; die Verbreitung einer schlechten Meinung über die Gegenstände selbst, deren Behandlung man verbietet, und tausend andre Nachteile, die alle der Reihe nach Eurer Hoheit aufzuzählen zu weit führen würde. Ich möchte ihm ferner raten, den Gehalt gewisser schreibseliger Blutegel zu kürzen, die ohne Grund und Unterlaß Geld fordern. Ich meine die Glossatoren, Antiquare, Kommentatoren und andre Leute dieser Art, die sehr nützlich sein würden, wenn sie mit ihrem Handwerk Gutes stifteten, die aber die unglückliche Gewohnheit haben, über dunkle Dinge wegzugehen und klare Stellen zu erklären. Ich wünschte ferner, er überwachte die Unterdrückung fast aller literarischen Nachlasse und litte nicht, daß das Gedächtnis eines großen Schriftstellers durch einen habsüchtigen Verleger besudelt werde, der lange nach dem Tode eines Mannes solche Werke sammelt und herausgibt, die der Lebende zur Vergessenheit verurteilt hatte.« »Und ich,« fuhr die Favorite fort, »möchte ihm eine kleine Anzahl angesehener Männer nachweisen, wie z.B. Herrn Ricarie, die er mit Ihren Wohltaten überhäufen könnte. Ist es nicht erstaunlich, daß dieser arme Junge keinen Heller hat, während der köstliche Chyromant der Manimonbanda jährlich tausend Zechinen aus Ihrer Schatzkammer erhält?«

»Gut, Madam,« antwortete Mangogul, »Herr Ricarie erhält künftig ebensoviel aus meiner Schatulle zum Lohn für die Wunder, die Sie mir von ihm erzählen.«

»Herr Ricarie,« sagte die Favorite, »ich muß auch etwas für Sie tun. Ich opfre Ihnen die kleine Empfindlichkeit meiner Eigenliebe. Ich vergesse, zum Dank für die Belohnung, die Mangogul Ihnen soeben bewilligte, die Beleidigung, die er mir zufügte.«

»Darf man fragen, Madam, worin diese Beleidigung besteht?« sagte Mangogul.

»O, gnädiger Herr, das sollen Sie erfahren. Sie selbst verwickeln uns in ein Gespräch über die schönen Wissenschaften. Sie leiten es ein mit einer kleinen Rede über die neuere Beredsamkeit, die nicht eben schön ist, und da man aus Gefälligkeit gegen Sie sich eifrig bemüht, das triste Gespräch, das Sie angefangen haben, fortzusetzen, überfällt Sie Langeweile und Gähnen. Sie werfen sich auf Ihrem Lehnstuhl hin und her, verändern hundertmal Ihre Lage, ohne eine einzige bequeme zu finden, werden es endlich überdrüssig, die schlechteste Haltung der Welt länger beizubehalten, fassen einen raschen Entschluß, stehen auf und verschwinden. Und wohin gehen Sie wieder? Vielleicht ein Kleinod anzuhören!«

»Ich gebe die Tatsache zu, Madam, finde aber darin keine Beleidigung. Wer bei guten Sachen Langeweile empfindet und sich mit schlechten unterhalten kann, leidet selbst am meisten darunter. Dieser ungerechte Vorzug benimmt dem Verdienste nichts, das er vernachlässigt; er allein erklärt sich dadurch für einen schlechten Richter. Dem könnt' ich noch hinzufügen, Madam, daß, während Sie sich mit Selims Gespräch beschäftigten, ich mir eben so vergebliche Mühe gab, Ihnen ein Schloß zu verschaffen. Muß ich aber dennoch schuldig sein, da Sie es einmal ausgesprochen haben, so erklär' ich Ihnen, daß Sie auf der Stelle gerächt wurden.«

»Wieso?« fragte die Favorite. »Auf folgende Weise,« antwortete der Sultan. »Um mich von der akademischen Sitzung ein wenig zu zerstreuen, die ich aushalten mußte, wollt' ich einmal wieder ein Kleinod hören ...« »Das wissen wir ja, gnädigster Herr ...« »Und bin unglücklicherweise auf zwei verfallen, deren Abgeschmacktheit alles übertrifft, was ich jemals vernahm..«

»Das ist mir unendlich lieb,« erwiderte die Favorite.

»Beide redeten in einer mir unverständlichen Sprache; ich habe alles behalten, was sie sagten, aber ich will auf der Stelle sterben, wenn ich ein Wort davon verstehe.«

Dichtkunst und Poppen. Ich bin gespannt wie die Gemeinsamkeiten bei Hofe weiter charakterisiert werden.

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Mittwoch, 11. Dezember 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 35
Das Schauspiel


Hätte man in Congo an guter Deklamation Geschmack gehabt, so würde man einiger Komödianten haben entraten können. Die Gesellschaft bestand aus dreißig Personen, worunter kaum ein großer Schauspieler und zwei mittelmäßige Schauspielerinnen waren. Der Geist der Dichter mußte sich zu der Mittelmäßigkeit des großen Haufens herabstimmen, und man durfte sich nicht schmeicheln, daß ein Stück mit nur irgendwelchem Erfolge gespielt werden würde, wenn man nicht so vorsichtig gewesen war, seine Charaktere nach den Untugenden der Komödianten umzumodeln. Das nannte man zu meiner Zeit Theaterpraktik. Vordem modelten sich die Schauspieler nach den Stücken, jetzt machte man Stücke für die Schauspieler. Bot jemand der Bühne ein neues Drama an, so untersuchte man ohne Widerrede, ob der Vorwurf unterhaltsam wäre, der Knoten gut geschürzt, die Charaktere wohlbegründet, die Sprache rein und fließend sei; fand sich aber keine Rolle darin für Roseius und Amiane, so nahm man es nicht.

Der Kissar Agasi, Oberaufseher der Großherrlichen Vergnügungen, hatte die Gesellschaft auf gut Glück verschrieben, und an diesem Tage gab man im Serail die erste Vorstellung eines Trauerspiels. Es war von einem neueren Dichter, der seit so langer Zeit mit Beifall überhäuft war, daß, selbst wenn sein Stück nichts als ein Gewebe von Ungereimtheiten gewesen wäre, man es doch gewohnheitsgemäß beklatscht haben würde. Aber er hatte sich nicht verleugnet. Sein Trauerspiel war gut geschrieben, die Auftritte mit Kunst vorbereitet, die Ereignisse geschickt gesteigert. Die Teilnahme wuchs mit jedem Augenblick, die Leidenschaften entwickelten sich immer mehr, die Akte zwanglos mitsammen verbunden waren voller Handlung; der Zuschauer war unablässig gespannt auf das, was kommen würde, und zufrieden mit dem, was geschehen war. Schon spielte der vierte Akt dieses Meisterwerkes, eine lebhafte Szene diente eben zur Vorbereitung einer wichtigeren, als Mangogul, um sich nicht dadurch lächerlich zu machen, daß er bei rührenden Stellen Achtung gäbe, sein Augenglas hervorzog, und um den Unaufmerksamen zu heucheln, von einer Loge in die andre blickte. Da fiel ihm ein Frauenzimmer auf, das sehr gerührt zu sein schien, aber von einer Rührung, die mit dem Stücke wenig zu tun zu haben, sondern sehr unangebracht zu sein schien. Sogleich drehte er seinen Ring gegen sie, und mitten in einer sehr traurigen Erkennungsszene hörte man ein Kleinod nach Luft schnappen und dem Schauspieler zuseufzen: »Ach! ... Ach! ... Orgoglio, halt ein ... du erschütterst mich zu sehr ... Ach! ... Ach! ... das halt' ich nicht aus!«

Man horchte auf, man sah allenthalben umher, von wannen diese Stimme komme, man sagte sich im Parterre, es habe ein Kleinod geredet. »Welches Kleinod? Was hat's gesagt?« fragte man sich. Während man es zu erfahren suchte, hörte man nicht auf, mit den Händen zu klatschen und »dacapo!« »dacapo!« zu rufen. Der Dichter stand unterdessen hinter den Kulissen, fürchtete, dieser unzeitige Auftritt möchte sein Stück unterbrechen, schäumte vor Wut und wünschte alle Kleinode zum Teufel. Der Lärm war groß und anhaltend. Nur aus Achtung vor dem Sultan blieb es bei diesem Zwischenfall. Aber Mangogul winkte zur Stille, die Schauspieler fuhren fort und kamen zu Ende.

Doch war der Sultan neugierig, die Fortsetzung dieser öffentlichen Liebeserklärung zu erfahren, und ließ dem Kleinod aufpassen, von dem sie kam. Bald erfuhr er, der Schauspieler sei zu Erifilen bestellt. Kraft seines Ringes war er vor ihm da und befand sich im Gemach dieser Dame, als Orgoglio gemeldet wurde.

Erifile war gerüstet, d.h. wollüstig entkleidet, und nachlässig auf einem Ruhelager hingestreckt. Der Schauspieler trat herein, voller Wichtigkeit, stolz, eingebildet und geckenhaft. In seiner Linken schwenkte er einen einfachen, mit einer weißen Feder verzierten Hut und mit den Fingerspitzen seiner Rechten streichelte er sich die Nase. Diese seine theatralische Haltung pflegte von den Kennern sehr bewundert zu werden. Seine Verbeugung war artig, seine Begrüßung vertraulich: »Wie schön Sie sind!« sprach er in geziertem Tone zu Erifilen. »Wissen Sie wohl, daß Sie im Negligé entzückend sind?«

Das Benehmen dieses Windbeutels ärgerte den Sultan. Ein junger Fürst weiß nicht immer, was draußen in der Welt Brauch ist. »So gefall' ich dir also, lieber Junge?« sagte Erifile. – »Über alle Maßen.« – »Das ist mir lieb. Sei doch so gütig, mir die Stelle noch einmal zu wiederholen, die mich heute abend so tief erschütterte. Die Stelle ... ja, ja, die ... Ganz recht ... O, wie der Schelm verführerisch ist! ... Aber weiter! ... weiter ... das rührt mich außerordentlich!«

Und Erifile warf Blicke auf ihren Helden, die mehr als Worte sagten, und reichte ihm eine Hand, die der unverschämte Orgoglio nur obenhin wie zur Quittung küßte. Denn stolzer auf sein Talent als auf seine Eroberung, war seine Seele ganz bei seiner Deklamation, und seine gefühlvolle Zuhörerin beschwor ihn, bald aufzuhören, bald fortzufahren. Mangogul schloß aus allen Bewegungen, daß ihr Kleinod gern eine Rolle spielen würde bei dieser Probe, und er zog es vor, das Ende des Auftritts lieber zu erraten, als ihm beizuwohnen. Er verschwand und begab sich zur Favorite, die seiner wartete.

Der Sultan erzählte ihr den Vorfall. »Was Sie da sagen, Fürst!« rief sie aus. »Sind also die Weiber zum tiefsten Grade der Erniedrigung herabgesunken? Ein Schauspieler! Ein Sklave des Publikums! Ein Lustigmacher! Ja, hätten diese Menschen nur das Vorurteil gegen ihren Stand wider sich! Aber die meisten sind ohne Sitten und Grundsätze, und Orgoglio ist nur ein Klotz unter ihnen. Er hat niemals selbst gedacht, und hätte er nicht Rollen auswendig gelernt, vielleicht würde er nie geredet haben.«

»Wonne meines Herzens,« antwortete Mangogul, »Sie wissen nicht, worüber Sie klagen. Haben Sie denn Hariens Koppel vergessen? Ein Schauspieler scheint mir doch auch so viel wert wie ein Mops.«

»Sie haben recht, Fürst,« versetzte die Favorite. »Ich bin nicht gescheit, daß ich mich um Geschöpfe bekümmere, die der Mühe nicht wert sind. Palabria bete ihre Wechselbälge an; Salica lasse ihre Nervenschwäche durch Farfadi vertreiben, wie sie es versteht; Haria lebe und sterbe mitten unter ihrem Vieh; Erifile gebe sich allen Seiltänzern von Congo preis: was geht das mich an? Ich kann nichts dabei verlieren als ein Lustschloß. Das muß ich aufgeben, seh' ich, und ich bin ganz dazu entschlossen.«

»Ade, kleiner Wickelschwanzaffe!« sagte Mangogul.

»Ade, kleiner Wickelschwanzaffe!« wiederholte Mirzoza, »und ade auch du gute Meinung, die ich von meinem Geschlecht hatte! Die werd' ich wohl niemals wieder finden. Fürst, erlauben Sie mir, daß ich wenigstens vierzehn Tage lang kein Frauenzimmer vor mich lasse?«

»Man muß doch Menschen sehn,« versetzte der Sultan.

»Ich werde Ihrer Gesellschaft genießen oder warten,« antwortete die Favorite, »und sollte ich einige Augenblicke übrig haben, so geb ich sie Ricarie oder Selim, die mir zugetan sind, und deren Umgang mir gefällt. Hab' ich der Gelehrsamkeit meines Vorlesers genug, so wird ihr Kammerherr mich mit den Erfolgen seiner Jugend unterhalten.«
Die Favorite verliert ihre Wette? Na, wahrscheinlich nicht.

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Montag, 9. Dezember 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 34
Die Stutzer

Zweimal wöchentlich sah die Favorite große Gesellschaft bei sich. Den Abend vorher nannte sie die Damen, die sie dabei wünschte, und der Sultan gab die Liste der Herren. Man kam sehr geputzt dahin. Die Unterhaltung war allgemein oder geteilt. Wenn die galante Chronik des Hofes keinen Stoff zu unterhaltsamen Abenteuern aus dem Reiche der Liebe darbot, so erfand man dergleichen oder gab sich wohl gar mit elenden Märchen ab und nannte das dann »Tausendundeine Nacht fortsetzen«. Die Herren hatten Erlaubnis, allerlei Seltsamkeiten zu sagen, und die Damen durften sticken beim Zuhören. Der Sultan und die Favorite mischten sich ungezwungen unter ihre Untertanen; ihre Gegenwart stand keiner Unterhaltung im Wege, und Langeweile war sehr selten. Mangogul hatte früh gelernt, daß ein Vergnügen sich nur an des Thrones Stufen fände, und niemand stieg so gern und mit so vielem Anstand herunter als er, niemand wußte besser, zur rechten Zeit die Majestät abzulegen.

Während er des Senators Hippomanes verschwiegenes Heim durcheilte, wartete Mirzoza seiner im Rosen-Saal. Mit ihr waren die junge Zaide, die fröhliche Leokris, die lebhafte Serica, Amine, die an zwei Emirs verheiratete Bensaire, die spröde Orfise und die Groß-Seneschallin Vetula, die weltliche Mutter aller Brahminen. Bald erschien auch der Sultan. Ihn begleitete der Graf Maikäfer und der Chevalier von Flachkopf.

Der alte Wollüstling Trübewasser und sein Schüler, der junge Murmelbach, folgten. Zwei Minuten darauf kamen der Pascha Greifgreif, der Aga Breitschnabel und der Seliktar Sammtpfötchen. Das waren die ausgezeichnetsten Stutzer des Hofes. Mangogul hatte sie mit Fleiß versammelt. Er hatte von ihren ritterlichen Taten gegen die Weiber dermaßen die Ohren voll, daß er sich endlich vornahm, mit Gewißheit zu erfahren, was an der Sache sei: »Nun, Ihr Herren,« sagte er, »Ihr wißt doch alles, was im Gebiet der Liebe vorgeht, was also gibt es neues? Wie steht's mit den redseligen Kleinoden?«

»Gnädigster Herr,« antwortete Trübewasser, »ihre Sprachverwirrung nimmt immer zu. Geht das so fort, so wird bald niemand mehr sein eignes Wort verstehen. Aber unter allen Aussagen ist keine possierlicher, als die von Zobeidens Kleinod. Es hat ihrem Manne eine ganze Liste von Abenteuern geliefert.« »Es übersteigt allen Glauben,« fuhr Murmelbach fort: »Fünf Agas, zwanzig Rittmeister, beinahe eine vollständige Janitscharenkompanie, zwölf Brahminen! Man sagt, es habe auch mich genannt, aber das ist Verleumdung.«

»Das Gute an der Sache ist,« nahm Greifgreif das Wort, »daß der Ehemann erschreckt davonlief und sich beide Ohren zuhielt.«

»Das ist ja abscheulich,« sagte Mirzoza. »Ja, gnädige Frau,« unterbrach sie Breitschnabel, »schrecklich! schändlich! abscheulich!« »Alles das und noch mehr,« sprach die Favorite weiter, »einer Frau auf bloßes Hörensagen die Ehre abzusprechen!«

»Es ist buchstäblich wahr, meine Gnädige, Murmelbach hat nichts übertrieben,« sagte Sammtpfötchen. »Es ist Tatsache,« sagte Greifgreif. »Es ist bereits ein Epigramm darüber im Umlauf,« setzte Maikäfer hinzu, »und Epigramme macht man nicht ohne Grund. Warum sollten die Kleinode nicht von Murmelbach reden dürfen? Hat Cynarens Kleinod doch auch meiner erwähnt und mich unter Leute gebracht, deren Gesellschaft mir gar nicht ansteht! Wie kann man der gleichen vermeiden?« »Man tröstet sich sehr schnell darüber,« sprach Sammtpfötchen. »Sie haben recht,« antwortete Maikäfer und fing an zu singen:

»Das Glück hat mir so wohlgetan,
daß ich es selbst kaum glauben kann!«


»Graf,« sprach Mangogul und wandte sich zu Maikäfer, »Sie haben also Cynaren genau gekannt?«

»Gnädigster Herr,« antwortete Sammtpfötchen, »wer wüßte es nicht? Er ist länger als einen Monat mit ihr herumgezogen, man sang schon Liedchen über sie. Die Liebschaft würde noch andauern, aber er bemerkte endlich, daß sie nicht hübsch sei und einen großen Mund habe.« »Stimmt,« antwortete Maikäfer, »aber dafür besaß sie einen andern Vorzug, der äußerst selten ist.«

»Ist das Abenteuer schon lange her?« fragte die spröde Orfise. »Gnädige Frau,« sagte Maikäfer, »der eigentlichen Zeit kann ich mich nicht genau mehr erinnern, ich muß erst die chronologischen Tabellen meiner Liebschaften nachsehn. Dann läßt sich Zeit und Stunde bestimmen; aber es ist ein dicker Foliant, mit dem sich meine Leute im Vorzimmer die Zeit vertreiben.«

»Warten Sie,« sprach Trübewasser »ich kann Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen. Gerade ein Jahr später überwarf sich Greifgreif mit der Frau Seneschall. Sie besitzt ein Engelsgedächtnis, sie wird uns gewiß sagen ...« »Daß Ihre Angabe eine Unwahrheit ist,« sprach die Seneschallin würdig. »Die ganze Welt weiß, daß solche Windbeutel nie nach meinem Geschmack waren.« »Dennoch,« versetzte Trübewasser, »werden Ihre Exzellenz uns nicht einreden, daß Murmelbach sehr artig war, als man ihn über eine verborgene Treppe in Ihr Gemach führte, sooft Seine Hoheit den Herrn Groß-Seneschall in den Staatsrat berief.« »Ich finde es höchst abgeschmackt,« setzte Sammtpfötchen hinzu, »sich ohne Grund und Ursache verstohlenerweise bei einer Dame einzuschleichen: denn man hielt Murmelbachs Besuche nur für ... Besuche, und Ihre Exzellenz genossen damals schon den Tugendruf, den Sie in der Folge so gut behauptet haben.«

»Das ist ja aber schon ewig lange her,« sagte Flachkopf. »Um die nämliche Zeit ward Zuleica dem Herrn Seliktar ungetreu, der ihr untertänigster Diener war, und machte Greifgreif glücklich, dem sie sechs Monate später den Laufpaß gab. Jetzt ist Breitschnabel an der Reihe. Ich neide meinem Freunde sein Glück nicht. Ich sehe, bewundere, und mache keine Ansprüche.«

»Und doch ist Zuleica sehr liebenswürdig,« sagte die Favorite. »Sie hat Witz, Geschmack und einen reizenden Ausdruck in ihrem Gesicht, der mir lieber ist als Schönheit.« »Das gebe ich zu,« antwortete Flachkopf, »aber sie ist mager, hat keinen Busen und zum Erbarmen knöcherne Lenden.« »So genau sind Sie mit ihr bekannt?« fragte die Favorite. »Ach, gnädige Frau,« versetzte Maikäfer, »so etwas läßt sich erraten. Ich habe bei Zuleica nur wenig verkehrt und kenne sie nicht besser als Flachkopf.« »Das will ich glauben,« sagte die Favorite.

»Aber,« sprach der Seliktar, »darf man Herrn von Greifgreif fragen, ob er Zirfilen lange für sich allein behalten wird? Das ist eine niedliche Frau. Sie hat einen sehr schönen Leib.«

»Wer zweifelt daran?« setzte Murmelbach hinzu.

»Der Seliktar hat's gut,« fuhr Flachkopf fort. »Und Flachkopf,« unterbrach ihn der Seliktar, »hat am ganzen Hofe das meiste Glück. Er hat, soviel ich weiß, zwei Wessirs-Frauen, die beiden schönsten Opernsängerinnen, und ein allerliebstes Bürgermädchen, das er in einem Häuschen untergebracht hat.« – »Und ich gäbe,« erwiderte Flachkopf, »die Wessirs-Frauen, beide Sängerinnen und das Bürgermädchen mit Freuden um einen einzigen Blick einer Dame, deren Gunst der Seliktar genießt, und die sich nicht einmal beikommen läßt, daß die ganze Welt darum weiß. Wahrhaftig, gnädige Frau,« sagt' er und wandte sich gegen Leokris, »Sie haben Farben zum Entzücken.«

»Maikäfer,« sagte Murmelbach, »hat eine ewige Zeit zwischen Melissen und Fatimen geschwankt. Das sind zwei reizende Frauen. Heute gehört er der blonden Melissa und morgen der braunen Fatima.« »Das ist eine sonderbare Verlegenheit,« fuhr Flachkopf fort, »warum nahm er sie nicht alle beide?« »Das tat er endlich,« sagte Trübewasser.

Unsre Stutzer waren, wie man sieht, auf zu gutem Wege, um stehn zu bleiben, als sich Zobeide, Cynare, Zuleica, Melissa, Fatime und Zirfile anmelden ließen. Das war ihnen für den Augenblick ungelegen und brachte sie aus der Fassung. Doch erholten sie sich bald und kamen auf andre Damen zu reden, die sie mit ihren Lästerungen nur verschont hatten, weil es ihnen an Zeit gebrach, sie zu zerpflücken.

Mirzoza, ihrer Reden ungeduldig, sagte: »Meine Herren, man muß Ihnen Verdienste und besonders Rechtschaffenheit zugestehn. Man darf also nicht zweifeln, daß Sie ganz so glücklich in der Liebe gewesen sind, als Sie sich rühmen. Doch muß ich Ihnen bekennen, ich möchte die Kleinode dieser Damen gern darüber vernehmen und würde Brahma von ganzem Herzen danken, wenn es ihm gefiele, durch ihren Mund der Wahrheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

»Das heißt,« sagte Maikäfer, »Ihro Gnaden wünschen eine und dieselbe Sache zweimal zu hören. Wir können sie ja nochmals erzählen, wenn Sie befehlen.«
Unterdessen drehte Mangogul seinen Ring nach der Rangordnung des Alters. Er fing bei der Seneschallin an. Ihr Kleinod hustete dreimal und sprach dann mit gebrochener zitternder Stimme: »Dem Groß-Seneschall verdank' ich die Erstlinge meiner Freuden. Doch gehört' ich ihm kaum seit sechs Monaten, als ein junger Brahmine meiner Gebieterin begreiflich machte, sie begehe keine Untreue gegen ihren Gemahl, wenn sie an einen Mann Gottes denke. Seine Moral gefiel mir. In der Folge glaubt' ich mit gutem Gewissen einen Senator zulassen zu können, hernach einen Staatsrat, einen Hohenpriester, ein paar Geheimschreiber, einen Geiger ...« »Und Murmelbach?« ergänzte Flachkopf. »Murmelbach kenn' ich nicht,« antwortete das Kleinod. »Vielleicht ist es der junge Geck, den meine Gebieterin aus dem Hause werfen ließ wegen einiger Frechheiten, deren ich mich nicht mehr genau erinnere.«

Cynarens Kleinod nahm das Wort: »Nach Trübewasser, Greifgreif, Flachkopf fragen Sie mich? Ich habe wohl viel Bekanntschaften gemacht, aber diese Namen hör' ich zum erstenmal. Vielleicht werden der Emir Amalek, der Finanzrat Tenelor oder der Wessir Abdiram mir Nachricht von ihnen geben können. Das sind meine Freunde. Die kennen die ganze Welt!«

»Cynarens Kleinod ist sehr verschwiegen,« sagte Maikäfer. »Es schweigt von Zarafis, Ahiram, dem alten Trebister und dem jungen Mahmud, den man doch nicht so leicht vergißt. Es klagt nicht den kleinsten Brahminen an, ohnerachtet es sich seit zehn oder zwölf Jahren in den Klöstern umhertreibt.«

»Ich habe doch gewiß schon manchen Besuch in meinem Leben empfangen,« sagte Melissens Kleinod, »aber Greifgreif und Breitschnabel, und noch weniger Maikäfer sind jemals zu mir gekommen.«

»Herzens-Kleinodchen,« antwortete Greifgreif, »du irrst. Breitschnabel und mich magst du verleugnen, soviel dir beliebt, aber mit Maikäfer stehst du ein bißchen besser, als du zugeben willst. Er hat mir etwas davon anvertraut, ist der wahrhaftigste Junge in Congo, gilt mehr als einer, den du genannt hast, und kann einem Kleinod nur Ehre machen.«

»Ja, die Ehre eines Betrügers gehört ihm und seinem Freunde Flachkopf,« sprach Fatimens Kleinod schluchzend. »Was hab' ich den abscheulichen Menschen getan, daß sie mir Übles nachreden? Der Sohn des Kaisers von Abessinien kam an Erguebzeds Hof. Ich gefiel ihm. Er bewarb sich um mich, aber es wäre ihm mißlungen, und ich wäre meinem Gemahl treu geblieben, der mir teuer war, hätten der verräterische Sammtpfötchen und sein niederträchtiger Mitschuldiger Flachkopf meine Zofen nicht bestochen und den jungen Prinzen mir im Bade zugeführt.«

Zirfilens und Zuleicas Kleinod hatten sich gegen den nämlichen Vorwurf zu verteidigen und sprachen beide zu gleicher Zeit, aber so hastig, daß es außerordentlich schwer war, jedem das Seine zu geben. »Gunstbezeigungen,« rief das eine. – »An Sammtpfötchen?« das andre ... »Ja! wär' es Zinzim ... Zerbelon ... Benengel ... Agarias ... der welsche Sklave Franz Rikeli ... der junge Ethiope ... Thezaka ... aber der schmacklose Sammtpfötchen ... der unverschämte Flachkopf! ... ich schwöre beim Brahma ... ich rufe die große Pagode und den Genius Cucufa zu Zeugen ... ich kenne diese Menschen nicht – ich habe nie mit ihnen zu tun gehabt!«

Zirfile und Zuleica sprächen noch, hätte Mangogul seinen Ring nicht zurückgedreht. Aber da diese Zauberkraft nicht mehr auf sie wirkte, verstummten ihre Kleinode plötzlich, und eine tiefe Stille folgte dem Geräusch. Dann erhob sich der Sultan und warf den unbesonnenen Buben zornige Blicke zu: »Ihr seid sehr dreist,« sprach er, »Damen zu verleumden, die Euch nie der Ehre würdigten, ihnen nahekommen zu dürfen, und kaum Eure Namen kennen. Wer macht Euch so frech, in meiner Gegenwart zu lügen? Zittert, Nichtswürdige!« Mit diesen Worten legte er Hand an sein Schwert, aber die erschrocknen Frauenzimmer schrien laut auf, und er hielt ein. »Ich wollt' Euch,« fuhr Mangogul fort, »dem Tode übergeben, den Ihr verdient, aber die Damen habt Ihr beleidigt, sie mögen Euer Schicksal entscheiden. Kriechendes Gewürm! von ihnen hängt es ab, Euch zu zertreten oder Euch das Leben zu schenken. Reden Sie, meine Damen, was befehlen Sie?«

»Sie mögen leben,« sprach Mirzoza, »und schweigen, wenn sie können.«

»So lebt denn,« sagte der Sultan, »diese Damen erlauben's. Vergeßt Ihr aber jemals die Bedingung, unter der Ihr lebt, so schwör' ich bei der Seele meines Vaters ...«

Mangogul vollendete seinen Schwur nicht. Einer seiner Kammerherren unterbrach ihn mit der Nachricht, daß die Schauspieler bereit wären. Der Fürst hatte es sich zum Gesetz gemacht, die Zuschauer niemals warten zu lassen. »Man kann anfangen,« sagt' er und gab seine Hand der Favorite, die er bis an ihre Loge begleitete.




„ritterlichen Taten gegen die Weiber“ hübsch. Je größer das Maul, desto kleiner die Heldentaten. Ab wann wurde die Tratschsucht weiblich konnotiert?

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