Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 15
g. | Dienstag, 17. September 2013, 08:10 | Themenbereich: 'Aufklärung'
Die Brahminen
Da die Gelehrten sich genugsam über die Kleinode ausgesprochen hatten, bemächtigten sich ihrer die Brahminen. Die Religion zog ihre Plauderei vor ihren Richterstuhl, und ihre Diener behaupteten, Brahmas Finger offenbare sich an diesem Werk.
Zu dem Ende ward eine allgemeine Kirchenversammlung ausgeschrieben. Diese beschloß, die besten Federn mit dem förmlichen Beweis zu beauftragen, daß dieses Ereignis übernatürlich sei. Bis aber die Arbeit derselben im Druck erscheinen könne, wollte man diese These in Disputationen, im Privatgespräch, im Beichtstuhl und in öffentlichen Predigten behaupten.
Daß dies Ereignis übernatürlich sei, darüber waren alle einstimmig. Weil man aber in Kongo zwei Grundursachen annahm und sich gewissermaßen zu einer Art der Lehre der Manichäer bekannte, so waren die Stimmen darüber geteilt, welcher von beiden Grundursachen man das Geschwätz der Kleinode zuschreiben müsse.
Die, welche niemals aus ihrer Klause herausgekommen waren und nichts durchblättert hatten als ihre Bücher, schrieben dies Wunder dem Brahma zu.
Nur Er, sagten sie, vermag den Lauf der Natur zu unterbrechen. Die Zeit wird lehren, was Er dabei für weise Absichten hat.
Die Gewissenräte der Damen aber, so man häufiger in den Alkoven traf und öfter in den Schlafgemächern der Frauenzimmer, als in ihren Betzimmern überraschen konnte, fürchteten, irgendein redseliges Kleinod möchte ihre Heuchelei entlarven. Darum schoben sie diese Plaudereien auf Rechnung Cadabras, einer bösartigen Gottheit, der Brahma und seine Diener von jeher befeindete.
Gegen dieses letztere System ließen sich schreckliche Einwürfe machen, auch beförderte es nicht so geradezu die Sittenverbesserung. Seine Verteidiger selbst waren dagegen nicht blind. Aber es kam darauf an, sich selbst zu decken, und sobald das der Fall ist, gibt es keinen Diener der Religion, der nicht hundertmal die Pagoden und ihre Altäre opferte. Mangogul und Mirzoza gingen regelmäßig zum Gottesdienste Brahmas. Die Zeitung unterließ niemals, dem ganzen Reich Nachricht davon zu geben. An einem hohen Festtage befanden sie sich in der großen Moschee. Der Brahmine, an dem die Reihe war, das Wort des Herrn zu verkündigen, bestieg die Kanzel, erbaute den Sultan und die Favorite mit Phrasen, Komplimenten und Langeweile und verbreitete sich beredsam des längeren über die Art, sich in Gesellschaften auf gottgefällige Weise niederzusetzen. Er belegte seine Meinung mit Sprüchen ohne Zahl, als er, auf einmal von heiligem Eifer ergriffen, folgenden Wortschwall losließ, der um so mehr Eindruck hervorrief, als er gänzlich unerwartet kam.
»Was vernehm' ich in jeder Gesellschaft? Ein dunkles Gemurmel, ein unerhörter Laut rührt an mein Ohr. Die Ordnung der Natur ist verkehrt. Bisher hatte Brahmas Gnade der Zunge die Gabe zu reden beigelegt, jetzt hat seine Rache sie andern Werkzeugen mitgeteilt. Und welchen Werkzeugen? Ihr kennt sie, meine andächtigen Zuhörer. Bedurfte es denn noch eines Wunders, um dich aus deiner Dumpfheit zu erwecken, du toll und töricht Volk? Hatten deine Sünden nicht schon Zeugen genug, daß selbst ihre hauptsächlichsten Werkzeuge ihre Stimme noch erheben mußten? Zweifelsohne war das Maß ihrer Sünde voll, da der Zorn des Himmels neue Strafen erdachte. Vergeblich hüllst du dich in Finsternis, vergeblich wählst du stumme Gehilfen deines Frevels. Vernimmst du sie jetzt? sie sagen allenthalben gegen dich aus und offenbaren deine Schande der Welt. O Brahma, der du in Weisheit regierest, o Brahma, dein Urteil ist gerecht! Dein Gesetz verdammt den Diebstahl, den Meineid, die Lüge und den Ehebruch; es untersagt die Bosheit der Verleumdung, die Schleichwege des Ehrgeizes, die Wut des Hasses und die Hinterlist des Betruges. Deine getreuen Diener sind nicht müde geworden, diese Wahrheiten deinen Kindern zu verkündigen und sie mit den Strafen zu bedrohen, die dein gerechter Zorn dem Übertreter vorbehält. Aber umsonst! Die Törichten ergaben sich dem Taumel ihrer Leidenschaft, sie folgten dem Strom, sie verachteten unsern Rat, sie verlachten unsere Warnungen, sie achteten nicht unseres Banns. Ihre Laster wuchsen, wurden stark, wurden viel. Die Stimme ihrer Ruchlosigkeit stieg bis zu dir empor. Wir konnten der furchtbaren Zuchtrute nicht vorbeugen, die du über sie ausstreckst. Lange flehten wir deine Barmherzigkeit an, jetzt laßt uns preisen deine Gerechtigkeit. Deine Schläge haben sie getroffen; werden sie nicht zu dir zurückkehren? Deine Hand liegt schwer auf ihrem Haupt; werden sie sie nicht erkennen? Aber ach! ihr Herz ist verstockt, aber wehe! ihre Augen sind verblendet. Denn sie wagen es, diese Wirkung deiner Macht einem blinden Naturspiel zuzuschreiben. Die Toren sprechen in ihrem Herzen: es ist kein Brahma! Alle Eigenschaften der Materie sind uns noch nicht bekannt, und dieser neue Beweis ihres Daseins beweist nichts, als die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit derer, die ihn uns entgegenstellen. Auf diesem Grund haben sie Systeme gebaut, Hypothesen erdacht, Experimente aufgestellt. Aber Brahma sitzt auf seinem ewigen Stuhl und blickt herab auf ihr eitles Beginnen, Brahma lacht ihrer, und der Herr spottet ihrer. Ihre frevelhafte Weisheit ist verwirrt, und die Kleinode zerbrachen wie Glas den ohnmächtigen Zaum, den man ihrer Geschwätzigkeit anlegen wollte. Bekennen soll es endlich, das hochmütige Gewürm, die Schwäche seiner Vernunft und die Vergeblichkeit seiner Anstrengungen. Aufhören soll es endlich, Brahmas Dasein zu leugnen oder seiner Macht Schranken setzen zu wollen. Es ist ein Brahma. Er ist allmächtig, und er weist sich uns nicht minder deutlich in seinen schrecklichen Strafen, als in seiner unaussprechlichen Gnade.
Aber wer hat über unser unglückliches Land diese Strafen heraufbeschworen? Sind es nicht deine Ungerechtigkeiten, du begehrlicher und treuloser Mann? Deine Buhlereien und Liebesrasereien, o Weib, du schamloses Weltkind? Deine Ausschweifungen und dein schändlicher Frevel, du niederträchtiger Wollüstling? Dein Geiz gegen unsere Klöster, du Habgieriger? Deine Pflichtvergessenheit, du feiler Richter? Dein Wucher, du unersättlicher Kaufmann? Deine Weichlichkeit und dein Unglauben, du gottvergessener weibischer Höfling? Und ihr, der ihr zuerst unter seiner Geißel blutet, ihr Frauen und Mädchen, versunken im Schlamm der Sünde, was kann es euch fernerhin helfen, wenn wir gar unsere Amtspflicht vergessend Stillschweigen bewahrten über eure Verirrungen? Tragt ihr nicht eine Stimme in euch selbst, der ihr noch weniger entrinnen könnt, als der unsrigen? Sie verfolgt euch überall. Überall wirft sie euch eure unreinen Begierden vor, eure sträflichen Neigungen, eure lasterhaften Beziehungen, eure Sorge zu gefallen, eure Künste anzulocken, eure Schlauigkeit festzuhalten, die Unbändigkeit eurer Wollust und die Wut eurer Eifersucht. Was säumt ihr denn, Cadabras Fesseln abzuwerfen und zu Brahmas sanften Geboten zurückzukehren? Aber bleiben wir bei unserem Gegenstande. Die Weltkinder setzen sich, sagte ich euch, auf eine Gott mißfällige Art nieder aus neun Ursachen. Erstlich usw.«
Diese Predigt machte Eindrücke von ganz verschiedener Art. Mangogul und die Sultanin, die allein um das Geheimnis des Ringes wußten, fanden: der Brahmine habe das Geschwätz der Kleinode eben so glücklich mit Hilfe der Religion erklärt, als Guallonorone durch das Licht der Vernunft. Die Damen und Stutzer des Hofes behaupteten, die Predigt sei aufrührisch und der Prediger ein Schwärmer. Der übrige Teil seiner Zuhörer betrachtete ihn als einen Propheten, weinte, betete, geißelte sich sogar und veränderte seine Lebensart nicht.
Selbst in den Kaffeehäusern sprach man davon. Ein schöner Geist entschied, der Brahmine habe die Frage nur obenhin berührt, seine Rede sei ein frostiges, geschmackloses Wortgepränge. Aber nach der Meinung der Betschwestern und Erleuchteten war dieses ein Stück so gründlicher Beredsamkeit, als nur irgendeins seit hundert Jahren in den Tempeln gehört worden sei. Mir scheint, der schöne Geist und die Betschwestern hatten recht.
Nach den Wissenschaftlern