Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Mittwoch, 14. August 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 3
Anfang der Geschichte

„Schon waren Jahre verflossen, und Mirzoza blieb Mangoguls Geliebte. Die Liebenden hatten sich alle jene Phrasen gesagt und tausendfältig wiederholt, die selbst den geistreichsten Leuten eine heftige Leidenschaft eingibt. Sie waren bis zur Vertraulichkeit gekommen und hätten es für Sünde gehalten, sich den geringfügigsten Umstand ihres Lebens zu verheimlichen. Sonderbare Fragen wie: »hätte der Himmel, der mich auf den Thron setzte, mich im Staube geboren werden lassen, wären Sie zu mir herabgestiegen? Hätte Mirzoza mich dennoch mit ihrer Liebe gekrönt?« »Wenn Mirzoza ihre geringen Reize verlöre, würde Mangogul sie immer lieben?« Derartige Fragen, sag' ich, die Liebende von Erfindungsgabe im Scharfsinn üben, nicht selten sogar empfindsame Liebende entzweien und die aufrichtigsten Liebenden gar oft zu Lügen verleiten, waren für sie schon verbraucht. Die Favorite, eine große Meisterin in der so notwendigen und seltenen Kunst gut zu erzählen, hatte die Skandalgeschichten von Banza bereits erschöpft. Da sie nicht viel Temperament besaß, so war sie nicht immer aufgelegt, des Sultans Liebkosungen zu empfangen, noch der Sultan immer gelaunt, ihre dergleichen anzutragen. Kurz, es gab Tage, wo Mangogul und Mirzoza nichts zu reden, beinahe nichts zu tun hatten, und, ohne sich darum weniger zu lieben, sich schlecht unterhielten. Solche Tage waren selten, aber es gab ihrer doch, und so einer grade war es.

Der Sultan lag nachlässig auf einem Lehnstuhl, der Favorite gegenüber. Sie häkelte und sprach kein Wort dabei. Eine Spazierfahrt erlaubte das Wetter nicht. Mangogul mochte keine Piquetpartie vorschlagen; und diese verdrießliche Stimmung dauerte fast eine Viertelstunde, als der Sultan nach häufigem Gähnen anfing: »Man muß gestehn, Geliotte sang wie ein Engel!« »Und Ihrer Hoheit wird die Zeit zum Sterben lang,« setzte die Favorite hinzu. »Nein, Madame,« erwiderte der Sultan, und gähnte nur halb, »der Augenblick, in dem man Sie sieht, gehört niemals der Langeweile.« – »Das wäre ja beinahe galant gewesen! Aber Sie träumen, Sie sind zerstreut, Sie gähnen; was fehlt Ihnen, Fürst?« – »Ich weiß nicht,« sagte der Sultan. »Ich errate es«, fuhr die Favorite fort: »Ich war achtzehn Jahr alt, da ich das Glück hatte, Ihnen zu gefallen. Sie lieben mich seit vier Jahren. Achtzehn und vier sind zweiundzwanzig. Ich bin freilich sehr alt.« Mangogul lächelte über die Rechnung. »Wenn ich denn also,« setzte Mirzoza hinzu, »für das Vergnügen nichts mehr tauge, so will ich Ihnen wenigstens zeigen, daß guter Rat bei mir zu finden ist. Die Abwechslung aller Freuden um Sie her hat Sie vor Überdruß nicht bewahren können. Ja, Sie sind übersättigt. Das ist Ihre Krankheit, Fürst.« – »Ich gebe nicht zu, daß Sie recht haben,« sprach Mangogul, »aber gesetzt, es wäre so, wüßten Sie ein Mittel dagegen?« Mirzoza bedachte sich einen Augenblick und antwortete dann dem Sultan: Seine Hoheit hätten ihr soviel Vergnügen an den galanten Abenteuern der Stadt zu finden geschienen, daß sie bedaure, nicht mehr davon zu wissen, oder über die seines Hofes nicht besser unterrichtet zu sein; zu diesem Mittel würde sie wieder ihre Zuflucht genommen haben, bis ihr ein besserer Einfall gekommen wäre. »Das halte er auch für gut,« sagte Mangogul, »aber wer weiß die Geschichte aller jener Närrinnen? Und wenn sie jemand wüßte, wer kann erzählen wie Sie?« – »Suchen wir sie nur zu erfahren,« erwiderte Mirzoza, »es mag sie erzählen wer da will, Ihre Hoheit gewinnen sicherlich mehr an Gehalt der Sache, als Sie an der Einkleidung verlieren.« »Ich werde mir,« sagte Mangogul, »wenn Sie wollen, mit Ihnen zusammen die Damen meines Hofes sehr unterhaltsam vorstellen, aber was hilft mir das? Wären sie noch hundertmal mehr, es ist ja unmöglich dahinter zu kommen.« »Es mag schwierig sein,« antwortete Mirzoza, »aber das ist auch alles, denk' ich. Der Genius Cucufa, Ihr Verwandter und Freund, hat größere Wunder getan. Was fragen Sie den nicht um Rat.« – »Freude meines Lebens!« rief der Sultan, »Sie sind bewundernswert. Was der Genius für mich tun kann, das wird er aufbieten. Daran zweifele ich nicht. Gleich verschließ' ich mich in mein Betzimmer und will ihn heraufbeschwören.« Mangogul stand auf, küßte der Favorite linkes Auge, nach der Sitte von Congo, und ging hinaus.“
Das ist der Vorteil an exotischen Ländern, da funktioniert das mit der Zauberei. Ob die Bezeichnung der Stube, in der die Beschwörung stattfindet, als Betzimmer, dem Klerus gefallen hat?

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Montag, 12. August 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 2
Mangoguls Erziehung

„Man erlaube mir über Mangoguls erste Jahre wegzuschlüpfen. Die Kindheit der Fürsten ist wie die Kindheit anderer Menschen; mit dem Unterschiede freilich, daß es ihnen gegeben ist, eine Menge witziger Sachen zu sagen, ehe sie reden können. Kaum war auch Ergebzeds Sohn vier Jahr alt, als eine ganze Sammlung derselben, den hundertvierundsiebzigsten Teil der Kinderbibliothek ausmachte. Ergebzed war ein verständiger Mann und wollte nicht, daß seines Sohnes Erziehung so vernachlässigt werden sollte, wie die seinige. Daher berief er sehr frühzeitig um ihn und besoldete ansehnlich an seinem Hofe, was Congo an großen Männern jeder Art besaß: Maler, Weltweise, Dichter, Tonkünstler, Baumeister, Tanzmeister, Mathematiker, Geschichtslehrer, Fechtmeister usw. Mangogul hatte sehr glückliche Anlagen, und der anhaltende Unterricht seiner Lehrer trug dazu bei, ihn alles wissen zu lassen, was ein junger Fürst in den ersten fünfzehn Jahren seines Lebens zu lernen gewohnt ist. In seinem zwanzigsten Jahre trank er, und aß, und schlief, so vollkommen, als irgendein Gewalthaber seines Alters.“
Kein Wunder, dass Diderot mit den Obrigkeiten in Konflikt kam. („witziger Sachen zu sagen“ = geistreiche)
„Ergebzed fühlte an der Last seiner Jahre die Last seiner Krone. Er war es müde, die Zügel des Reiches zu halten. Drohende Unruhen schreckten ihn, Mangoguls hervorragende Talente erweckten sein Vertrauen, fromme Gefühle drangen auf ihn ein, bei den Großen sichere Verboten ihres nahen Todes oder ihres Blödsinns, und darum stieg er vom Thron, um seinen Sohn darauf zu setzen: und dieser gute Fürst glaubte der Einsamkeit zu bedürfen, um die Verbrechen einer Verwaltung abzubüßen, deren die Jahrbücher Congos als der allergerechtesten Meldung tun. Also begann im Jahre der Welt 150000003200001, des Reiches Congo 390000070003, die Regierung Mangoguls in direkter Linie des 1234500sten seines Stammes. Häufige Sitzungen im Staatsrat, Kriege, die er bestand, und Betreibung der Geschäfte, lehrten ihn bald, was ihm noch zu wissen übrig blieb, da er aus den Händen seiner Schulmeister kam, und das war etwas.
Unterdessen erlangte Mangogul in weniger als zehn Jahren den Ruf eines großen Mannes. Er gewann Schlachten, eroberte Städte, vergrößerte sein Reich, gab seinen Provinzen Frieden, hob die Unordnung der Staatseinkünfte, ließ Künste und Wissenschaften wieder aufblühen, errichtete Gebäude, machte sich unsterblich durch nützliche Anstalten, befestigte und verbesserte die Gesetze, errichtete sogar Akademien. Das alles tat er, und dennoch – seiner Universität blieb es ewig unbegreiflich! – und dennoch verstand er kein Wort Latein.
Mangogul war nicht minder liebenswürdig in seinem Serail, als groß auf dem Thron. Es fiel ihm nicht ein, nach der lächerlichen Sitte des Landes zu leben. Er sprengte die Pforten des Harems. Er verjagte die beleidigenden Keuschheitswächter, und verließ sich bezüglich der Treue der Damen weislich auf die Damen selbst. Man ging so frei in ihr Gemach, wie man in Flandern in ein Fräuleinstift geht, und betrug sich ohne Zweifel ebenso sittsam darin. Welch ein guter Sultan! Seinesgleichen findet man nur in einigen französischen Romanen. Er war mild, leutselig, fröhlich, einschmeichelnd, von reizendem Aussehen, liebte das Vergnügen, war wie geschaffen dazu, und vereinigte mehr Witz in seinem Kopfe, als alle seine Vorgänger zusammengenommen.
Es läßt sich leicht denken, daß so seltene Verdienste viele Damen bewogen, auf seine Eroberung auszugehn. Einigen gelang es. Die sein Herz verfehlten, versuchten sich mit den Großen seines Hofes zu trösten. Zu den ersten gehörte die junge Mirzoza. Ich darf mich nicht damit aufhalten, ihre Tugenden und ihre Reize herzuzählen. Das gäbe ein Werk ohne Ende, und diese Geschichte soll doch eins haben.“
„Seinesgleichen findet man nur in einigen französischen Romanen.“ Na, na, Monsieur Diderot, einen aufgeklärten Fürsten wird man doch wohl noch treffen können?

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Mittwoch, 7. August 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 1
Begeben wir uns nun in ein fernes, ein sehr fernes Land, sehr exotisch und daher auf keinen Fall in auch nur entferntester Weise mit Paris, mit dem Frankreich des 18. Jahrhunderts zu vergleichen:

Mangoguls Geburt

„Hia uf Zeles Tanzai beherrschte seit langer Zeit das große Scheschian, und dieser wollüstige Fürst war immer das Entzücken seines Landes. Acaju, König von Minuzien erfüllte die Weissagung seines Vaters. Zulmis hatte gelebt, der Graf von Facardin lebte noch, Splendide, Angola, Misapuff und einige andere Regenten Hindostans und Asiens starben plötzlich. Die Volker, müde der Herrschaft schwachsinniger Gebieter, hatten das Joch ihrer Nachkommen abgeschüttelt; und die Abkömmlinge dieser unglücklichen Monarchen durchirrten unbekannt und beinahe unbemerkt die Provinzen ihrer Reiche. Nur der Großsohn der erlauchten Scheherazade saß fest auf seinem Thron, und man gehorchte ihm in Mogolistan unter dem Namen Schah Baham, als Mangogul im Congo geboren wurde. Vieler Fürsten Untergang war, wie man sieht, der traurige Zeitpunkt seiner Geburt.

Ergebzed, sein Vater, berief keine Feen um die Wiege des Sohns. Er hatte bemerkt, daß die Fürsten seiner Zeit, deren Erziehung man diesen weiblichen Genien vertraute, größtenteils Pinsel geworden waren. Doch trug er einem gewissen Codindo auf, ihm seine Nativität zu stellen; einem vom Schlag jener Menschen, die leichter zu beschreiben als zu durchschauen sind.

Codindo war Oberster des Kollegiums der Vogeldeuter in Banza, der uralten Hauptstadt des Reiches. Ergebzed zahlte ihm ein großes Gehalt, und beschenkte ihn und seine Nachkommen mit einem prächtigen Schlosse an der Grenze von Congo, zum Lohn für die Verdienste seines Groß-Oheims, der ein trefflicher Koch war. Codindo hatte die Obliegenheit, den Flug der Vögel wie den Zustand des Himmels zu beobachten und dem Hofe Bericht darüber abzustatten. Das tat er schlecht genug. Allerdings besaß Banza die besten Schauspiele in ganz Afrika, und die häßlichsten Schauspielhäuser; dafür aber hatte es das schönste Observatorium der Welt und die allerelendsten Prophezeiungen.

Codindo wußte, was man in Ergebzeds Palaste von ihm verlangte, und verfügte sich sehr betreten dahin. Der arme Mann konnte so wenig in den Gestirnen lesen, als Ihr und ich. Man erwartete ihn mit Ungeduld. Die vornehmsten Herren des Hofes waren im Gemach der Großsultanin versammelt. Prächtig geputzte Damen umgaben die Wiege des Kindes Höflinge wetteiferten, ihrem Herrn zu den großen Dingen Glück zu wünschen, die er ohne Zweifel über seinen Sohn erfahren würde. Ergebzed als Vater fand nichts natürlicher, als daß man in den noch ungebildeten Zügen eines Kindes erkenne, welch ein Mann dereinst aus ihm werden würde.

Endlich erschien Codindo. »Treten Sie näher,« sprach Ergebzed. »Da mir der Himmel den Prinzen bescherte, den Sie hier sehn, ließ ich den Augenblick seiner Geburt sorgfältig aufnehmen und man hat Ihnen darüber berichten müssen. Reden Sie aufrichtig zu Ihrem Herrn, offenbaren Sie ihm ohne Anstand, welch ein Schicksal der Himmel seinem Sohn bestimmt.«

»Großmächtiger Sultan,« antwortete Codindo, »der Prinz ist von ebenso erlauchten als glücklichen Eltern geboren, sein Schicksal kann nicht anders als groß und glücklich sein; nur würd' ich Ew. Hoheit hintergehn, wenn ich mich vor Ihr mit einer Wissenschaft brüsten wollte, die ich nicht besitze. Die Gestirne gehn mir auf und unter wie andern Menschen und erhellen mir so wenig die Zukunft, als dem allerunwissendsten Ihrer Untertanen.«

»Wie?« versetzte der Sultan, »sind Sie kein Sterndeuter?« – »Großmächtigster Fürst,« antwortete Codindo, »die Ehre hab' ich nicht.«

»Was Teufel sind Sie denn?« erwiderte der alte aber aufbrausende Ergebzed. »Vogeldeuter!« – »Wahrhaftig! es kam mir nicht bei, daß Sie sich das träumen ließen. Glauben Sie mir, Herr von Codindo, lassen Sie Ihre Hühner in Frieden essen, und entschließen Sie sich über das Schicksal meines Sohnes zu sprechen, wie letzthin über das Schnupfenfieber des Papageis meiner Frau.«

Sogleich zog Codindo eine Lupe aus der Tasche, ergriff das linke Ohr des Kindes, rieb sich die Augen, setzte seine Brillen herüber und hinüber, betrachtete dieses Ohr genau, dann das rechte, und sprach: »die Regierung des jungen Prinzen wird glücklich sein, wenn sie lang ist.«

»Ich verstehe,« nahm Ergebzed das Wort: »Mein Sohn wird herrliche Taten verrichten, wenn er Zeit dazu hat. Aber Sackerlot! das will ich ja eben wissen, ob er Zeit haben wird. Was liegt mir daran, wenn er tot ist, daß er der erste Fürst der Erde gewesen wäre, wenn er gelebt hätte? Ich berufe Sie, um das Leben meines Sohnes vorherzusehen, und Sie halten mir seine Leichenrede!«

Codindo antwortete dem Fürsten, es tue ihm leid, nicht mehr zu wissen. Aber er bat Seine Hoheit zu bedenken, daß es wohl genug sei, für die kurze Zeit die er Wahrsager wäre. Und in der Tat, was war Codindo einen Augenblick vorher?“
Nun, ich habe die vielen Anspielungen nicht nachgeschlagen. Wer sich dafür interessiert, wird wohl bei 1001 Nacht fündig werden. Spannend fand ich die Nonchalance, mit der Diderot die Szene entwickelt. Ein Sterndeuter, der keiner ist, Herrscher, denen das auch reichlich schnuppe ist. Vogeldeuter (vermutlich geht es um Deuter des Vogelflugs, aus dem in der Antike die Zukunft ebenfalls geweisagt werden konnte) oder Sterndeuter, was soll‘s, Hauptsache eine Wahrsage („lassen Sie Ihre Hühner in Frieden essen“). Je nun, dann wird eben das Ohrläppchen in Augenschein genommen.

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