Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Nachricht über Nachrichten von Nachrichten aus längst vergangener Zeit
Am 10. Oktober 1954 saß Arno Schmidt beim Schein einer 25-Watt-Glühbirne (mutmaßlich), im Gegensatz zur Unschlittkerze, die der ursprüngliche Verfasser zur Beleuchtung genutzt hatte, an seinem Schreibtisch in Gau-Bickelheim gerade von seinen Archivstudien in Ost-Berlin zurückgekehrt und las die „Nachricht nebst Verzeichnis von denen bey der am 26. July 1760 erfolgten Einnahme von Glatz in Österreichische Hände gefallenen Effecten und sämtl. Vermögen“, das August de la Motte Fouqué, der älteste und kränklichste Sohn des Generals Heinrich August de la Motte Fouqué, der wiederum der Großvater des Dichters Friedrich Heinrich Karl Freiherr de la Motte Fouqué war, mithin der Großonkel des Dichters, in jener Nacht gefertigt hatte.

August de la Motte Fouqué schrieb das Verzeichnis mit einem Gänsekiel, den er nach jedem Halbsatz in das neben dem Papier stehende Tintenfass tauchen musste, um seine Spitze zu benetzen. Von Zeit zu Zeit wurde der Gänsekiel stumpf und musste mit einem kleinen Messer nachgeschnitten werden.

Arno Schmidt schrieb entweder unmittelbar auf seiner Schreibmaschine oder benutzte zunächst einen Füllfederhalter, das Gelesene skizzierend und später dann korrigierend, um es noch später an der Schreibmaschine in die Reinschrift zu übertragen und an einigen Stellen vielleicht auch noch zu ergänzen.
Die Folioseiten des August de la Motte Fouqué werden wohl als Fotografien (Fotokopien gab es ja noch nicht in den 50ern) vor ihm gelegen haben? Oder ging Arno Schmidt mit Schreibblock, Füller oder Bleistift ins Archiv, um Seite für Seite abzuschreiben?

Leider teilt uns Arno Schmidt nicht mit, wie viele Folioseiten hinterlassen wurden.
Listen und Verzeichnisse haben ja ihre ganz eigene Faszination. Dass sich Arno Schmidt in das Verzeichnis vertieft hat, kann ich nachvollziehen, taucht einen die Vorstellungskraft doch unversehens in das luxuriöse Leben eines Generals des 18. Jahrhunderts. Sie können, wenn Sie möchten auf die Fußnoten klicken und sich in die fernen oder nahen Welten dahinter entführen lassen: [Klick!]
Hier nun in Auszügen die Aufstellung:

  • „Meubles“ [1]
    • „1 Canapee[2] von carmoisin=Stoff[3] mit Silber, nebst 6 Fauteuils, Taburett [4] und Stühlen“
    • andere Möbel sind aus „Petit-Point-Arbeit“ [5]
    • oder „Englisch=Rohr, mit Polstern von feuerfarbener Seide“ [6]


  • Gesamtwert der Möbel: 5.000 Thaler (1 Thaler sei, wie Arno Schmidt schreibt, 12 D=Mark, also 6 Euro wert)

  • die Bilder
    • „127 theils große, theils kleine Schildereyen mit vergoldeten, auch schwarzen Rähmen“ [7]

  • die Gardinen
    • „10 Stück grün=taffetne [8] Gardinen mit gehörigen Falbelas“ [9]
    • und „rothwollene mit gelbem Bande“
    • sowie „3 complette Ledertapeten“
    • und „1 Hautelisse=Tapete [10] vom König: 600 Thaler!“

  • die Wäsche
    • „10 Dutzend Züchen und Bettücher aus feiner Leinwand“ (Züchen=Stoffart?)
    • „28 Bettlaken, jedes zu 15 Ellen; die Elle à 12 Groschen = 210 Thaler“
    • „9 Stück bleumourant [11] Livree=Tuch“ [12]
    • „8 Ellen gelben Rasch“[13]
    • „Rest Tuch, etwa 8 Ellen à 6 Groschen“

  • das Silberzeug
    • „1 große Terrine [14], so ciselieret“[15]
    • „1 Thee=Maschine nebst Kohlen=Pfanne und Zange“[16]


  • sehr kostbar auch das „ächte Porcellaine“
    • „1 Dutzend feine Thee=Tassen, vergoldet, mit indianischen Figuren“
    • „6 Chocolate [17]=Köpfchen“ [18] also ‚cups’ wie Schmidt vermutet.

  • „Chrystall und Glass“
    • „18 Caraphinen, fein geschliffen und mit Gold“ [19]

    • „1 Carneolen Wein=Glas, 100 Thaler“[20]


    • und als sehr wertvolles Geschenk des König Friedrich:
    • „1 chrystallen Tonneau mit Deckel und preussischen Armaturen: 300 Thaler“ [21]
    • sowie „3 kupferne marmites“ das sind Schmortöpfe

  • Feldequipage und Reitzeug
    • „6 Chaises percées“[22]
    • „1 Ponceau sammtene Chabraque mit Gold bordiret: 300 Thaler“[23]

  • die Bibliothek
    • „1 Schrank mit Oevres militaires, sowie historischen, auch coquetten Büchern“ [24]
    • „33 theils große, theils kleinere Folianten von antiquen und kostbaren Kupfferstücken nach denen berühmtesten Meistern: 10.000 Thaler“ als Geschenk des Königs.

  • Dazu:
    Einige „Wispel und Scheffel Hafer“ sowie „40 Klaffter Brennholtz“ : der August de la Motte Fouqué war ein akkurater Mann, der jegliche Werte verzeichnete.

  • Im Garten
    • „über 200 Stück Orange=, Citronen= und Lorbeer=Bäume“
    • „desgleichen an 100 Nelcken= und Rosen=Stöcke; auch verschieden ander Blumen=Werck“ der Wert betrug 1.500 Thaler.

  • „Baar=Geld und Pretiosis“
    • „1 massiv goldene viereckigte Tabatiere[25] mit Brillianten: 1.000 Thaler“
    • und eine andere Tabatiere „en forme einer Füsilier=Mütze von Amethyst in Gold gefaßt“

  • die Kellerbestände
    • „41 Krüge Provencer=Öl[26] aus Glogau“
    • „20 Eymer Wein=Essig“
    • „3 Oxhoft Pontac“ „d.h. rund 700 Liter Rotwein aus Pau“ wie Arno Schmidt anmerkt.
    • „7 Ohm Rheinwein, 45er“ = 1000 Liter
    • „40 Bouteillen Canarien=Seckt“[27]
    • „110 Bouteillen Vin de Cap“[28]
    • mehrere „Cognac=Fässgen“
    • „107 Bout. Alten Franz=Wein“
    • mehrere Gebinde „Tokayer und Rebersdorffer“
  • Im Keller lagerten insgesamt für 30.000 Mark oder 15.000 Euro Gesöffe.
    (Schmidt BA,Werkgruppe III, Bd. 1, S. 150 - 152)

Insgesamt lagerten Wertgegenstände im Wert von 101.810 Thaler und 20 Groschen im Schloss, das sind ca. 1,25 Mio. Mark oder 625.000 Euro.

Anmerkungen:
  • [Zurück!] Zum Begriff Folio, faltet man einen Pergamentbogen ein erstes Mal, so erhält man das Folioformat. Diese Frage stellte sich bereits Lichtenberg.
  • [1] die Meubles, die Mobilien kann man, zumindest wenn man über entsprechende Transportmittel verfügt, mitnehmen, bei den Immobilien wird das schon schwieriger.
  • [2] Kanapee, das [frz. canapé, von griechisch kōnōpeĩon »Mückenschleier«, mlat. canopeum = Mückenschleier,»Himmelbett (mit einem Mückenschleier)« Sofa mit Rücken- und Seitenlehne.
    „Das Canapēh, des -es, plur. die -e, ein breiter zierlicher Stuhl mit einer Rücklehne, worauf mehrere Personen sitzen können, und welcher auch die Stelle eines Ruhebettes vertreten kann; ein Faulbett. Aus dem Franz. Canapé, welches aber in dieser Sprache selbst ein neues Wort seyn soll, dessen Abkunft noch unbekannt ist. Das mittlere Latein. Canapeum bedeutet einen Himmel über ein Bett, welche Bedeutung das Engl. Canopy noch jetzt hat. Ein Canapeh in der heutigen Bedeutung hieß in den spätern Zeiten Roms Bisellium. S. auch Sopha.“
    (Adelung)
  • [3]
    Carmosiren, Carmusiren, verb. reg. act. ein Kunstwort der Jubelierer, welches eigentlich einfassen, mit einem Rande versehen, bedeutet. Einen Edelstein carmusiren, einen Rand von kleinern Edelsteinen um denselben machen. Carmusir-Gut, sehr kleine Edelsteine, die nur zum Carmusiren taugen. Obgleich dieses Wort zunächst aus dem Französischen entlehnet ist, so hat es doch seinen Ursprung in Norden. Denn Karm bedeutet noch jetzt im Schwed. einen Rand, und karmisera ist in eben dieser Sprache unser carmusiren.
    (Adelung)
  • [4] Ein Taburett ist ein Schemel, der – wie man hört – am Hofe Ludwigs des XIV. nur den Herzoginnen zustand, während der Rest des Hofstaates stehen musste. Die wenigen Lehnstühle standen nur den Fürstinnen zu.
  • [5] Petit-Point das; frz., „kleiner Punkt“, feinste Nadelarbeit mit bis zu 25 Perlstichen (halber Kreuzstich) auf 1 cm feinstem Kanevas (Gitterleinen).
  • [6] Englisch=Rohr: Stuhlrohrgeflecht aus England, die im 17. Jahrhundert in Mode kamen.
  • [7] Bilderrahmen waren im 18. Jahrhundert oft wertvoller als die eigentlichen Bilder. Oft hatten sie vergoldete Rahmen, in Deutschland teilweise auch schwarze mit Goldstreifen, so nimmt es nicht Wunder, dass unser junger Freund den Rahmen und ihrem Wert mehr Aufmerksamkeit schenkt als den Bildnissen und ihrem künstlerischen Wert.
  • [8] Taft ist eine Webart. Die Kettfäden stehen eng zusammen, ein dicker Schussfaden wird eingearbeitet. Es entsteht so eine Ripsstruktur.
  • [9] im Französischen ("falbalas") für "Rüsche" oder "Auftakelei". Falbala kennen Sie wahrscheinlich alle.
  • [10]
    Haute-lisse ist eine Art von Gewebe oder Tapete, aus Seide und Wolle gewürkt, welche auch bisweilen mit Gold und Silber erhöht ist, und verschiedene Figuren von Menschen, Thieren, Landschaften etc. vorstellt.“
    (Brockhaus von 1809)
  • [11] "bleu mourant" = "sterbendes Blau" (= "mattblau"). „Mir is janz blümerant“ sagt bekanntlich der Berliner.
  • [12]
    „Die Livrēe, plur. die -n, die Kleidung eines Bedienten, so fern sie von einem Herren auf eine einförmige Art allen seinen Bedienten gegeben wird.“
    (Adelung)
  • [13]
    „Rasch, der: ein leichter, lockerer und geringer wollener Zeug: Tuch= oder Walkrasch, Kronrasch, Krämpelrasch. … mit Gold und Silber gewirkte Zeuge werden Gold- und Silberrasch genannt“ aus: Vollständiges Wörterbuch der deutschen Sprache. Von Doktor Theodor Heinsius, Wien 1830.
    (siehe auch Pierer 1857)
  • [14] Terrine (französisch: Terre, „irdene“) Suppenschüssel.
  • [15] „Unter Ziselieren versteht man in der Metallverarbeitung eine alte Form der Bearbeitung von Metallen, bei der das Metall nicht geschnitten, sondern über eine weiche Unterlage mit Hammer und Punzen getrieben oder gedrückt wird, so dass Linien und reliefplastische Formen entstehen, die ähnlich aussehen wie Abgüsse von negativen Hohlschnitten, jedoch mit weicheren Kanten.“ siehe auch: Graveur, Ziseleur, Gürtler und Gelbgiesser.
  • [16] Teemaschine: z.B.: Caymatik. Das ist eine (elektrisch beheizte) mehrteilige Porzellankanne, die nach dem Samowarprinzip arbeitet. Oder der Samowar, der Selbstkocher: wenn bei der Teemaschine noch ein oder mehrere Podstakannik dabei gewesen wären, hätte es der brave August sicher vermerkt. Vielleicht aber darf man sich die feinen, vergoldeten Teetassen aus ächtem Porcellaine mit indianischen (indisch? wahrscheinlich) Figuren so vorstellen.
  • [17] Schokolade, die Speise der Götter. Den Wirkstoff nennt man demzufolge Theobromin. Dass der Schokolade gelegentlich Rinderblut beigemischt werde ist ein Gerücht. Kein Gerücht ist hingegen, dass auf den Kanarischen Inseln süße Blutwurst gegessen wird. Die Begeisterung der Einheimischen für diese Speise kann ich allerdings nicht nachvollziehen. Über Schokolade kann man schöne Filme machen: Bittersüße Schokolade und noch schöner: Chocolat
  • [18] Schokoladentasse: Ob diese Tasse aus der KPM stammt, kann ich natürlich nicht sagen:
    „Der Modellmeister der Manufaktur, Friedrich Elias Meyer, schuf die noch heute mustergültigen Formen Reliefzierat, Neuzierat, Antikzierat (Rocaille) und Neuosier, welche als beispielhaft für das friderizianische Rokoko gelten.“
  • [19] Caraphinen: Karaffine , alte Bezeichnung für kleine * Karaffe, im 19. Jh. in Wien auch "Karaffindl" genannt. Die Wiener natürlich, machen im 19. Jahrhundert aus der kleinen Karaffe ein Karaffindl.
    Eigentlich aber kommt das Wort aus dem Arabischen:
    „Eine Karaffe (von arabisch ‏غرافة‎, DMG ġarrāfa, ,Wasserheberad mit Schaufeln‘) ist ein Tafelgefäß aus geschliffenem Glas oder Kristallglas, das meist eine flaschenähnliche Form hat“
    (Wikipedia)
  • [20] Carneolen: Ein ganzes Weinglas aus Karneol? Wohl eher nur mit Karneolen besetzt.
  • [21] Tonneau: wohl ein verschließbares Fass in der Größe von 900 Litern, über die preußische Armatur habe ich nicht herausfinden können.
  • [22] Chaises percées: eigentlich Kommoden, wohl Damensattel?
  • [23] Ponceau: leuchtend orange gefärbte Schabracke, also eine Satteldecke, von türkisch: çaprak.
  • [24] Welche Bücher „coquetten“ Inhalts damals wohl gelesen wurden? (Die philosophische Therese von Jean-Baptiste de Boyer Marquis d'Argens?)
  • [25] Tabatiere: Schnupftabakdose, so in dieser Art.
  • [26] Provencer=Öl: feinstes Olivenöl aus der Provence, vielleicht eine Kriegsbeute?
  • [27] Canarien=Seckt: Malvasier aus Madeira.
  • [28] Vin de Cap: wahrscheinlich bretonischer Malvasier.
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    jean stubenzweig, Montag, 17. Oktober 2011, 16:24
    Ach du meine Güte,
    was haben Sie sich denn da für eine Arbeit gemacht! Nicht nur der mitschwingenden Romantik Motte Fouqué, sondern auch Ihrer Akribie wegen werde ich daran in Ruhe, mit besonderer Sorgfalt rangehen.

    g., Dienstag, 18. Oktober 2011, 06:06
    Solche Listen vermitteln einen seltsamen, aber auch – zumindest was meine Person angeht - faszinierenden Eindruck der Lebenswirklichkeit, hier des Hochadels im 18. Jahrhundert. Ich suche ja seit einiger Zeit nach Vergleichbarem aus dem Bürgertum, über Handwerker (Tieck gibt uns ja nur eine Impression) und aus dem Alltag der ‚Sansculottes‘.