Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Freitag, 11. Februar 2011
Wirre Gedanken über Graham Green, Geheimagenten und das geplante Leben
Heutzutage, so hört man, seien die jungen Leute ganz versessen darauf, schon im Vorschulalter ihren späteren Lebensweg in den Griff zu bekommen. Musik und Sport und mindestens zwei Fremdsprachen und überhaupt, das müsse schon sein. Ich hatte mal einen Schuldirektor, der immer mit so schönen und bleibenden Sätzen wie ‚Was Hänschen nicht lernt, das ...“ hausieren ging. Er wäre sicher begeistert über die heutige Generation, die seinen Lebensweisheiten folgt, ohne dass er sie mit solchen Sentenzen dazu anhalten muss, aber das ist eine andere Geschichte, zumal wir damals (aufgemerkt: „Papa erzählt vom Krieg!“) seinen Lebenserfahrungen nicht getraut haben, da er Napola-Zögling war. („Ja, ja, das kommt davon, wenn man auf die Altvorderen nicht hören will!“)
Nun ja, damals also, waren wir eher begeistert von Weisheiten wie: „Trau keinem über 30!“ und viele meiner Schulfreunde und dann meiner Kommilitonen und Kommilitoninnen, verzehrten sich vor Sorge, dass sie später im Beruf und wenn sie eine Familie hätten ganz fürchterlich angepasst seien. Die Furcht vor Verspießerung im Alter (das ist, wenn man aus der verlängerten Adoleszenz während des Studiums heraustritt) war allgegenwärtig. Heute, aber das können Sie sich sicher denken ...

Ach Übrigens, kennen Sie Fredl Fesl?
Na egal, er hat in den 70ern mal ein Gstanzl gesungen/gesprochen, in dem es um das aufgeschobene Leben ging. Aus dem Gedächtnis zitiert ging das ungefähr so:
„Wenn mer erst mal aus der Schul ist,
Wenn mer erst mal im Beruf steht,
Wenn mer erst mal verheiratet ist,
Wenn mer erst mal a Häusle hat,
wenn mer erstmal Kinder hat,
wenn des Häusle erstmal abbezahlt ist,
wenn die Kinder aus dem Haus sind,
wenn die Kinder erstmal selber Kinder ham,
wenn mer erstmal in Rente ist,
wenn mer erstmal tot ist
... dann wird alles anders.“
Also, so ungefähr wenigstens. Aufgefallen ist mir die Ambivalenz, in der sich das Gstanzl bewegt. Wahrscheinlich hat es deshalb damals nicht wirklich großen Erfolg bei, ja bei wem? gehabt.

Etwas größeren Erfolg hatte ein Roman von Graham Green: Die Reisen mit meiner Tante. Das gab es als RoRoRo-Taschenbuch mit grünem Einband, wenn ich mich recht erinnere. Die Geschichte ist schnell angedeutet: Der Direktor einer englischen Provinzbank hat sich im Ruhestand auf die Züchtung von Dahlien kapriziert und führt ein gemächliches Leben. Zur Beerdigung seiner Mutter erscheint auch seine Tante, die Schwester seiner Mutter, mit ihrem kiffenden Liebhaber, Wordsworth, der nach der Beerdigung aufgrund widriger Umstände gezwungen ist, die Asche der Mutter in den Fluss zu kippen, um sein Gras in der Urne verstecken zu können. In der Folge ereignet sich noch so dies und das und gegen Ende der Geschichte verbringt der ehemalige Bankdirektor seinen Lebensabend damit, im brasilianischen Urwald Konterbande über die Grenze zu schmuggeln. Liiert ist unser Held mit einer jungen Frau, deren Vater im Hauptberuf CIA-Agent ist und Wert auf ein geregeltes Leben legt:
„Er nahm sein Notizbuch aus der Tasche und begann wieder seine geheimnisvollen Zahlenkolonnen zu kritzeln.
»Forschungsergebnisse?« fragte ich.
»Ach«, sagte er, »das ist privat.«
»Schließen Sie Wetten ab, wie weit das Schiff kommt?«
»Nein, nein. Für Wetten habe ich nichts übrig.« Wieder sah er mich melancholisch und besorgt zugleich an. »Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen, Henry«, sagte er. »Die meisten Menschen würden es komisch finden. Ich zähle die Sekunden, die ich zum Pinkeln brauche, und dann schreibe ich auf, wie lange es gedauert hat, und die Uhrzeit. Haben Sie sich schon einmal klargemacht, dass wir jedes Jahr einen ganzen Tag verpinkeln?«
»Du meine Güte«, sagte ich.
»Ich kann es beweisen, Henry. Sehen Sie her.« Er öffnete sein Notizbuch und zeigte mir eine Seite. Das sah ungefähr so aus:

28. Juli

7 h 15: 17’’

10 h 45: 37’’

12 h 30: 50’’

13 h 15: 32’’

13 h 40: 50’’

14 h 05: 20’’

15 h 45: 37’’

18 h 40: 28’’

20 h 30: ? Vergessen zu zählen

4 Min. 31 Sek.

Er sagte: »Man muss nur mit sieben multiplizieren. Das ergibt dann eine halbe Stunde pro Woche. Oder sechsundzwanzig Stunden im Jahr.«
(Graham Greene: Die Reisen mit meiner Tante, Rowohlt 1977 S. 161/2)

Ach, und da wir gerade bei Geheimagenten angelangt sind: Beim abendlichen zappen durch die Programme landete ich eines Tages auch bei einem Bericht über den BND. In einer Sequenz zeigten sie Bewerber für den Beruf des Spions. Zumindest für mich verblüffend war, dass nicht einer der Schlapphüte in spe als Motiv für seine Bewerbung beim Bundesnachrichtendienst Freiheit & Abenteuer erwähnte. In Erinnerung geblieben ist mir die Aussage eines Bewerbers:
„Ich wollte schon immer Beamter werden. Leider bin ich von verschiedenen Ämtern abgelehnt worden, und so dachte ich mir, bewirb dich doch mal beim BND.“
Nach allem was man so hört, ist diese Geisteshaltung durchaus typisch für bundesdeutsche Nachrichtendienste. Vielleicht ist das nicht das Schlechteste.

Sie sehen, die Furcht vor einem Leben, das sich in geordneten Bahnen von der behüteten Kindheit, über Schule, Studium oder Ausbildung, in Beruf und Familie und am Ende in Siechtum und Tod, bewegt, war zumindest für einen Teil meiner Generation prägend. Die Furcht, das donnernde Leben zu verpassen, war ausgeprägter als die Sorge, vor den Herausforderungen des Lebens zu scheitern. Wobei man sich beim scheitern, aber das wäre nochmals eine andere Geschichte …

Lutz Niethammer hat mal in einer Straße in Köln(?) versucht, dieses geplante, langweilige Leben dingfest zu machen. Er befragte alle Bewohner dieser Straße nach ihren Erlebnissen und Erfahrungen, privat und beruflich. Keiner der Befragten hatte einen Lebensweg, der von der Geburt bis zum Tode in geordneten Bahnen verlief.
Wovor haben wir uns dann eigentlich damals gefürchtet?
Meine Antwort wäre: vor den Sehnsüchten unserer Eltern, die ein oder zwei Kriege und den Faschismus in den Knochen hatten und sich nach einigen Jahren in Sicherheit sehnten. Wir haben diese Sehnsucht für die Wirklichkeit gehalten. Das geordnete Leben von der Wiege bis zur Bahre existierte nie, zumindest für die niederen Schichten.

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