Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Warum sich mein Mitleid mit einigen Selbstmördern in Grenzen hält
Mitte der 70er war ich bei einer Bekannten, die im 8. Stock eines Hochhauses wohnte. Sie hatte sich gerade von ihrem Freund getrennt. Die näheren Umstände der Trennung sind mir nicht mehr in Erinnerung.


Sie war noch sichtlich mitgenommen. Wie das halt so ist, wenn die Verliebtheit zu Ende ist und man anfängt das Gegenüber realer zu sehen. Wahrscheinlich hat sie die Beziehung auch noch länger geführt als Beiden zuträglich war. Aber wie gesagt, an die genaueren Umstände erinnere ich mich nicht mehr.


Nach einer Stunde klingelte es an der Tür. Sie stand auf und sagte:
„Das wird meine Kollegin, die B. sein, die wollte mein Bügeleisen (?) ausleihen.“
Sie öffnete die Tür: „Was willst Du hier?“
Undeutliches Gemurmel.
Sie kam – offensichtlich mit ihrem Ex-Freund – ins Zimmer, setzte sich und brütete in sich hinein, während der Ex mich ignorierte und um die Fortführung der Beziehung bettelte. Nachdem ich mich von der Situation einigermaßen erholt hatte, versuchte ich ihn rauszuschmeißen: Weder das Argument, dass er sich selbst keinen Gefallen tun würde, noch der Hinweis, dass er gefälligst ihre Entscheidung zu akzeptieren habe, drang zu ihm durch. Beide waren am Ende ihrer Kräfte. Kurz bevor ich die Bekannte fragen konnte, ob ich ihn nun endgültig hinauswerfen sollten, schrie sie:
„Hau endlich ab!“
Er zuckte zusammen und murmelte: „Sieh aus dem Fenster. In ein paar Minuten kannst Du mich vorbeifliegen sehen.“
Bevor meine Bekannte realisieren konnte, was er da gerade gesagt hatte, stürmte er aus der Wohnung und knallte die Tür zu.


Er hat seine Ankündigung wahr gemacht.


Seit diesem Vorfall sehe ich genauer hin, wenn von einem Selbstmord berichtet wird: wie viel Bedürfnis nach Demonstration ist erkennbar?


Viele Jahre später habe ich an einer Führung in den U-Bahn-Tunneln der BVG teilgenommen. Unser Betreuer war – möglicherweise hat er die Führung nur ehrenamtlich gemacht – für die Betreuung der Fahrer zuständig, denen jemand vor die Bahn oder den Bus gesprungen ist. Die Fahrer benötigen nach solchen Vorfällen eine umfangreiche psychotherapeutische Unterstützung.

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