Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Mittwoch, 8. Dezember 2010
Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben XXIV
»Jeder«, fuhr die Rednerin fort, »sucht die Armseligkeiten seiner Nebenmenschen dazu zu brauchen, sich einen ebnen Weg durchs Leben zu bahnen; der eine kleidet sich, wie sein Gönner es gern sieht; ein anderer hat dieselbe politische und philosophische Meinung, die man von ihm fordert; ein dritter heiratet, um reich zu werden; ein vierter übervorteilt im Handel; jeder lügt, hintergeht, spielt den Scharlatan; die ganze Welt maskiert, und nur die Macht der Schönheit soll von dieser allgemeinen Sucht, andre zu beherrschen, ausgeschlossen bleiben?

So lebe ich angenehm und im Wohlstande. Fremde, die, wenn nicht mir, einem andern Mädchen ihren Reichtum hingetragen haben würden, vermehrten mein Vermögen; Narren verfolgten mir, und drangen mir, sosehr ich mich weigerte, ihre Börse auf. – Aber ich wähle auch aus; ich bin, so wie Sie mich hier sehn, aufs eifrigste Demokratin, und hasse und verachte alles, was sich Edelmann nennt so habe ich Ihren Präsidenten immer mit dem größten Spott abgewiesen, sosehr er sich mir aufgedrängt hat. – Ich habe schon manchen Armen unterstützt, und mancher Familie aufgeholfen, und so kann ich nicht einsehn, warum ich nicht mit mir zufrieden sein, sondern mich für ein verworfenes Geschöpf halten sollte?«

»Sie sind die liebenswürdigste Philosophin von der Welt!« rief Siegmund aus. »Ich habe noch kein Frauenzimmer gefunden, deren Seelengröße sich mit der Ihrigen messen dürfte.«
1797 dürfte es nur wenige Menschen gegeben haben, die so einer Laxheit der (sexuellen) Moralvorstellungen das Wort geredet haben.

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