Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 5
Die Versuchung

„Kaum war Mangogul im Besitz des geheimnisvollen Ringes, als ihn die Versuchung anwandelte, ihn zuerst bei der Favorite zu erproben. Ich vergaß zu sagen, daß der Ring nicht nur die Eigenschaft hatte, die Kleinode der Weiber reden zu lassen, gegen welche man seinen Stein drehte, sondern daß er auch denjenigen unsichtbar machte, der ihn am kleinen Finger trug. Daher konnte sich Mangogul, vermittels seiner, im Augenblick an hundert Orte versetzten, wo man ihn nicht erwartete; und viele Dinge mit Augen sehn, wobei man gewöhnlich keine Zeugen zuläßt. Er durfte nur den Ring anstecken und sagen, ich will dort sein, sogleich war er da. Er stand also vor Mirzoza.

Mirzoza, die den Sultan nicht mehr erwartete, hatte sich zu Bette bringen lassen. Mangogul näherte sich leise ihrem Lager, und sah bei dem Schimmer eines Nachtlichts, daß sie eingeschlafen war. »Gut, daß sie schläft,« sprach er. »Gleich will ich den Ring an den andern Finger stecken, wieder sichtbar werden, den Stein der schönen Schläferin zudrehn und ihr Kleinod gelinde erwecken ... Doch was hindert mich? Ich zittre. Sollte Mirzoza vielleicht – Nein, das ist unmöglich. Mirzoza ist mir treu. Weg von mir, beleidigende Zweifel! Ich will euch nicht hören, ich darf nicht!« Schon ergriff er den Ring, aber schnell zog er auch seine Hand zurück, als hätt' er auf glühende Kohlen gefaßt: »Was tu' ich, Unglücklicher? Ich trotze Cucufas Warnung. Eine alberne Neugier zu befriedigen, wag' ich meine Geliebte und mein Leben. Wenn ihr Kleinod sich beikommen ließe, albernes Zeug zu sprechen, so säh' ich sie nicht wieder, und stürbe vor Schmerz. Und wer weiß, was ein Kleinod für heimliche Nücken haben kann?« Mangogul war zu sehr erschüttert, um auf seiner Hut zu sein, er sprach die letzten Worte ein wenig laut, und die Favorite erwachte. Sie war minder erstaunt als froh über seine Gegenwart: »Sie sind da, gnädigster Herr?« sagte sie. »Warum hat man Sie nicht gemeldet? Es ziemt Ihnen nicht zu warten, bis ich erwache.«

Der Sultan antwortete der Favorite, indem er ihr den Erfolg seiner Unterredung mit Cucufa erzählte. Er wies ihr den erhaltenen Ring und verheimlichte keine seiner Eigenschaften. »Sie sind im Besitz eines teuflischen Geheimnisses!« rief Mirzoza. »Denken Sie es wirklich zu gebrauchen, gnädigster Herr?« – »Sapperment!« sagte der Sultan, »ob ich's gebrauchen werde? Mit Ihnen fang' ich an, wenn Sie mir lange dreinreden!« Bei diesen fürchterlichen Worten erblaßte die Favorite, zitterte, faßte sich, und beschwor den Sultan, bei Brama und allen Pagoden von Hindostan und Congo, nur nicht an ihr ein Geheimnis zu erproben, wodurch er so wenig Zutrauen in ihre Treue beweisen würde: »War ich immer vorwurfsfrei,« fuhr sie fort, »so wird mein Kleinod kein Wort reden, und Sie haben mir dann eine Beleidigung zugefügt, die ich Ihnen nie vergeben würde. Fällt es ihm aber ein zu schwatzen, so verlier' ich Ihre Achtung und Ihr Herz. Und Sie selbst werden in Verzweiflung geraten. Bis jetzt scheint es, hat Ihnen Ihre Verbindung mit mir nicht leid getan. Warum wollen Sie es wagen, sie zu zerstören? Glauben Sie mir, gnädigster Herr, folgen Sie dem Rat des Genius. Er hat Erfahrung darin; auch ist es immer gut, eines Genius' Winke zu befolgen.« »Das sagt' ich mir eben selbst, als Sie erwachten,« antwortete Mangogul, »hätten Sie aber zwei Minuten länger geschlafen, so weiß ich nicht, was daraus geworden wäre.«

»Was daraus geworden wäre,« sprach Mirzoza, »nun, von meinem Kleinod hätten Sie nichts Neues erfahren, mich aber hätten Sie auf immer verloren.«

»Sehr möglich,« versetzte Mangogul. »Und da ich jetzt die Größe der Gefahr erkenne, der ich entgangen bin, so schwöre ich Ihnen bei der ewigen Pagode, Sie sollen von der Zahl derjenigen ausgenommen sein, gegen die ich meinen Ring kehren werde.«

Darauf schien Mirzoza beruhigt und fing im Voraus an, über die Kleinode zu scherzen, die der Sultan zum Sprechen bringen würde. »Cidaliens Kleinod,« sagte sie, »hat viel zu erzählen. Wenn es nicht bedachtsamer ist als seine Gebieterin, so läßt es sich schwerlich lange bitten. Hariens Kleinod ist nicht mehr von dieser Welt, Ihre Hoheit werden glauben, eine Matrone aus dem vorigen Jahrhundert zu hören. Glauca hat so etwas, dem man gerne nachfragen möchte. Sie ist hübsch und gefallsüchtig.« – »Und gerade deswegen,« erwiderte der Sultan, »wird ihr Kleinod nichts zu sagen haben.« – »So wenden sich Ihre Hoheit doch an Fatime,« versetzte die Sultanin, »sie ist verbuhlt und häßlich.« – »Ja wohl,« nahm der Sultan das Wort, »so häßlich, daß nur eine solche böse Zunge, wie die Ihrige, sie beschuldigen kann, sie sei verliebt. Fatime ist die Keuschheit selbst, das sag' ich Ihnen, ich weiß was ich sage.« »Ihre Hoheit haben zu befehlen,« erwiderte die Favorite, »aber Fatimens Katzenaugen sagen das Gegenteil.« – »So lügen ihre Augen«, antwortete der Sultan, etwas ärgerlich. »Ich mag nichts weiter von Fatimen wissen. Dem Himmel sei Dank, sie ist nicht das einzige Kleinod, das sich ausfragen läßt.« – »Darf man denn, ohne Ihre Hoheit zu beleidigen,« sprach Mirzoza, »sich erkundigen, welches Sie mit Ihrer Wahl beehren werden?« – »Das wird sich bald zeigen,« sagte Mangogul, »wenn sich der Hof bei der Mamimonbanda versammelt. (Das ist im Congo der Name der Großsultanin.) Da soll es uns so leicht nicht fehlen, und werden die Hofkleinode langweilig, so machen wir die Runde durch Banza. Vielleicht finden wir die der Bürgerinnen gescheiter als die der Herzoginnen.« »Gnädigster Herr,« antwortete Mirzoza, »ich kenne alle beide; ich kann Ihnen versichern, es ist kein Unterschied unter ihnen, als das jene etwas vorsichtiger sind.« »Das wollen wir bald erfahren,« erwiderte Mangogul. »Aber ich muß lachen, wenn ich mir vorstelle, wie verlegen und erstaunt alle diese Frauen sein werden bei dem ersten Wort, das ihr Kleinod ausspricht. Ha! Ha! ha! Vergessen Sie nicht, Freude meines Herzens, daß ich Sie bei der Groß-Sultanin erwarte, daß ich meinen Ring nicht eher gebrauche, bis Sie da sind.« »Nur, gnädigster Herr,« sagte Mirzoza, »vergessen Sie auch nicht, was Sie mir versprochen haben.« Mangogul lächelte über ihre Besorgnis, gab ihr aufs neue sein Ehrenwort, begleitete es mit einigen Liebkosungen, und verließ sie.“
In der Tat: ob man alles immer so genau wissen wollen sollte, ist eine schwierige Frage, unter anderem eine Frage von Vertrauen. Im Übrigen ist das klassisch bürgerlich und nicht ‚adlig‘ gedacht, wenn ich das mal als Mediävist einwerfen darf. Fremdgehen war für den mittelalterlichen Adel keiner Erörterung wert, interessant war in der Regel die Legitimität des Thronfolgers, alles andere eben nicht. Wer sich für die Entstehung ehelicher Treue im Bürgertum interessiert, dem sei Boccaccio: Dekamerone empfohlen, etwa im Motiv der untergeschobenen Dienerin beim Seitensprung.

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