Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 9
g. | Montag, 2. September 2013, 07:12 | Themenbereich: 'Aufklärung'
Akademie der Wissenschaften
„Mangogul hatte sich kaum von den Klosterjungfern entfernt, als das Gerede durch ganz Banza ging, die Nonnen im Stift Coccix-Bramu redeten vermittelst ihrer Kleinode. Husseims gewaltsame Verfügung gab diesem Gerücht Glauben, und die Gelehrten wurden aufmerksam darauf. Die Erscheinung bestätigte sich, und die Freigeister fingen an, durch die Eigenschaften der Materie eine Tatsache erklären zu wollen, von der sie anfangs behauptet hatten, sie sei unmöglich. Das Geschwätz der Kleinode gab Veranlassung zu einer Menge vortrefflicher Aufsätze, und dieser wichtige Gegenstand bereicherte die Schriften der Akademie mit mehreren Abhandlungen, die man als die höchsten Leistungen des menschlichen Verstandes betrachten kann. Die Akademie der Wissenschaften zu Banza zu bilden und zu verewigen, hatte man berufen und berief man noch zu Mitgliedern die vorzüglichsten Gelehrten aus Congo, Monoemugi, Beleguanza und den umliegenden Reichen. Sie umfaßte unter verschiedenen Benennungen die Männer, die sich im Fach der Naturgeschichte, der Naturlehre, der Mathemathik bereits hervorgetan oder Hoffnung gegeben hatten, daß sie sich hervortun würden. Dieser unermüdliche Bienenschwarm arbeitete rastlos, Wahrheiten einzusammeln, und beschenkte das Publikum, jedes Jahr, mit einem Bande Entdeckungen, der die Frucht ihres Fleißes war.
Sie war damals in zwei Parteien gespalten, die eine stritt für die Wirbel, die andere für die anziehende Kraft. Olibri, ein geschickter Meßkünstler und großer Naturkundiger, stiftete die Sekte der Wirbler. Circino, ein geschickter Naturkundiger und großer Meßkünstler, lehrte zuerst die anziehende Kraft. Olibri und Circino machten sich beide zur Aufgabe, die Natur zu erklären. Olibris Grundsätze haben auf den ersten Anblick etwas verführerisch Einfaches. Sie erklären im allgemeinen die hauptsächlichsten Erscheinungen, widersprechen ihnen aber im besonderen. Circino seinerseits scheint hinwiederum von einer absurden Voraussetzung auszugehn, indessen ist nur der Anfang bei ihm schwer. Die Untersuchung gerade der kleinsten Einzelheiten, die Olibris System über den Haufen wirft, befestigt das seinige. Er führt einen Pfad, der zwar beim ersten Schritt dunkel ist, der sich aber immer mehr erhellt, je weiter man vordringt. Olibris Bahn hingegen ist am Eingang sehr erleuchtet, verfinstert sich jedoch immer mehr. Die Philosophie des letzteren verlangt weniger Studium, als Fassungskraft. Wer ein Schüler des ersteren werden will, muß viel Studium aufwenden und viel Fassungskraft besitzen. Olibris Schule betritt man ohne Vorbereitung, jeder mann hat den Schlüssel dazu. Circinos Schule steht nur den ersten Meßkünstlern offen. Olibris Wirbel sind jedem Verstande faßbar. Circinos Schwerkraft ist nur den Algebraisten erster Ordnung verständlich. Also kommen immer hundert Anhänger der Wirbeltheorie auf einen Anhänger der Attraktionslehre, und ein Attraktionär wiegt also immer hundert Wirbler auf. So stand es auch um die Akademie der Wissenschaften von Banza, als sie die Materie der redseligen Kleinode untersuchte.
Man wußte nicht, wie man der Erscheinung habhaft werden sollte. Sie widersprach der Lehre von der anziehenden Kraft. Der Äther drang dahin nicht. Vergebens forderte der Präsident die Herren Mitglieder auf, ihre Meinungen zu eröffnen; ein tiefes Schweigen herrschte in der Versammlung. Endlich erhob sich der Wirbler Persiflo, der schon eine Menge Abhandlungen über Gegenstände geschrieben hatte, von denen er nichts verstand: »Die Sache, meine Herren, könnte gar wohl mit dem Weltsystem zusammenhängen. Ich vermute sogar, daß sie im allgemeinen auf dieselbe Ursache zurückzuführen sei, welche Ebbe und Flut bestimmen. Bemerken Sie, ich bitte, daß wir heute Vollmond haben und Tag- und Nachtgleiche. Doch bevor wir auf meiner Hypothese weiter bauen, heißt es abwarten, was die Kleinode in den nächsten vier Wochen sagen werden.«
Man zuckte die Achseln, man mochte ihm nicht einwenden, er rede ja selbst wie ein Kleinod; aber er ist ein durchdringender Kopf, er merkte gleich, daß man es dachte.
Der Anziehungsmann Reciproco nahm nun das Wort: »Meine Herren, ich habe eine Berechnungs-Tabelle über die mutmaßliche Höhe der Flut, in allen Häfen des Königreichs, entworfen. Freilich widersprechen die bisherigen Beobachtungen meinen Berechnungen ein wenig: hoffentlich aber wird dieser kleine Übelstand wieder wettgemacht werden durch den Vorteil der Entdeckung, daß die Redseligkeit der Kleinode mit der Erscheinung der Ebbe und Flut zusammentrifft.«
Ein dritter stand auf, näherte sich der schwarzen Tafel, entwarf eine Figur mit Kreide und sagte: »Diese hier sei das Kleinod A.B. ...« Hier bringt uns die Unwissenheit der Übersetzer um einen Beweis, den der gelehrte Afrikaner sicherlich der Länge nach aufgezeichnet hatte. Es gibt eine Lücke von mehr als zwei Seiten, darauf folgt: »Reciprocos Gründe schienen unwiderleglich, und nach den Proben seiner Dialektik hielt man es für ausgemacht, es sei ihm ein leichtes, dereinst darzutun, die Weiber müßten heutzutage vermittelst ihrer Kleinode reden, weil sie von jeher vermittelst ihrer Ohren gehört hätten.«
Endlich sprach Professor Guallonorone aus der höflichen Zunft Her Zunft der Anatomiker: »Meine Herren, ich halte dafür, es wäre besser getan, sich mit einer Erscheinung gar nicht abzugeben, als ihre Ursachen in luftigen Hypothesen aufzusuchen. Was mich betrifft, so hätt' ich mein Maul gehalten, wenn ich Ihnen nichts als windige Vermutungen auftischen könnte; aber ich habe geprüft, studiert und nachgedacht. Ich habe Kleinode im Paroxysmus beobachtet und habe mit Hilfe der Kenntniß dieser einzelnen Teile und mittelst des Experiments die Gewißheit erlangt, daß das, was wir auf Griechisch Delphos nennen, alle Eigenschaften der Luftröhre besitzt; und daß es folglich Weiber geben muß, die ebensogut mit ihrem Kleinode reden können, wie mit ihrem Munde. Ja, meine Herren, dieser Delphos ist sowohl ein Saiten-Instrument als ein Blase-Instrument, aber weit mehr ein Saiten-Instrument als Blase-Instrument. Wenn die äußere Luft darauf stößt, so verrichtet sie das Geschäft eines Bogens auf den sehnigen Fasern an beiden Klappen, die ich lautfähige Saiten oder Bänder nennen möchte. Durch die sanfte Erschütterung der Luft sprechen die lautfähigen Saiten an, und wie sie schneller oder langsamer erzittern, so sind auch die Töne verschieden, die sie von sich geben. Ein so geschaffenes Kleinod wird entweder lallen, oder reden, oder vielleicht gar singen.
Da es aber nur zwei lautfähige Saiten oder Bänder gibt, und beide ohne allen Zweifel von gleicher Länge sind, so entsteht die Frage: wie können sie wohl hinreichend sein, die Menge tiefer oder hoher, starker oder schwacher Töne hervorzubringen, deren die menschliche Stimme fähig ist? Ich fahre fort, dieses Organ aus der Vergleichung mit einem musikalischen Instrument zu erklären, und antworte: daß die Ausdehnung und Zusammenziehung beider Saiten gar wohl imstande sei, diese Wirkung zu veranlassen.
Es ist unnötig, meine Herren, in einer Versammlung von Gelehrten Ihres Ranges die Fähigkeit dieser Ausdehnung und Zusammenziehung zu beweisen, aber daß der Delphos vermittelst solcher Ausdehnung und Zusammenziehung die tiefen und hohen Töne, kurz alle Veränderungen der Stimme und die ganze Singleiter durchzugehen imstande sei, das ist eine Tatsache, die ich mir schmeichle, Ihnen einwandfrei darlegen zu können. Ich lade Sie ein, diesem Versuch in Person beizuwohnen. Ich werde die Ehre haben, meine Herren, Delphos und Kleinode in Ihrer Gegenwart, sprechen, reden und singen zu lassen.«
So sprach Guallonorone, und er hoffte nichts Geringeres, als die Kleinode eben so berühmt zu machen, als es die Luftröhren durch die Versuche eines seiner Kollegen geworden waren, dessen Entdeckungen der Neid vergebens bekämpfen wollte.“
Die Wissenschaft, die Wissenschaft schafft Wissen. Es widerspricht sich halt ein wenig.