Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Montag, 14. Februar 2011
Mit 14 da macht man noch Sachen ...
Ich war als Heranwachsender ein ganz fürchterlich ernsthaftes Kind und zugleich voller Lebensdurst wie es einem Pubertierenden ja auch angemessen ist.

Plötzlich wurde Sexualkundeunterricht Ende der 60er Jahre vom Kultusministerium vorgeschrieben. Auch in Baden-Württemberg war die neue Zeit, wenn auch sehr gemäßigt, angekommen. An unserer Schule ward das nicht gerne gesehen und so drückte sich vor diesem Thema wer konnte. Wer es nicht konnte, war unser Biologielehrer, der sich aber immerhin auf sein Fachgebiet zurück ziehen und strikt nur die anatomischen Fakten der Humanbiologie lehrte. Es wurden ausführlich die Fortpflanzungsorgane und ihre Funktion gelehrt und gelernt. Vor der Beschreibung oder Erläuterung, wie das nun praktisch funktioniert, drückte er sich, obwohl vielleicht auch ein Biologe dazu hätte etwas sagen können.
Dem Pfarrer L. nun wurde aufgegeben, uns die Liebe und ihre Irrungen und Wirrungen zu erklären. Wir sprachen also im Religionsunterricht Texte verschiedener Autoren mit unterschiedlichem weltanschaulichem Hintergrund, von C.G. Jung über Wilhelm Reich bis Habe ich vergessen, durch. Das war durchaus interessant, nur das ganze Feld dazwischen, von wie funktioniert das eigentlich ganz praktisch, wenn ein Mann eine Frau trifft (geschweige denn das ganze Feld des gleichgeschlechtlichen Sex; erst viele Jahre nach dem Abitur habe ich von einem Schulfreund gehört, dass er mit einem anderen Mann zusammen lebt: wie der wohl diese Zeit erlebt hat?), wie nimmt man Kontakt auf, wie findet man heraus, ob die Frau mit einem in die Kiste will (das war ein großes Thema für uns 13/14-jährige Jungs), was mögen Frauen und Männer und welche Unterschiede gibt es dabei. Solche Fragen beschäftigten uns. Auf diese Fragen bekamen wir keine Antwort.
Stattdessen gab es einen Elternabend zum Thema Sexualkundeunterricht, an dem wir Schüler auch teilnehmen durften (der einzige Elternabend meiner gesamten Schulzeit übrigens, an dem wir Schüler teilnehmen durften, an den anderen Abenden wurde über uns, nicht mit uns geredet.)
Der Elternabend begann mit dem Einwurf eines Vaters, dass er die Einrichtung von Praxisräumen in der Schule überzogen fände und so ging es die erste halbe Stunde weiter. Unser Pfarrer L. schlug sich tapfer und versuchte das ganze Ensemble an Latrinenparolen, das sich in den Köpfen der Eltern zum Thema Sexualkundeunterricht angesammelt hatte, auszuräumen. Es war fürchterlich.
Die Mehrheit der Eltern wollte definitiv nicht, dass in der Schule oder an anderen Orten über mehr als Heiraten und Kinderkriegen und das in sehr allgemeiner Form, gesprochen wurde.
Im Nachhinein denke ich, das das Thema nur von einem einigermaßen aufgeklärten Pfarrer, der nicht unbedingt im Ruf stand ein linker Vogel zu sein, im Unterricht behandelt werden konnte. Die Mehrheit der Eltern (mein Vater und meine Mutter nahmen das alles viel gelassener) hätte alles andere nicht mitgemacht. Was wir Schüler wollten und was uns beschäftigte, war völlig uninteressant.

Unser Pfarrer und Religionslehrer L. war klug, humorlos, freundlich, einigermaßen welterfahren und nahm seine Aufgabe, Jugendlichen etwas beizubringen, sehr ernst.

Wir rechneten es Pfarrer L. hoch an, dass er uns vor dem Furor der verklemmten Spießer geschützt hatte und wir rechneten es ihm auch hoch an, dass er uns ernst nahm und wir im Religionsunterricht vieles diskutieren konnten, was sonst keinen Platz erhielt. Der Religionsunterricht wurde von ihm eher als philosophische und politische Weltkunde gestaltet und so haben wir ‚Reli’, wie das Fach so bei uns hieß auch nicht mit dem Übergang in die Oberstufe einfach abgewählt. Ich habe es z. B. als drittes Fach für die Abiturprüfung gewählt.

Der Pfarrer L. war einige Jahre in Indien als Entwicklungshelfer tätig gewesen und erzählte uns einiges aus dieser Zeit, um uns die Notwendigkeit von Entwicklungshilfe nicht nur politisch, sondern auch ganz praktisch anschaulich nahe zu bringen. Der Unterricht wurde dadurch lebendig und seine Anschauungen zu diesem und anderen Themen waren für uns ein Einstieg in eine offenere und realitätsnäheren Weltsicht, wie sie in unserer schwäbischen Kleinstadt (noch tief vom Nationalsozialismus geprägt) Ende der 60/Anfang der 70er sehr selten war. Soll heißen: er hatte für unseren Geschmack vernünftige Ansichten, er konnte sie vermitteln und wirkte, da sie erfahrungsgesättigt waren, dadurch auch glaubwürdig.
Er brachte uns auch zu einer, nennen wir es mal, realitätstüchtigeren Moral:
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die er uns im Zusammenhang mit einer Diskussion über Freiheit und Erziehung im Unterricht erzählt hat. Konkret ging es in der Diskussion, wenn ich mich recht erinnere, um die Prügelstrafe, die glaube ich damals für Eltern und Lehrer gerade abgeschafft wurde.
Er arbeitete im Norden Indiens (Näheres ist mir nicht mehr in Erinnerung) in einer Gegend, die durchaus strengere Winter kennt. Ihr Haus wurde von einem Kanonenofen beheizt, dessen Gusseisen im Laufe des Tages glühend wurde. Sein drei oder vierjähriger Sohn war von dem Ofen fasziniert und wollte im Überschwang das schöne, flirrende Rot berühren. Die Ermahnungen seiner Eltern nahm er nicht ernst, schließlich bekommt man als Kind alles mögliche verboten. Erfahrungen muss man schon auch selber machen. Nur: seine Hand wäre Zeit seines Lebens verkrüppelt geblieben. Schließlich wussten sich seine Eltern keinen Ausweg mehr, nach dem der Kleine mehrfach versucht hatte den Ofen zu berühren. Sie gaben ihm eine Ohrfeige. Eine Ohrfeige aus Not und so war dem Kleinen sehr klar, dass es hier nicht um eines der üblichen Verbote ging. Hätte ich anders entschieden? Natürlich nicht. Hätte ich ebenfalls ein schlechtes Gewissen gehabt? Ja, hätte ich. Denn eine Übertretung der eigenen Überzeugungen ist allemal ein Anlass, über die Maßstäbe, die man an sich und andere legt, zu reflektieren. Der Maßstab ist richtig, nur kann man sich nicht immer daran halten. Das war schon immer das Problem mit der Moral, die über der konkreten Situation zu stehen hat, sonst kann man sie ja nicht als Maßstab verwenden und damit messen, d. h. sein Denken, Fühlen und Handeln an ihr beurteilen.
Das Problem aller moralischen Urteile ist ja, dass sie niemals absolut sein dürfen.
In der Theorie kann man das problemlos auflösen:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Im alltäglichen Vollzug muss man stets im Widerspruch bleiben, wenn man nicht zum Terroristen werden will.

Während der Religionsunterricht stark von philosophischen und politischen Themen geprägt war, wurde im Konfirmandenunterricht, den der Pfarrer L. auch abhielt, denn er war gleichzeitig unser Gemeindepfarrer, Luther und seine Zeit und biblische Themen behandelt. Die Unterrichtsform war ‚modern’, soll heißen es wurde die Lutherzeit und die Auseinandersetzung mit der Amtskirche in Rom anhand einer Zeitung in moderner Form, behandelt. Sie hieß, glaube ich, Nachrichten aus Wittenberg? Na egal. Es gab verschiedene Artikel, die als Kommentar, Nachricht oder Leitartikel aufgemacht waren. Da wurde dann über den Ablasshandel des Tetzel berichtet und über die Stellungnahme Luthers dazu.

Wir besprachen die Bergpredigt, das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis des Doktor Martinus Luther:
„Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“

Was ist das?

„Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was Not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn’ all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und zu gehorsam zu sein schuldig bin.

Das ist gewisslich wahr.“
(Martin Luther, Der Kleine Katechismus [EG 883.2.1])

Ich kratzte mich am Kopf. Was sollte ich damit anfangen? „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat?“ Nein, das waren meine Eltern. „samt allen Kreaturen?“ Und was ist mit der Evolution? „Mich täglich versorgt“ Das wüsste ich aber.
Na so in dieser Weise ging die Debatte. Als 14-jähriger ist man ja noch besonders klug, umfassend naiv und wahrheitssuchend.

Natürlich versuchte unser Pfarrer uns auf die Bildlichkeit des Bekenntnisses aufmerksam zu machen und natürlich erklärte er uns, dass Luther von Darwin noch nichts wusste.
Er erläuterte uns den modernen Glauben, der sich an die Erkenntnisse des 19. und 20. Jahrhunderts angepasst habe. Natürlich würde heute kein Protestant, der einigermaßen bei Verstand ist, die Evolutionstheorie in Frage stellen und niemand würde behaupten, dass Gott einen täglich mit allem Lebensnotwendigen versorgt.

Wie ich schon eingangs schrieb, war ich ein ganz fürchterlich ernsthafter junger Mann. Ich ließ mir seine Deutung durch den Kopf gehen und sprach mit meinem acht Jahre älteren Bruder darüber, dass mich das alles nicht überzeugt. Aber wenn mich das nicht überzeugt, wieso sollte ich mich konfirmieren lassen? Schließlich wird man mit der Konfirmation in die Gemeinde aufgenommen?
Ich beschloss also am nächsten Sonntag den Gottesdienst von Pfarrer L. zu besuchen und mich dem Glauben auszusetzen. So hoffte ich, entscheiden zu können, ob ich mich konfirmieren lassen will oder nicht. Mit 14 macht man noch Sachen ...

Ich stiefelte also am folgenden Sonntag in den Gottesdienst und fremdelte die ganzen zwei Stunden. Pfarrer L. beobachtete mich die ganze Zeit. Ich war der einzige seiner Konfirmanden, der den Weg in den Gottesdienst gesucht hatte. Ich beobachtete ihn und die anderen Gottesdienstbesucher. Mit niemand in der Gemeinde fühlte ich mich verbunden. Mit der Predigt konnte ich nicht anfangen, Gott blieb mir so fremd und dubios wie vorher.
Mein Bruder meinte anschließend, dass wir halt von den Eltern nicht christlich erzogen worden seien und daher keinen Bezug dazu hätten. Das leuchtete mir ein. Glaube und Christentum funktioniert nur bei Leuten, denen es von Kindheit an nahe gebracht wurde. Aber wenn das bei mir nicht der Fall war, warum sollte ich mich konfirmieren lassen?
Wegen der Geschenke, meinte mein Bruder. Nimm es einfach mit und in ein paar Wochen kannst du ja aus der Kirche austreten und den ganzen Scheiß vergessen.
Für einen ernsthaften jungen Mann war das kein gangbarer Weg.
Mein Bruder sah mir tief in die Augen. Schau, meinte er, mann muss im Leben vieles machen, was der letzte Scheiß ist. Manchmal auch, um niemanden zu verletzten, wie bei der Konfirmation. Die ganze Verwandtschaft sei da und die Eltern würden sich auf ein Familienfest freuen. Ich sei der Jüngste und mit der Konfirmation sei auch ein Lebensabschnitt abgeschlossen und der erste Schritt ins Erwachsenenleben getan. Ich solle doch niemand enttäuschen und die Show einfach mitmachen.
Und so wurde ich konfirmiert und trat sechs Wochen später aus der Kirche aus.
Zu diesem Zeitpunkt kam ich mir ziemlich materialistisch und inkonsequent vor. Ich habe mich über mich selbst geärgert.

Einige Jahre später habe ich den Wehrdienst verweigert und kam zum Zivildienst in ein großes Klinikum. Unter uns Zivildienstleistenden gab es auch einen, der sich auch weigerte den Zivildienst abzuleisten. Das Argument war, dass man auch als Zivi dem Krieg Vorschub leiste, in dem man sozusagen an der Heimatfront diene und so erst die Voraussetzungen schaffe, dass Andere in den Krieg ziehen könnten. Der Totalverweigerer wurde ins Gefängnis gesteckt und wir haben Mahnwachen und Aktionen für seine Freilassung veranstaltet. Irgendwann hatte dann die Staatsmacht ein Einsehen und ließ ihn frei, allerdings erst nach seiner Verurteilung zu einer längeren Gefängnisstrafe, die ihm einen Eintrag im Strafregister bescherte. Es sollte ein Exempel statuiert werden. Er nahm das auf sich, für seine Überzeugungen.
Was für ein Scheißdreck.
So wurde ich endgültig vom moralischen Rigorismus geheilt.

Das alles ereignete sich vor über 40 Jahren. Was aus dem Pfarrer L. wohl geworden ist?
Wenn ich heute zurückblicke, denke ich mir, dass der L. ein kluger, sympathischer Mann war, der uns Kindern neue, vernünftigere Denk- und Sichtweisen vermittelt hat. Dafür bin ich ihm dankbar. Es bleibt aber die Frage, die wir uns schon damals stellten: was hatte das alles mit seinem Glauben zu tun? Für einen gläubigen Menschen ist es zweifellos eine sinnvolle Anstrengung seinen Glauben mit der Moderne in Einklang zu bringen, nur was soll ein Ungläubiger wie ich mit derlei Rationalisierungen anfangen?
Für uns Jugendliche war der L. etwas zu weichgespült, zu verständnisvoll, sein Leben verlief für unseren Geschmack zu bruchlos, zu langweilig, zu leidenschaftslos.

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Das ist sehr flott heruntergeschrieben. Wenn es an einigen Stellen zu sprunghaft und inkonsistent daherkommt, bitte ich um Verzeihung.

Jetzt fehlt natürlich noch das Gegenbild. Da brauche ich aber noch ein bisschen Zeit.

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