Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts
Vorab: der Roman ist schön geschrieben und beschönigt nichts. Ich kann ihn eigentlich nur uneingeschränkt empfehlen. Dass er dann nur sehr am Rande meine Frageinteressen berührt, dafür kann er natürlich nichts.

Was ich mir erhofft hatte, gerade vor dem Hintergrund des Titels, war eine Auseinandersetzung mit der DDR als gescheitertem Versuch der Vollendung des Projektes der Aufklärung. Darum geht es leider so gut wie gar nicht. Mein zweites Frageinteresse war eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Entwicklung der DDR in ideologischer Sicht, sprich in welchen Phasen war aus welchen Gründen die ‚stalinistische’ Politikform herrschend bzw. vorherrschend. Dies wird für meinen Geschmack nur unzureichend reflektiert und dargestellt.
Kurz zum Inhalt:
Erzählt wird die Familiengeschichte der Umnitzers. Eine Zusammenfassung der Handlung können Sie in einer der Rezensionen nachlesen. Tsp., ndr und wenn Sie Frau Radisch aushalten? Eine Leseprobe finden Sie hier und hier liest Eugen Ruge selbst.

Und nun einige verstreute Gedanken zu zwei Figuren:

Zu Wilhelm
„Wilhelm überlegte. Natürlich wusste er, dass er 1919 in die Partei eingetreten war. Er hatte es in Dutzenden Lebensläufen geschrieben. Er hatte es Hunderte Male erzählt: den Genossen, den Arbeitern vom Karl-Marx-Werk, den Jungen Pionieren, aber wenn er zurückdachte, wenn er wirklich versuchte, sich an den Tag zu erinnern, dann erinnerte er sich eigentlich nur noch daran, wie Karl Liebknecht zu ihm gesagt hatte:
- Junge, putz dir doch mal die Nase!
Oder war es gar nicht Liebknecht gewesen? Oder war das gar nicht beim Eintritt in die Partei?“ (S. 190)
Die Figur ist für meinen Geschmack etwas zu plakativ gezeichnet, zu stereotyp stalinistisch, ein Hauch sympathischer, verständnisvoller wäre angebracht gewesen. Seine Erfahrungen im Nationalsozialismus klingen nur entfernt an und der Deutungshorizont dieser Erfahrungen für die DDR-Politik wird genau so eingeschränkt thematisiert wie das Verheizen durch Stalin für nationalistische Großmachtpolitik während der NS-Zeit.
Ich fand es schon in den 70ern und finde es auch heute noch unanständig, dass der Antifaschismus der KPDer bzw. der SED-Altkader (oder wie soll man sie nennen?) nicht anerkannt wird. Die Ablehnung des Stalinismus ist für diese Missachtung nur der unwesentlichste Grund. Überhaupt kam mir die DDR 1989/90/91 (vorher hatte ich mich nur am Rande mit ihr auseinandergesetzt) sehr traditionsverhaftet (nicht nur in dieser Beziehung), unmodern?, rückwärtsbezogen, sowohl bei den Befürwortern wie Gegnern, vor. Ich denke noch mit Grausen und Faszination an die Geschichtskabinette, die mir damals aller Orten begegneten. (Die Ausstellung zur Köpenicker Blutwoche ist eines der wenigen Überbleibsel, die man noch sehen kann.) Inzwischen sind die meisten Kabinette entsorgt. Das Hochhalten des antifaschistischen Widerstandes war ja nicht nur Staffage, es war auch Zentrum des Selbstverständnisses der staatstragenden Gruppen der DDR. In der Bundesrepublik war es bekanntlich weitgehend entgegengesetzt.
Obwohl aus dieser Generation kaum noch jemand lebt, werden politische Auseinandersetzungen in Deutschland auch nach 1990 davon immer noch geprägt.
Dazu kann ich ihnen als weiterführende Lektüre den allseits klugen und gebildeten Daniel Rapoport empfehlen. (Und falls sie den Aufsatz von Rapoport gelesen haben: Saul Ascher könnte man anlässlich des Europatümelns der Rechten auch mal wieder ausgraben.)

Zu Kurt
Kurt ist für meinen Geschmack die interessanteste Figur.
„Lubjanka, Moskau 1941.
Jetzt sah er ihn vor sich. Frappierende Ähnlichkeit: die schmalen Augen, der Bürstenhaarschnitt und sogar die Art, wie er den Aktenordner aufgeschlagen, wie er darin geblättert hatte, ohne hineinzuschauen:
- Sie haben Kritik an der Außenpolitik des genossen Stalin geäußert.
Der Sachverhalt: Anlässlich des „Freundschaftsvertrags“ zwischen Stalin und Hitler hatte Kurt damals an Bruder Werner geschrieben, die Zukunft werde erweisen, ob es vorteilhaft sei, mit einem Verbrecher Freundschaft zu schließen.
Zehn Jahre Lagerhaft.
Wegen antisowjetischer Propaganda und Bildung einer konspirativen Organisation. Die Organisation waren: er und sein Bruder.“ (S. 182)
Kurt steht trotz seiner zehn Jahre Haft und anschließenden Verbannung treu zur DDR. Er arbeitet als Historiker der Arbeiterbewegung und produziert Aufsatz um Aufsatz, Buch um Buch am DDR-Geschichtsbild. Leider wird nicht deutlich warum, unklar bleibt auch – zumindest mir – wie sich dieses Bild von der unmittelbaren Nachkriegszeit über die Ulbricht-Ära hin zu Honecker ändert.

Ein Freund von mir, gelernter DDR-Bürger und Historiker erzählte mir, wie er seine Dissertation auf Geheiß der SED so lange umschreiben musste, bis er sie selbst nicht mehr erkannte und die Thesen der Arbeit nicht mehr mit den Quellen in Einklang gebracht werden konnten. Ich kann mich noch sehr gut an diesen Abend erinnern, als wir trinkend und diskutierend, versuchten einander zu verstehen. Was mir nicht in den Kopf wollte, warum er sich das gefallen ließ (das hatte ich nach einer Stunde kapiert) und warum er nach dieser Erfahrung trotzdem in der SED blieb (es hatte nichts mit Karrieregesichtspunkten zu tun) bzw. warum er sich innerlich nicht davon lösen konnte. Diese Treue will mir immer noch nicht in den Kopf.
Jetzt, zwanzig Jahre später, denkt er an einem System der ökonomischen Planung herum, das moderne Rechentechnik für die Feinplanung nutzbar machen will. Auf mein Argument, dass man doch zumindest Eines von der DDR lernen könne, nämlich dass sich Mikroökonomie nicht vernünftig planen lasse, auch mit bester Rechentechnik nicht, sah er mich bedröppelt an.
Ja das sind so die Sachen, die mich beschäftigen.

Apropos Ökonomie: Anfang der 90er quatschte ich lange mit einem Agrarökonomen der DDR über die 50er, 60er und 70er Jahre. Er erzählte mir, dass das Lebensgefühl in den 50er und 60er Jahren in der DDR sehr unterschiedlich war. Während in der Anfangszeit Fortschritte beim Aufbau des Landes („immer ein bischen weniger als im Westen, aber immerhin“) spürbar waren, sei dies später verloren gegangen und der alltäglichen Erfahrung von Verschleiß, von Rückgang habe Platz machen müssen („Weißt du, wenn du jeden Tag zur Arbeit gehst und das Gefühl hast, es wird immer weniger, dann kannst du eigentlich auch zu Hause bleiben“). Das hat mir sehr zu denken gegeben. Ich bin ja immer noch auf der Suche nach einem Text, der dieses so beschriebene Lebensgefühl bestätigt oder widerlegt. Darüber hinaus scheint es mit den Phasen der Lockerung und Verhärtung auf der ideologischen Ebene in der DDR zu korrespondieren.

Ergänzung 11.10.2011:
Ein Interview mit Ruge im Tagesspiegel

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