Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Jürgen Theobaldy
hatte ich völlig vergessen, bis mir beim Ausräumen der Bücherschränke (alle paar Jahre muss man ja renovieren) ein kleines Lyrikheft wieder in die Hände rutschte. Sein Titel ist: Sperrsitz. Ich hatte das Heft Anfang/Mitte der 70er gekauft und damals mit großem Vergnügen gelesen. Nun macht es bekanntlich einen großen Unterschied, ob man mit 20 Gedichte ansprechend findet oder mit 50. Um es kurz zu machen: beim Blättern und erneuten Lesen der Texte bin ich immer noch ganz angetan. Aber urteilen Sie selbst:
Abenteuer mit Dichtung

Als ich Goethe ermunterte einzusteigen
war er sofort dabei
Während wir fuhren
wollte er alles ganz genau wissen
ich ließ ihn mal Gas geben
und er brüllte: „Ins Freie!“
und trommelte auf das Armaturenbrett
Ich drehte das Radio voll auf
er langte vorn herum
brach den Scheibenwischer ab
und dann rasten wir durch das Dorf
über den Steg und in den Acker
wo wir uns lachend und schreiend
aus der Karre wälzten
(Sperrsitz Palmenpresse 1973)
Er hat über die Jahre noch einige Gedichte und Romane geschrieben und lebt jetzt in der Schweiz.

Nah bei der Boutique

Der Mann, betrunken auf dem Trottoir
an einem Nachmittag im März,
macht die Leute hilflos, hilflos
wie er ist, um hochzukommen, er fällt
zurück und wieder auf den Stein.

Vier, fünf Leute stehen herum,
jeder wortlos und für sich,
ein Mann mit naßgekämmten Haaren
tritt aus der Griechenbar, zieht
an seiner Zigarette und sieht her.

Er wartet: Die Leute warten darauf,
daß jemand kommt in Uniform und hilft
und sie von diesem Bild befreit,
das sie beklommen macht und hart,
dann taucht der Stadtbus auf.

Der Mann, er bleibt zurück,
elend in der Mittagssonne, nah
bei der Boutique, wo sich die junge Frau
in Fenster beugt und das glitzernde
Jackett aus seinen Augen nimmt.


Arbeit mit Papier

Aus jedem Gedicht kannst du
eine Schwalbe machen.

Du mußt es aber richtig falten.

Aus jedem Gedicht, hörst du,
auch aus dem missglückten.

Nun denke dir den Himmel dazu.

Zum Abschluss noch eine Prosa-Leseprobe.

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jean stubenzweig, Donnerstag, 9. Dezember 2010, 07:32
Schön, ihn wiederzulesen.
Ja, der gehörte «zu uns» seinerzeit. Sperrsitz und Nahe bei der Boetique müßten, meine ich, in meinen Kisten der einbalsamierten Bücher liegen. Sie haben mich angeregt, mal nach ihnen zu schauen.

Bei der Gelegenheit: Der Zeit-Rezensent Hans Christoph Buch gehört auch zu den lesens- und wieder lesenswerten. Ich gehe davon aus, daß Sie ihn kennen.

g., Freitag, 10. Dezember 2010, 06:49
Das freut mich jetzt sehr, dass sie Jürgen Theobaldy ebenfalls kennen und schätzen. Er scheint, im Gegensatz zu so vielen, auch nicht zu den Doofen übergelaufen zu sein. Zu Hans Christoph Buch krame ich noch in meinem Gedächtnis, soll heißen: ich kenne ihn, aber irgendwo links hinter einem Ganglion lauert auch noch eine persönliche Erinnerung, die ich noch nicht fassen kann. Das sind so die Momente, wo ich es bedaure nie Tagebuch geschrieben zu haben.