Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Freitag, 21. November 2008
Deutschland 1918/1
Leipzig 22.11.1918
„Die Spartakusgruppe (1,2) tagte gestern in einem ziemlich jämmerlichen Lokal am Brühl, im Hinterhaus (Coburger Hallen). Ein langes verräuchertes Zimmer, nach den Bildern zu schließen (unter denen Wilhelm II nicht fehlte) Verbandszimmer einer Lokomotivführer-Vereinigung. An zwei langen Tischen u. sonst an die Wand gepfropft, ruhig beim Bier 200 – 250 Menschen, meist jung, aber weder gemein noch radaulustig aussehend, einige Frauen, mancherlei Soldaten darunter. Solange wir da waren, sprachen ein stockender, aber bedächtig wägender Vorsitzender, ein referierender Pole oder polnischer Jude mit kaltschnäuzig frecher Geschwindigkeit, ein kragenloser grauhaariger Arbeiter, fließend, ruhig, intelligent, wie ein guter Dozent, ein Unteroffizier von etwa 30 Jahren mit hartem ostpreußischem Accent in leidenschaftlichstem, fanatischstem, überzeugtestem, langsam wuchtendem Kreuzpredigerton. Alle sagten sie, jeder auf seine Art, genau das Gleiche, im Grunde mit einer kindlich naiven Schamlosigkeit: Gegen Nationalversammlung u. gegen Preßfreiheit. Wir sind in der Minorität, die Nationalversammlung würde uns besiegen, die Presse bekämpft uns. Ergo Verhinderung der Nationalversammlung, gewaltsame Beschlagnahmung der Presse für unsere extreme Richtung! Es kommt ihnen eben gar nicht auf allgemeine Freiheit an, sondern auf ihre Befreiung, vielmehr ihre Herrschaft.“

(Victor Klemperer Tagebücher)
Während er den Arbeiter durchaus wohlwollend zeichnet, ist er von dem Unteroffizier offensichtlich angewidert. In der Schlussfolgerung ebnet er dann die Widersprüche wieder ein. Schade.
Schade ist auch, dass Klemperer nicht weiter auf die ‚allgemeine’ Freiheit, in seiner Sichtweise, vor dem Hintergrund etwa des preußischen Klassenwahlrechtes, eingeht; zumindest die Legitimität eines allgemeinen Wahlrechtes (woran man in diesem Zusammenhang mindestens denken muss) dürfte ihm eingeleuchtet haben?
Seine Sichtweise wirkt durchaus ‚modern‘, in einer ähnlichen Wahrnehmung könnte man auch eine Veranstaltung versprengter K-Grüppler kennzeichnen (ohne den Vorsitzenden und den Arbeiter); ‚modern‘ in dem Sinne, dass er von einem antisozialistischen Impuls geprägt ist, der auch noch heute die (partei-) politischen Debatten prägt.
Eine interessierte Auseinandersetzung scheint es auch damals nicht gegeben zu haben.
Ich hoffte in den Briefen von Rosa Luxemburg eine andere persönliche Sichtweise zu finden: leider Fehlanzeige. Sie stürzte sich nach der Entlassung aus dem Gefängnis sofort in die Arbeit an der Roten Fahne und verfasste anscheinend nur kurze Notizen.

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